42
Die Jagdgesellschaft
Es dauerte ein Weilchen, bis ich wieder bei Kräften war. Inzwischen war auch Ferius wieder zu sich gekommen, Shalla allerdings nicht. Wahrscheinlich waren die Nachwirkungen des Erzes noch zu stark.
»Bedrückt dich was, Jungchen?«, fragte Ferius.
Ich drehte mich um. Sie hielt sich mit Mühe im Sattel und schwankte hin und her, obwohl das Pferd auf dem unebenen Waldboden nur im Schritt ging. Reichis musste sie wach halten, indem er ihr immer wieder auf die Schulter kletterte und ihr mit den Pfoten ein paar Backpfeifen verpasste. Es schien ihm einen Riesenspaß zu machen.
»Wie kommst du darauf?«, erwiderte ich und drehte mich wieder nach vorn, um das Pferd, das ich mir von Ra’meths Leuten ausgeborgt hatte, auf dem schmalen Pfad zu halten. Neben uns ging es steil in eine tiefe Schlucht hinab, die zum Nordrand der Stadt führte. Die bewusstlose Shalla lag quer über meinem Sattel und atmete so flach, dass ich immer wieder ihren Puls fühlte.
Ferius kicherte. »Du bist ein schauderhaft schlechter Lügner, mein Junge.«
»Dann muss ich wohl noch ein bisschen üben.« Mein eigener Onkel hatte sich gegen unser Volk gewandt. Meine Eltern hatten all die Jahre heimlich meine Magie geschwächt, weil sie schon seit meiner Kindheit wussten, dass ich am Schwarzschatten erkranken würde. Und ich hatte erfahren müssen, dass mein Clan niemals einen Verteidigungskrieg gegen die Mahdek geführt, sondern sie hinterrücks abgeschlachtet und ihnen ihre Städte entrissen hatte – und ihre Magie. »Man kann niemandem trauen. Alle stellen sich anders dar, als sie sind«, sagte ich.
»Das lernt man auf der Straße als Allererstes. Jeder hält sich für den Helden seiner eigenen Geschichte.«
»Da ist wer!«, keckerte Reichis plötzlich von seinem Ausguck auf Ferius’ Schulter. Seine Knopfaugen funkelten.
Ich schaute mich um, sah aber nur Bäume, Felsen und dichtes Unterholz. »Wo denn?«
Die Baumkatze ließ ärgerlich die Schnurrhaare spielen. »Keine Ahnung. Sie verstecken sich. Aber hier stinkt’s nach Jan’Tep.«
»Was sagt der kleine Racker?«, erkundigte sich Ferius und schob die Hand in die Weste. »Vielleicht sollten wir lieber –«
Der Rest ihres Satzes ging in einem scheußlichen Kreischen unter, als würden tausend Fingernägel über eine Schiefertafel kratzen. Reflexartig gebärdete ich den Abwehrzauber, den ich an meinem ersten Schultag gelernt hatte, und rief laut: »Senhathet!«
Natürlich geschah nichts. Ich konnte das eintätowierte Eisenband an meinem Unterarm, das mir Zugriff auf diese Magie verschafft hätte, nicht entfachen. Außerdem hatte der Angriff nicht mir gegolten.
Reichis sprang mit einem Satz von Ferius’ Schulter, dann flog sie selbst aus dem Sattel, blieb aber in der Luft hängen. Von einer Waffe war nichts zu sehen, stattdessen wurde sie von einem wabernden violetten Licht umflossen, das sich um sie herum sammelte und sie in der Schwebe hielt, während sich hier und da lange schwarze Fühler ausbildeten, die auf sie einpeitschten. Ein Lichtformer!
Ich hielt nach dem Verursacher Ausschau, konnte aber niemanden entdecken.
Ich sorgte rasch dafür, dass Shalla nicht auch noch herunterfiel, und sprang dann ab, um Ferius beizustehen. Ihr Pferd bäumte sich wild auf und schlug nach dem sonderbaren Licht aus. Das Licht spürte das offenbar, denn plötzlich flossen drei Fühler zusammen und bohrten sich tief in den Bauch des Tieres, wo sie sich wieder trennten und die Eingeweide des Pferdes mit herauszogen. Die Schreie der gequälten Kreatur standen in grausigem Kontrast zu den schadenfrohen Jubelrufen, die nun ertönten.
Ich tastete nach den Pulverbeuteln in meinen Taschen. Lichtformer kann man sprengen!
