KAPITEL 1
Es war eine sternenklare Nacht, der Wind wehte aus südwestlicher Richtung und trug den Duft des Sommers bis in die Stadt. Süß und verlockend, so wie sich für Markus Waldner, der beschwingt über den Bürgersteig ging, auch die zurückliegenden Stunden präsentiert hatten. Der zwanzigminütige Spaziergang hatte den Nebel aus seinem Kopf so weit vertrieben, dass er die Umgebung wieder schärfer wahrnahm. Auf unnötige Umwege hatte er angesichts seines Zustandes verzichtet und war stattdessen durch einen menschenleeren Park gewankt, dessen Pfad in einem ebenfalls ausgestorben wirkenden Wohngebiet endete. Nun, da er in die stärker befahrene Hauptstraße einbog, war er froh, wieder zu einem geraden Gang fähig zu sein. Es war zwar Freitagnacht, dennoch sollten ihn die Nachbarn nicht für betrunken halten – sofern überhaupt noch jemand wach war.
Er unterdrückte ein Lachen. Was würden sie erst denken, wenn sie wüssten, dass neben dem Alkohol weitere Substanzen für seine gehobene Stimmung verantwortlich waren? Dass er sich der Wirkung dieser Substanzen obendrein in den Armen einer der unglaublichsten Frauen hingegeben hatte, die diese Stadt je hervorgebracht haben dürfte? Selbst der Sportpolizist mit den zweifarbigen Augen, der mit seiner Freundin vor einem halben Jahr in die Wohnung über ihm gezogen war, hatte sicher keine so weitreichende Fantasie. Vermutlich sah er in ihm nur das, was jeder – auch Markus’ Frau Ingrid – in dem großen Altbau dachte: In der ersten Etage wohnte ein langweiliger, kinderloser Endvierziger, der in einer Filiale der Sparkasse hinterm Schalter stand und vermutlich am liebsten eine Modelleisenbahn im Keller gehabt hätte, wo er sich in seine Kindheit flüchten konnte, sobald seine Frau mal wieder geschäftlich in irgendeiner ihrer zahlreichen Vorstandsangelegenheiten unterwegs war.
Der Witz an der Sache war, dass im Grunde jede dieser Einschätzungen zutraf. Da Markus aber keine Modelleisenbahn besaß und darüber hinaus eine andere, längst verschollen geglaubte Seite an sich wiederentdeckt hatte, gab es seit zwei Jahren ein Alternativprogramm, um sich für wenige Stunden eine Auszeit von der streberhaften Fassade zu gönnen. Wahrscheinlich war es gar nicht schlecht, dass seine Freundin am nächsten Tag wegen einer Familienfeier früh rausmusste und das Zusammensein damit nicht erst am Frühstückstisch endete. Wurde er etwa alt? Auf jeden Fall wuchs seine Sorge, mit der acht Jahre jüngeren Wirtschaftsreferentin nicht mehr lange mithalten zu können. Ihre Energie war grenzenlos, genauso wie ihr Vorrat an Aufputschmitteln und …
Seine Gedanken gerieten ins Stocken, dann auch seine Schritte. Ein Adrenalinstoß raste durch seinen Körper. Er befand sich etwa fünfzig Meter von seiner Wohnung entfernt und hatte einen freien Blick auf das Schlafzimmerfenster. Dahinter brannte das gedämpfte Licht einer Stehlampe, und Markus erkannte einen menschlichen Umriss am Fenster. Hastig machte er ein paar Schritte zur Seite und trat hinter einen Baum. Stöhnend ließ er seine Stirn gegen den Stamm sinken. Eigentlich hätte seine Frau erst am nächsten Abend zurückkommen sollen, was zur Hölle …
Ihm fiel ein, dass vor Stunden sein Handy gebrummt hatte. Er hatte es ignoriert, beziehungsweise wäre er gar nicht in der Lage gewesen, sich die Nachricht sofort durchzulesen. Jetzt zog er das Telefon aus der Hosentasche: Hab mir einen Virus eingefangen, bin schon auf dem Heimweg. Brauchst nicht aufzubleiben, ich will nur noch ins Bett.
Dass Ingrid entgegen ihrer Ankündigung nicht sofort ins Bett gefallen war, dürften ihre zweite und die wortgleiche dritte Nachricht erklären: Wo bist du? Erst vor einer Viertelstunde hatte sie nachgelegt: Ist was passiert? Melde dich, sonst rufe ich die Polizei an.
Unfähig, sich von dem Baum zu lösen, begann Markus, mögliche Erklärungen für seine Abwesenheit und Nichterreichbarkeit zu entwerfen. Ingrid wusste, dass freitagsabends seine Lieblingsserie im Fernsehen lief, er das Handy immer in Reichweite hatte, sich so gut wie nie mit jemandem traf und erst recht nicht allein loszog. Dummerweise hatten sie erst am Nachmittag miteinander telefoniert, und er hatte sich zu der Aussage hinreißen lassen, wie gern er den Abend gemeinsam mit ihr auf dem Sofa verbracht hätte.
