KAPITEL
2
Als Anna und Hannes noch in derselben Nacht von dem Brandanschlag auf ihre Wohnung erfahren hatten, wären sie am liebsten sofort nach Deutschland zurückgereist. Nicht nur die rigide Null-Promille-Grenze des schwedischen Verkehrsrechts hatte sie davon abgehalten, sie hatten selbst eingesehen, dass sie alles andere als fahrtüchtig gewesen waren. Die Mittsommerfeier im Garten von Hannes’ Kollegen Nils Söderberg war zwar kein Massenbesäufnis gewesen, hatte aber dennoch ihre Spuren hinterlassen. So hatten sie die kürzeste Nacht des Jahres noch in dem Anwesen zwischen Ystad und Trelleborg verbracht und erst am Samstagmorgen nach dem Frühstück den Koffer ins Auto geladen.
Nils hatte sofort Verständnis dafür gezeigt, dass seine Gäste den Schaden schnellstmöglich selbst in Augenschein nehmen wollten, obwohl sie ursprünglich geplant hatten, noch bis zum Sonntag zu bleiben. Der Kollege hatte ihnen die nähere Umgebung zeigen wollen, die Hannes aufgrund einer zurückliegenden grenzüberschreitenden Ermittlung allerdings gar nicht so unbekannt war. Erst vor wenigen Wochen hatte er mehrere Nächte unter dem Dach des schwedischen Ermittlers verbracht und sich darauf gefreut, ihn gemeinsam mit Anna noch einmal
privat aufzusuchen. Nun war das Vergnügen jedoch nur von kurzer Dauer gewesen.
Anna und Hannes hatten sich gegen die Fähre und für den Landweg entschieden, sodass ihnen viele Stunden Zeit blieben, um Mutmaßungen über den Hintergrund des Brandanschlags auszutauschen. Für das Panorama entlang der Reichsstraße 9, die bis Trelleborg der Küstenlinie folgte und weite Aussichten auf die lang gezogenen Sandstrände und die tiefblaue Ostsee bot, hatten sie kaum einen Blick übrig. Der erste Schock hatte sich zwar gelegt, aber dass die Molotow-Cocktails nicht zufällig in ihrem Wohnzimmer aufgeschlagen waren, stand außer Frage. Hannes hatte sich von seiner Kollegin Isabell den Wortlaut des Graffitos vorlesen lassen, konnte ihn sich aber noch immer nicht erklären.
»Stirb langsam Bullenschwein, Fortsetzung folgt!
«
»Ich bin der einzige Polizist im Haus. Wer kann es bloß auf mich abgesehen haben?«
Die Frage war eher rhetorischer Natur, denn in den zurückliegenden Mordermittlungen hatte er sich naturgemäß nicht nur Freunde gemacht. Die Täter saßen zwar alle in Haft, sannen teilweise aber sicher auf Rache und hatten ihre Möglichkeiten, andere für diesen Zweck einzuspannen. Nachvollziehen konnte Hannes es trotzdem nicht.
»Wieso ausgerechnet ich? Bin mit meiner Olympiavorbereitung nur ’ne Teilzeitkraft. Warum hat es nicht zum Beispiel Federsen getroffen?«
»Weil dem Täter klar ist, dass Federsen zwar dein Chef ist, aber eigentlich du die Arbeit machst? Davon abgesehen kommen die anderen vielleicht erst noch dran.« Anna beschäftigte etwas ganz anderes. »Wenn Isabell nicht übertrieben hat, werden wir kaum was retten können. Eine Hausratversicherung haben wir auch nicht. Was für ein Albtraum!«
»Doch, ich habe eine Versicherung, und außerdem ist fast nur das Wohnzimmer betroffen«, wandte Hannes halbherzig ein. »Zum Glück war noch jemand wach, so wurde die Feuerwehr schnell informiert.«
»Aber meine alten Fotos im Wohnzimmerschrank. Das …« Anna schluckte, ihre grünen Augen schimmerten feucht. »Die Fotos von meiner Mutter … das ist alles, was ich noch von ihr habe.«
»Ich weiß.« Hannes löste die Finger von der Gangschaltung und griff nach ihrer Hand. »Ich verstehe, dass du daran gehangen hast. Aber dein Bruder und dein Vater haben sicher Bilder, die sie dir nachmachen lassen können. Und der ganze Rest ist sowieso ersetzbar. Mir macht vor allem der Spruch an der Hauswand Sorgen. Was, wenn das wirklich erst der Anfang war? Der Anfang von was?«
Anna schwieg, und Hannes ließ diesen Gedanken weiter in sich arbeiten, während sie Schweden über die Öresundbrücke in Richtung Kopenhagen verließen. Er konnte nachvollziehen, dass Anna stärker als er selbst um die persönlichen Gegenstände trauerte, schließlich gab es davon in der gemeinsamen Wohnung erheblich mehr als von ihm. Seit Jahren besaß er neben ein paar Möbeln nur so viel, wie in den Kofferraum eines Autos passte. Das Wichtigste war ihm ohnehin sein schwarzes Kanu, aber das lag im Olympiastützpunkt und befand sich also in Sicherheit. So war das eben als Leistungssportler, man hatte seine eigenen Prioritäten – und die behielt Hannes angesichts Annas Kummer lieber für sich.