Aber wie sollte ich diesen hier erwischen, ohne Ferius mit zu zerfetzen?
»Aufhören!«, ertönte es. Die Stimme klang seltsam dumpf und verzerrt. Da benutzt jemand einen Nebelzauber! Deshalb ist niemand zu sehen und man erkennt nicht, wer da spricht.
Das violette Licht verflüchtigte sich, Ferius fiel zu Boden. Ich lief sofort zu ihr. Zum Glück atmete sie noch, aber ihr Gesicht und ihre Arme sahen aus, als hätte ein Dutzend Männer die ganze Nacht lang auf sie eingeprügelt. Ihr rechtes Auge war schon zugeschwollen, doch das linke klappte auf. »Wieso krieg ich eigentlich immer alles ab, wenn du jemandem ans Bein pisst?«, sagte sie heiser.
»Bleib von der Daroman-Spionin weg, Kellen!«, ertönte es.
Diesmal erkannte ich die Stimme, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass der Nebelzauber aufgehoben war. »Panahsi?!«
Mein ältester Freund schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich habe heute Morgen meine Magierprüfung bestanden. Ich heiße jetzt Pan’erath.«
»Du bist ein Lichtformer!«, sagte ich, unfähig, die Bewunderung in meiner Stimme zu verbergen.
Er lächelte zugleich stolz und herablassend. »Ich habe seit dem Beginn der Prüfungen dafür geübt. Seit du uns zum ersten Mal verraten hast, indem du einer Daroman geholfen hast, unser Volk auszuspionieren.«
»Sie ist keine Spionin, Pan! Sie ist nur –«
Jetzt wagte sich auch Tennat hervor, dicht gefolgt von seinen Brüdern. »Nur zu, Kellen! Erzähl uns, dass sie bloß eine unschuldige Argosi ist, die rein zufällig bei uns aufgetaucht ist, kurz bevor dein verräterischer Onkel und seine Sha’Tep-Verbündeten einen Plan zur Vernichtung unseres Clans ausgeheckt haben.«
Ra’dir erhellte mit einem Feuerstoß den Wald ringsum. »Wo ist das Nekhek?«
»Bestimmt weggerannt«, sagte Ra’fan, dessen Finger schon einen Fesselbann vorbereiteten, der Reichis zugedacht war.
Ra’fan war ein Kettenbeschwörer, Ra’dir ein Kriegsmagier, weshalb keiner von ihnen den Nebelzauber gewirkt haben konnte. »Dann bist du also der Sichtfessler eurer Truppe, Tennat?«
»Mein Name lautet jetzt Ra’ennat!«, erwiderte er.
Na toll. Alle haben einen Magiernamen, nur ich nicht.
Ferius fasste nach meinem Arm, aber ihr Griff war kraftlos. »Sobald ich loslege, schnappst du dir deine Schwester und haust ab«, raunte sie mir zu. »Ich halte die Kerle –«
»Du bist halb tot und liegst am Boden«, entgegnete ich ebenfalls gedämpft. »Wie willst du da ›loslegen‹?«
Komischerweise schien sie beleidigt zu sein. »Ich habe immer noch ein Ass im Ärmel!«
»Na los, Kellen!«, rief Panahsi (nein, er hieß ja jetzt Pan’erath). »Hau ab und mach nicht alles noch schlimmer. Wir wissen über die Verschwörung Bescheid. Wir wissen, dass die Argosi und dein Onkel unserem Clan mithilfe der Nekhek die Magie rauben wollten.«
»Es passt alles zusammen«, schob Tennat nach (ich hatte nicht vor, ihn ab jetzt Ra’ennat zu nennen). »Wenn unser Clan seine Magie einbüßt, bist du auch kein Krüppel mehr, stimmt’s?«
»Du bist ein Lügner, Tennat. Deine Familie wusste genau, was vorgefallen ist, und du –«
Ein Stöhnen unterbrach mich. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Shalla, die immer noch auf meinem Pferd lag, krampfhaft zuckte. »Ich muss meine Schwester nach Hause bringen, damit –«
Etwas fegte mir die Beine weg und ich fiel hin. »Hiergeblieben!«, donnerte Pan’erath mit verzerrtem Gesicht. Er glaubt, dass er Shalla beschützen muss
, schoss es mir durch den Kopf – vor mir.