Wieder blickte er zu dem Fenster und sah gerade noch ihre Silhouette verschwinden. Viel Zeit sollte er der Suche nach einer plausiblen Ausrede nicht mehr gönnen, sonst rief sie tatsächlich die Polizei! Als ein Motorrad mit röhrendem Motor an ihm vorbeibrauste, drehte er den Kopf zur Seite. Dabei fiel ihm auf der anderen Straßenseite eine Bewegung auf: Eine dürre Gestalt in dunkler Kleidung und mit einem Rucksack auf dem Rücken trabte an den parkenden Fahrzeugen vorbei. Irritiert registrierte Markus die dunkle Mütze, denn es waren fast zwanzig Grad. Andererseits stellte so eine Kopfbedeckung in manchen Kreisen ein modisches Accessoire dar, das man selbst unter der afrikanischen Sonne nicht ablegen würde.
Während sein Blick weiter dem nächtlichen Passanten folgte, kehrten die Gedanken wieder zu der dringlichsten Aufgabe zurück – bevor sie erneut abgelenkt wurden. Die schwarz gekleidete Person verlangsamte das Tempo und stoppte vor dem Altbau, in dem noch immer ein Zimmer erleuchtet war. Dann sah sie sich um und – Markus’ Puls beschleunigte sich – zog sich die Mütze mit einem Ruck über das Gesicht. Dann verschwand sie hinter dem Türchen in dem schmalen Vorgarten.
Nachdem er mehrere prüfende Blicke zu seinem Schlafzimmerfenster geworfen hatte, kam nun doch Bewegung in Markus. Sollte er Zeuge eines Einbruchversuchs werden? Erst ging er langsam, dann beschleunigte er seine Schritte, bis er in einen Laufschritt verfiel. Die letzten Reste des Rauschs verschwanden. Stattdessen empfand er eine Mischung aus Überraschung und Neugierde, dann aber – als er vor dem Haus angekommen war – wurde er zornig. Von dem mutmaßlichen Einbrecher war nichts mehr zu sehen, dafür hatte er Spuren hinterlassen.
Markus war noch nie ein Freund von Graffiti gewesen, hatte sich aber mittlerweile an diese aus seiner Sicht vollkommen sinnlosen Schmierereien in Unterführungen oder an Bahnwaggons gewöhnt. Dass jemand die Dreistigkeit besaß, die Fassade dieses schmucken Gebäudes knallrot zu besprühen, überschritt jedoch seine Toleranzgrenze. Die nächste Straßenlaterne stand ein Stück entfernt, sodass er die Schrift nicht entziffern konnte. Er wartete, bis ein Taxi an ihm vorbeigefahren war, und überquerte dann die Straße. Da der Maskierte nicht mehr zu sehen war, musste er durch den Torbogen den Innenhof betreten haben. Vermutlich wollte er mit seinen Schweinereien in dem von der Straße abgeschirmten Bereich weitermachen.
Markus’ Wut verdrängte die Sorge vor dem Aufeinandertreffen mit Ingrid. Der Kerl hatte schmächtig ausgesehen, vielleicht war es sogar eine Frau? Nun, da er dichter am Haus stand, konnte er auch den Text lesen. Für ein Graffito handelte es sich um erstaunlich viele Buchstaben, und es war zu erkennen, dass sie hastig aufgesprüht worden waren. Markus sammelte gerade all seinen Mut, um in den Innenhof zu laufen, als von dort ein Klirren erklang. Schlug dieser Asoziale jetzt auch noch Fensterscheiben ein?
Seine Finger umklammerten das Handy, um notfalls die Polizei verständigen zu können. Dann stürmte er los. Wieder hörte er das Zerbersten von Glas und meinte, einen schrillen Schrei zu hören. Ingrid? Verdammt, er liebte seine Frau zwar nicht mehr, aber wenn … Keuchend blieb er stehen. Wie in Trance sah er, dass die – in dem dunklen Hinterhof kaum zu erkennende – Person erneut zum Wurf ausholte. Ganz dunkel war es allerdings nicht, denn in der Hand befand sich kein Stein, sondern eine Flasche, aus der ein brennender Fetzen hing. Der Wurf war schlecht gezielt, die Flasche zersprang an der Hauswand. Mindestens einer der vorherigen Versuche musste hingegen geglückt sein, denn hinter einem Fenster erkannte Markus das Flackern von Feuer. Nur kurz verspürte er Erleichterung, dass es nicht seine Wohnung war, in der es brannte, sondern das Apartment über ihm. Da lebte der Polizist. Damit bekam auch der Text des Graffitos mit einem Mal eine neue, verstörende Bedeutung.
»Was soll das? Hör sofort auf damit!« Markus war kaum bewusst, dass er diese Worte herausschrie.
Noch immer stand er wie erstarrt auf der Stelle – anders als der Brandstifter, der zusammenzuckte und ihm sofort entgegengerannt kam. Alles ging schnell, viel zu schnell für Markus. Obwohl es ihm wie in Zeitlupe vorkam, als sich die Faust seinem Gesicht näherte. Der Schmerz explodierte zwischen seinen Augen, dann wurde alles schwarz. So schwarz wie die Wollmütze, aus der ihm zwei dunkle Augen entgegengesehen hatten.