Er nutzte das Schweigen seiner Freundin, um die letzten Monate im Geist durchzugehen. Irgendwo in all diesen menschlichen Abgründen musste die Erklärung dafür verborgen sein, dass er auf einmal selbst ins Visier geraten war. Oder war dies nur eine naheliegende Mutmaßung, und der Brand hatte gar nichts mit den Mordermittlungen zu tun?
Ansonsten fiel Hannes aber niemand ein, der sich zu einem solchen Anschlag bemüßigt gefühlt haben könnte. Mit seinem sportlichen Dauerkontrahenten Ralf kam ihm zwar durchaus ein Intimfeind in den Sinn, aber so weit würde wohl selbst der nicht gehen. Blieb eine dritte Möglichkeit: Irgendjemand hatte herausgefunden, dass in der zweiten Etage ein Polizist wohnte und hatte für seinen allgemeinen Hass auf die Polizei ein Ziel gefunden. Besonders wahrscheinlich kam ihm dies allerdings nicht vor.
Letztlich war es genauso unrealistisch wie seine Hoffnung, in den wenigen verbleibenden Wochen bis zum Beginn der Olympischen Spiele seine ganze Energie in den Abschluss seiner Sportlerkarriere stecken zu können. Neben der Suche nach dem Täter und dem Motiv würden Neuanschaffungen getätigt, Versicherungskram erledigt und Handwerker engagiert werden müssen. Dazu kamen sein Berufsalltag, Annas Jobsuche, die Hochzeitsvorbereitungen und die Sorge um seinen früheren Chef und Freund Fritz, der jeden Tag seinem Krebsleiden erliegen konnte. Und bei diesem Berg an Aufgaben sollte ein einigermaßen normales Training möglich sein? Hannes fühlte sich schon jetzt völlig entkräftet. Nein, es lief gerade alles andere als optimal. Dazu kam …
»Wo werden wir jetzt überhaupt wohnen?«, sprach Anna aus, was ihm auch soeben eingefallen war.
Hannes widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen, und stierte auf das Straßenschild, das ihn in Dänemark willkommen hieß. »Lass uns erst mal den Schaden ansehen. Vielleicht können wir sogar wohnen bleiben, wenn nur das Wohnzimmer …«
Er brach ab, denn Isabells Schilderung war eindeutig gewesen. Sie würden erst einmal einen Unterschlupf benötigen, wo auch immer. Vermutlich würde irgendeine Versicherung ein Hotelzimmer übernehmen, aber in Vorleistung müssten Anna
und er gehen. Wenn er an den Kontostand dachte, war dies keine entspannende Vorstellung. Hätten sie besser den Passat nicht gekauft, der fast alle Ersparnisse verschlungen hatte! Kurz entschlossen aktivierte er die Freisprecheinrichtung und wählte Bens Nummer.
Anna erwachte aus ihrem versunkenen Zustand. »Soll Ben alles aufräumen und neu streichen, bis wir zurück sind? Dann muss er sich beeilen.«
»Nein, er soll sein Wohnzimmer freiräumen und uns darin schlafen lassen.«
»Hältst du das wirklich für eine gute …«
»Ein Anruf von der Schnapsleiche!«, unterbrach Bens Stimme ihre Vorbehalte. »Seid ihr schon wieder nüchtern, oder sind schwedische Mittsommerfeiern harmloser als ihr Ruf?«
»Wir sind stocknüchtern und fahren gerade an Kopenhagen vorbei.« Hannes schilderte seinem besten Freund die Hintergründe.
»Natürlich könnt ihr bei mir einziehen«, redete Ben erwartungsgemäß nicht lange herum, nachdem er die Nachricht verdaut hatte. »Passt mir sogar ganz gut. Wollte euch eh fragen, ob ihr ein paar Tage auf Socke
aufpassen könnt.«
»Schon wieder? Wo willst du hin?« Erleichtert sah Hannes seine Freundin an und streckte den Daumen nach oben. Das drängendste Problem war damit schon mal kostenneutral gelöst.