Endlich begriff ich, was in ihm vorging. Er hatte sich nicht mit den anderen gegen einen Freund verbündet, sondern trat gegen den klassischen Schurken aus den Geschichten unserer Kindheit an: gegen den fremdländischen Spion, der den Clan vernichten wollte; gegen das Nekhek-Ungeheuer, das darauf aus war, Jan’Tep-Magier mit seinen fauligen Zähnen zu zerfetzen und ihre Magie auszulöschen. Und, am schändlichsten von allen, gegen den verräterischen Sha’Tep, der aus lauter Verbitterung und Neid die eigene Schwester an die Feinde des Clans ausliefert.
Pan’erath fühlte sich als Held – der junge Magier, der seine treuen Gefährten um sich schart, um die hilflose Prinzessin zu retten. Es passte alles nur zu gut. »Du bist ein Vollidiot!«, rief ich.
Ra’fan fauchte ein Wort und meine Arme wurden so fest an die Rippen gepresst, dass es wehtat.
»Nicht!«, sagte Pan’erath. »Spar dir den Zauber für das Nekhek auf.«
Ra’fan ließ sich bestimmt nicht gern von jemandem Anweisungen erteilen, der erst seit wenigen Stunden ein vollwertiger Magier war, aber er gehorchte. Der Druck auf meine Rippen ließ nach. »Das Untier hat sich wahrscheinlich längst wieder in seine Höhle verkrochen«, sagte er mürrisch. »Lasst uns einfach –«
»Wir machen es auf meine Art«, fiel ihm Pan’erath ins Wort und kam auf mich zu. »Gib auf, Kellen. Ich verspreche dir, dass ich vor dem Rat zu deinen Gunsten aussagen werde. Ich möchte nicht, dass dir etwas geschieht.« Sich windende Lichtbänder, diesmal rot, schlangen sich um seine herabhängenden Hände, die erneut Gebärden vorbereiteten. »Oder wir duellieren uns. Dann bemühe ich mich auch, dich nicht zu töten.«
Er ist so stolz auf seine Lichtformzauber, dass er der Versuchung nicht widerstehen kann, damit zu prahlen.
Aber Pan hatte nicht miterlebt, was ich mit dem Pulver anstellen konnte. Feuer konnte sich durch seine Lichtformen hindurchfressen. Wenn ich schnell genug reagierte, könnte ich den Zweikampf im Nu beenden. Die uralten Gesetze unseres Volkes verlangten, dass uns die anderen dann laufen ließen.
Allerdings verrieten mir die verstohlenen Blicke, die Tennat, Ra’fan und Ra’dir einander zuwarfen, dass sie nicht vorhatten, sich an irgendwelche Regeln zu halten. Dann besteht wohl keine Hoffnung, dass mich der einzige Zauber rettet, den ich beherrsche.
»Ein verlockendes Angebot, Pan«, sagte ich, ging zu Ferius hinüber und kniete mich neben sie. Ich knöpfte ihre Weste zu, damit sie sich in der Nachtluft nicht erkältete. »Aber ihr hättet meine Freunde nicht einfach angreifen dürfen.«
»Das ist ein schlechter Plan, Jungchen«, zischelte Ferius.
»Nenn mich nicht immer ›Jungchen‹!«, erwiderte ich gedämpft und schloss die Hand um die Stahlkarten, die ich aus ihrer Weste gezogen hatte.
Dann stand ich auf und drehte mich zu unseren vier Widersachern um. »Schluss mit den Duellen, Pan. Und Schluss mit den Spielchen. Ich gebe dir noch eine Chance, weil …« Weil wir Freunde waren. Weil du ein ganzes Jahr mit deinen Prüfungen gewartet hast, damit ich nicht mit solchen Typen wie Tennat allein bin.
Ich konnte mir kaum noch vorstellen, dass ihm die Freundschaft zu mir einmal so wichtig gewesen war. Aber damit war es jetzt eindeutig vorbei. »Schick die drei Blödmänner weg und hilf mir stattdessen, das heillose Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen, das Tennats Vater angerichtet hat, bevor es zur Katastrophe kommt.«
Schon umwogten Lichtwolken seine Hände. »Lieber riskiere ich, dass unser Volk ausgelöscht wird, als dass ich mir von einem Sha’Tep-Schwächling etwas sagen lasse!«
Ich überlegte fieberhaft, wie ich die Mauer zwischen uns doch noch einreißen konnte, aber mir fiel nichts ein. Pan’erath war ein Jan’Tep-Magier, ich war ein Sha’Tep-Verräter. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Ich spähte in die Baumkronen hoch, konnte Reichis aber nirgends entdecken. Trotzdem hoffte ich, dass er irgendwo dort oben hockte. Mal sehen, was er mir dafür wieder in Rechnung stellt.
»In diesem Fall ziehe ich mein Angebot zurück, meine Herren. Ich werde euch eine tüchtige Abreibung verpassen und unser Volk anschließend eben allein retten.«
Wenn man nur einen einzigen brauchbaren Zauber auf Lager hat, fällt es schwer, ihn nicht gleich einzusetzen. Schließlich war die Pulvermagie die wirkungsvollste Waffe, die mir zur Verfügung stand, und weder Pan noch die anderen wussten davon. Mit etwas Glück konnte ich sie überrumpeln und vielleicht einen oder zwei von ihnen schon vor dem eigentlichen Kampf unschädlich machen. Aber vor allem sollte ihnen klar werden, dass ich meine eigene Magie besaß und ihnen keineswegs unterlegen war. Und was dann?
Auf keinen Fall konnte ich sie alle gleichzeitig außer Gefecht setzen. Ra’dir war als ausgebildeter Kriegsmagier auf Überraschungen vorbereitet und Ra’fan würde mich im selben Augenblick, in dem ich das Pulver abfeuerte, mit seinen Kettenzaubern fesseln. Dann müssen eben wieder mal die Karten herhalten.
»Tu’s nicht!«, sagte Pan warnend und zum ersten Mal huschte ein Anflug von Beunruhigung über sein Gesicht.
Tja, einem Feind zu drohen ist das eine, aber wenn man begreift, dass man gleich seinen besten Jugendfreund umbringen wird, sieht die Sache schon anders aus. »Keine Bange«, sagte ich. »Ich versuche, euch nicht unnötig wehzutun.«
Meine einzige Chance bestand darin, nicht wie ein Jan’Tep zu denken, sondern wie ein Argosi – so wie Ferius, wenn sie ihre Widersacher hinters Licht führte. Pan und die anderen verstanden nur die Sprache der Magie – über welche Zauber verfügte der Gegner und wann setzte er sie ein. Sie achteten nicht auf das unebene Terrain und die schlechten Lichtverhältnisse. Sie achteten nicht darauf, wie dicht sie alle vier beisammenstanden oder dass ich vielleicht nicht allein war. Sie hatten nur die alte Jan’Tep-Geschichte von Gut gegen Böse im Kopf, bei der das Gute immer gewann. Ich dagegen sah das Ganze als Kartenspiel, bei dem ein halbes Dutzend verschiedener Farben im Einsatz war. Helft, ihr Ahnen! Ich verwandle mich wirklich in einen Argosi!
»Mach schon, Feigling!«, provozierte mich Tennat.
Ich verkniff mir das Lachen. Nach allem, was geschehen war, und angesichts dessen, dass wir einander nun als echte Todfeinde gegenüberstanden, kam Tennat immer noch mit denselben dämlichen Sprüchen an, mit denen er mich zeit meines Lebens aufgezogen hatte. Ich überhörte ihn einfach und konzentrierte mich auf die Lösung meines ersten richtigen Problems: Ra’dir. Wenn er mich mit den Flammen oder dem Blitz eines Kriegszaubers erwischte, war ich tot, bevor es überhaupt losging. Und wenn Ra’fan einen seiner Kettenzauber auf mich losließ, war ich wehrlos. Ich musste die beiden gleich zu Anfang aus dem Konzept bringen. Ich grinste Tennat breit an. »Weißt du noch, wie ich dich beim letzten Mal dazu gebracht habe, deine Eingeweide mit deinem eigenen Zauber zu zerquetschen? Wetten wir, dass ich dich auch dazu kriege, dich selbst zu blenden?«
Er kam einen Schritt auf mich zu. »Ich kann’s kaum erwarten, nachher mit dir allein zu sein.« Er breitete die Arme weit aus – die Eröffnung des stärksten Blendzaubers, den es gibt. Sobald er sich konzentriert und die Formel gesprochen hatte, würde er die Arme wieder zusammenbringen und grelles Licht würde mir die Sicht nehmen. Doch als er den Mund öffnete, schleuderte ich ihm eine von Ferius’ Stahlkarten entgegen.
Ra’dir und Ra’fan waren erfahrener und hätten nicht mit der Wimper gezuckt, aber Tennat stolperte rückwärts und prallte gegen seine Brüder. »Aus dem Weg, Schwachkopf!«, rief Ra’dir und schubste ihn beiseite, damit er an mich herankam.
Ich wich ihm mit einem Hechtsprung aus und rollte mich ungeschickt über die Schulter ab, aber es gelang mir, die Karten nicht fallen zu lassen und mir auch nicht selbst die Hände aufzuschlitzen. Dann richtete ich mich auf ein Knie auf und schickte zwei weitere Karten auf die Reise. Eine verschwand in der Dunkelheit, ohne Schaden anzurichten, die andere erwischte Ra’fan am Bein. Er schrie auf und torkelte gegen Pan’erath. Ich dagegen sprang auf und tänzelte hin und her. Mein Ohr brannte, als ein von Ra’dir gewirkter Zauber daran vorbeizischte. Hätte ich mich nicht bewegt, hätte er mich in Brand gesteckt, aber so ging nur der Baum hinter mir in Flammen auf. Lange halte ich das nicht durch
. Kriegsmagier sind darauf trainiert, bewegliche Ziele zu treffen.
Ich flüchtete mich hinter die Bäume und schleuderte noch mehr Karten auf die vier, wobei ich achtgab, dass sie zusammenblieben und nicht einer wieder mit einem Zauber auf mich losging. Mit einem glücklichen Wurf schlitzte ich Ra’fans linke Handfläche auf. Weil es gleich blutete, konnte er erst mal keinen Kettenzauber mehr wirken. Läuft doch!
Dann hüllte mich plötzlich eine Wolke aus fast schwarzem Licht ein und heftete mich an einen Baumstamm. Pan’erath hatte zugeschlagen.
Natürlich hatte ich damit gerechnet. Hätte ich statt der Karten zunächst das Pulver eingesetzt, hätte ich die Wolke sprengen können, aber das war nicht mein Plan. Mal sehen, wie verlässlich Baumkatzen sind.
»Jetzt, Reichis!«
Nichts. Meine Gegner hatten sich gerade wieder einigermaßen gesammelt, als ich es fauchen hörte: »Aber dafür schuldest du mir echt was!« Etwas Dunkles segelte auf Pans Kopf herab. Fasziniert und abgestoßen zugleich schaute ich zu, wie Reichis Pans Gesicht mit seiner pelzigen Flughaut bedeckte und ihm gleichzeitig die scharfen Klauen in den Nacken grub, sodass er mit einem Aufschrei nach hinten taumelte.
Ich spürte, wie die schwarze Wolke mich freigab, und schleuderte zwei Karten auf meine beiden anderen Gegner, die Reichis packen wollten.
»Holt das Vieh von mir runter!«, rief Pan schrill.
»Elender Foltersack!«, knurrte die Baumkatze. »Mal sehen, was deine Blutmagie noch taugt, wenn ich dir die Augen ausgerissen hab!«
»Tu’s nicht, Reichis!«, rief ich.
Flammen umzüngelten Ra’dirs Hände. War es ihm gleichgültig, ob Pan bei dem Feuerstoß mit draufging? Reichis bekam davon nichts mit, weil er vollauf mit seinen Rachefantasien beschäftigt war. Sie setzten seine Vernunft – so er denn welche besaß – außer Kraft. Um unsere Gegner von ihm abzulenken, schleuderte ich ihnen die restlichen Karten entgegen, traf aber nur Ra’fan. Er tat mir schon fast leid, denn ich erwischte ihn schon zum dritten Mal, und diesmal bohrte sich die Karte tief in seine Schulter. »Verdammt!«, brüllte er. »Blende ihn, Tennat!«
»Ich heiße jetzt Ra’ennat«, berichtigte ihn sein Bruder, aber in dem ganzen Durcheinander konnte er sich nicht ausreichend konzentrieren, um einen Zauber zu wirken. Wann kapierst du endlich, dass man nicht zaubern kann, wenn man Schiss hat?
Ra’dir dagegen besaß entschieden mehr Übung und Ausdauer. Den Blick fest auf die Baumkatze geheftet, wirkte er seinen Zauber. Reichis sprang sofort von Pans Gesicht herunter, wurde aber an der linken Flanke getroffen und flog mit brennendem Fell durch die Luft. Ich rannte sofort los und schaffte es wie durch ein Wunder tatsächlich, ihn aufzufangen. Dann ließ ich mich fallen und wälzte mich mit ihm auf dem Boden, um die Flammen zu ersticken. Als mein Oberkörper auf einmal anfing, scheußlich zu kribbeln, begriff ich, dass mir wohl in naher Zukunft keine Brusthaare wachsen würden.
Reichis befreite sich aus meinem Griff und verschwand zwischen den Bäumen. Ich ärgerte mich über seine mangelnde Dankbarkeit, verzieh ihm jedoch gleich wieder, als er hinter unseren Feinden auftauchte, Ra’dir die Klauen in den Oberschenkel grub und sofort wieder im Unterholz verschwand.
»Schnappt euch das Nekhek!«, befahl Pan’erath und stand schwerfällig auf. Seine Stirn blutete, sein Blick war kalt. »Ich kümmere mich um den Sha’Tep.«
Die schwarze Wolke um seine Hände schwoll wieder an und dehnte sich in meine Richtung aus. Du hast es so gewollt!,
dachte ich, griff in meine Hosentaschen und holte zwei großzügige Prisen rotes und schwarzes Pulver heraus. Mit einem knappen »Karath!«
wirkte ich den Atemzauber und warf die Pulver in die Luft, sodass sie sich vermischten. Dann lenkte ich die Explosion mittels Gebärden auf Pans Lichtform. Die Wolke zerbarst und Pan fiel nach Atem ringend zu Boden.
»Wie hast du …?«, setzte er an.
»Ich hab’s dir doch gesagt, Pan. Ich werde nie ein Sha’Tep sein.«
»Ein Jan’Tep aber auch nicht!« Ra’fan deutete mit der blutenden Hand auf mich. Er hatte sich wieder erholt und wirkte jetzt einen Kettenzauber, der sich um mich herumwickelte und mich bewegungsunfähig machte.
Reichis kam wieder aus dem Unterholz zum Vorschein und stürzte sich auf Ra’fan, aber diesmal war Ra’dir schneller. Er feuerte noch einen Flammenstoß ab und die Baumkatze musste schlitternd anhalten.
»Hau ab!«, rief ich Reichis zu.
Er zögerte unschlüssig, aber dann wurde wohl auch ihm klar, dass sich das Blatt gegen uns gewendet hatte. »Tut mir leid, Kleiner!«, keckerte er und verschwand im Wald, ehe Ra’dir es noch einmal versuchen konnte.
Ra’fan biss die Zähne zusammen, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er ballte die Fäuste. Verdammt … jetzt will er mich nicht mehr nur lähmen.
Jeder Teil meines Körpers wurde von der Kraft seines Willens zerdrückt. Ich glaubte, meine Rippen knacken zu hören, als sich die unsichtbaren Ketten zusammenzogen. »Du bist erledigt, Sha’Tep! Ich töte dich. Hier und jetzt.«
»Tut mir leid, aber ich brauche den Jungen noch«, sagte Ferius Parfax. Am Rand meines Blickfelds sah ich sie mühsam auf die Beine kommen, dann ließ sie eine Stahlkarte auf Ra’fans Augen zusegeln.
Die Karte beschrieb einen wunderschönen Bogen, verschwand dann aber in Pan’eraths Lichtwolke. »Das ist alles deine Schuld, Daroman!« Ich hatte ihn noch nie in so eisigem Ton sprechen gehört. »Du hast alles verdorben.«
Die Lichtfühler griffen nach Ferius, zerrten an ihren Haaren und Händen und bogen ihr die Finger um. Ich wühlte fieberhaft in meinen Taschen. Vielleicht konnte ich unsere Gegner wenigstens mit einer Explosion ablenken.
»Vergiss es!«, knurrte Ra’fan. Meine Rippen wurden noch fester zusammengequetscht, ich bekam keine Luft mehr.
Tennat, der seine Angst offenbar in den Griff bekommen hatte, kam auf mich zu. »Es ist aus, Kellen. Du hast all deine schmutzigen kleinen Tricks ausgespielt und jetzt kannst du dich von der Welt verabschieden.«
Er breitete die Arme aus, sprach ein Wort – und ich war blind.
»Pass auf das Nekhek auf«, hörte ich Ra’dir sagen. »Das Vieh ist immer noch gefährlich.«
Tennat kicherte. »Jetzt nicht mehr. Mein Blendzauber erfasst sie alle. Sobald sich das kleine Biest zeigt, fackeln wir es ab.«
Ein Stück von mir entfernt plumpste etwas zu Boden. Pan hat Ferius zu Fall gebracht
.
»Es reicht«, sagte er. Es klang erschöpft. »Bringen wir sie vor den Rat.«
»Nein«, kam es von Tennat.
»Wir waren uns doch einig, dass –«
Tennats Stimme begleitete die Schritte, mit denen er auf mich zukam. »Du vielleicht, Pan, aber meine Brüder und ich haben andere Pläne.« Ich spürte zwei Daumen auf den Augen und kniff sie instinktiv zusammen.
»Hör auf!«, rief Pan laut.
»Da!« Tennat kratzte mit den Fingernägeln die Paste ab, die die schwarzen Male um mein linkes Auge abdeckte. »Genau wie mein Vater gesagt hat: Kellen hat den Schwarzschatten.«
Es wurde still im Wald. Weitere Schritte näherten sich, und jemand kam so dicht an mich heran, dass ich seine Atemzüge im Gesicht spürte. »Dann stimmt es also«, sagte Pan. Etwas Nasses traf mich unter dem Auge auf der Wange. Er hatte mich angespuckt.
»Bringen wir ihn vor den Rat«, wiederholte er. »Alle sollen sehen, was aus ihm geworden ist.«
»Das sehen sie an seiner Leiche genauso gut«, erwiderte Tennat und drückte wieder auf meine Augen.
»Du kannst nicht einfach –«
Ein kurzes Handgemenge endete damit, dass Ra’dir sagte: »Du kennst dich noch nicht aus, Pan’erath. Du verstehst nichts von Kriegsführung. Betrachte es als fünfte Prüfung – die Prüfung, die jeder Kriegsmagier bestehen muss.«
Tennat bohrte die Daumen fest in meine Augen. Ich wollte schreien, aber der Kettenzauber lähmte auch meinen Mund, und Ra’fan quetschte mir das letzte bisschen Luft aus den Lungen. Das war’s dann wohl.
Jetzt muss ich sterben. Im Ernst. Unwiderruflich.
Tennats Stimme bahnte sich ihren Weg an meine Ohren. »Du hast es nicht anders verdient, Kellen. Weil du nämlich ein Lügner und ein Betrüger bist. Weil du –«
Es folgte ein so lauter Schrei, dass mir fast das Trommelfell platzte.
Den nächsten Schmerzensschrei ordnete ich Ra’dir zu, weitere Schreie und Rufe folgten. Meine dunkle Welt geriet in Aufruhr. Ich hatte keine Ahnung, was um mich herum vorging, aber dann verflüchtigte sich der Blendzauber auf einmal. Ich öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie ein weißgoldener Lichtstrahl Ra’fan so brutal erwischte, dass er tief in den dunklen Wald hineingeschleudert wurde. Man hörte nur noch einen dumpfen Aufprall.
Im selben Augenblick löste sich auch Ra’fans Kettenzauber auf und ich fiel hin. Als ich hochschaute, sah ich Pan allein dastehen, die Augen voller Tränen.
Erst dachte ich, er hätte seine Meinung geändert und sich angesichts dessen, was die anderen mit mir anstellten, besonnen und mir das Leben gerettet. Doch da blitzte das weißgoldene Licht abermals auf und beförderte ihn in die Luft. Er drehte sich fast anmutig, als wäre er unter Wasser, dann schwebte er anderthalb Meter über dem Boden – mit ausgebreiteten Armen und Beinen, als wäre er an vier Pferde gefesselt, die an ihm ziehen und ihn in Stücke reißen sollten. Er war noch bei Bewusstsein. »Ich habe es für dich getan«, sagte er. »Ich habe dich gerettet.«
Er meinte nicht mich. Als ich seinem tieftraurigen Blick folgte, entdeckte ich Shalla, die auf wackligen Beinen an einem Baum lehnte. Sie streckte die Arme aus. Die farbigen Bänder auf ihren Armen brachen eines nach dem anderen auf wie Glasringe, die von der Vibration eines hohen Tones zersprangen. Die schiere Kraft ihrer Magie brach sich endlich Bahn und ihre Augen, die sonst stechend blau waren, schimmerten im Widerschein ihres Zaubers wie pures Gold. Als sie die Handflächen nach oben drehte, stieg Pans Körper noch höher empor, dann ballte sie die Fäuste und er krachte zu Boden.
»Niemand rührt meinen Bruder an!«, sagte sie.