»Meine Mutter besuchen.«
»Oh … das ist … überraschend.«
Einen Moment herrschte Stille, dann klang Ben amüsiert. »Wenn du jetzt noch ihren Tonfall nachgemacht hättest, wäre das exakt ihre Reaktion gewesen, als ich mich angekündigt habe.«
»Kein Wunder. Der einzige Sohn meldet sich nach Monaten wieder und …«
»Genauer gesagt nach zwanzig Monaten. Wofür es Gründe gibt.«
»Die du mir nie erzählt hast.«
»Und jetzt hast du andere Sorgen, würde ich sagen. Auf jeden Fall kann ich Socke
nicht mitnehmen, weil meine Mutter allergisch auf Hundehaare reagiert. Wenn ihr ihn nicht verhungern lasst, erzähle ich euch hinterher vielleicht von meinen Problemen mit ihr. Und wenn ihr keine Spuren im Bett hinterlasst.«
Anna verdrehte die Augen, Hannes musste grinsen. Bens Stimme und seine Flapsigkeit taten ihm gerade gut. Allerdings dauerte es nicht lange, bis sich auch Ben zu Spekulationen verstieg, wer es auf Hannes abgesehen haben könnte. Besonders besorgt schien er jedoch nicht zu sein, da er entweder hanebüchene oder alberne Erklärungen vorbrachte.
»Die wahrscheinlichste Option liegt ja auf der Hand«, verkündete er. »Sollte sich jemand an dir rächen wollen, fällt mir als Erstes dein Chef ein.«
»Federsen?«
»Du hast ihn gekränkt. Hintergangen. Angelogen. Dich sogar für einen neuen Boss entschieden. Und ihn mehrmals wie einen Anfänger dastehen lassen.«
»Du übertreibst. Hast du noch mehr Ideen?«
»Klar: Federsen ist nicht der Brandstifter, sondern als Nächstes dran. Bei ihm macht der Täter dann aber keine halben Sachen, sondern grillt ihn richtig. Gefällt dir die Vorstellung?«
»Über so was macht man keine Witze.« Das meinte Hannes durchaus ernst. Die Brandleiche bei seinem letzten Fall war ihm noch in böser Erinnerung, sodass er solch makabre Frotzeleien nicht amüsant finden konnte. Anna sah das offenbar ähnlich, wie ihre gerunzelte Stirn verriet.
»Wann fährst du zu deiner Mutter?«, fragte sie Ben.
»Morgen. Ihr habt mich also nur eine Nacht an der Backe. Haltet ihr das so lange aus?«
»Mit Mühe. Und wie lange bleibst du?«, wollte Hannes wissen.
Jetzt klang Ben nicht mehr ganz so fröhlich. »Nur vier Tage. Übernächste Woche steht eine Klausur an, für die ich noch einiges zu tun habe. Ich muss unbedingt bestehen, ist mein dritter Versuch.«
Dass Ben noch die Universität besuchte, lag nicht daran, dass er viele Jahre jünger als Hannes gewesen wäre, sondern dass er lange den nötigen Eifer hatte vermissen lassen. Erst in den letzten Monaten war bei dem Einunddreißigjährigen eine gesteigerte Motivation erkennbar gewesen, nicht erst als Opa den Hörsaal zu verlassen.
Anna gelang es noch, sich aufrichtig für das angebotene Ausweichquartier zu bedanken, dann beendete Hannes das Telefonat. »Auf Ben ist einfach Verlass«, meinte er. »Um Socke
müsstest du dich tagsüber kümmern, ist das okay?«
Anna nickte. Nachdem sie ihren bisherigen Job durch die Insolvenz des Arbeitgebers verloren hatte, war sie vorübergehend zur Krankheitsvertretung als Assistentin in einer Anwaltskanzlei tätig gewesen. Aufgrund der überraschend schnellen Genesung der Kollegin war diese Zwischenlösung aber auch schon wieder beendet, sodass sie sich – neben den Bewerbungen – vor allem mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigte. Der unkomplizierte Border Collie würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen, zumindest hoffte Hannes das.
Ihm konnte nicht entgehen, dass sich Anna eher halbherzig um eine neue Anstellung bemühte. Seit sie bei einer ungeplanten Schwangerschaft vor wenigen Wochen das Kind verloren hatte, war ihr Wunsch nach einer räumlichen und inhaltlichen Veränderung Dauerthema. Hannes waren derartige Überlegungen zwar nicht fremd, aber eher als theoretische
Spielerei. Es war auch nicht abzustreiten, dass mit dem bevorstehenden Ende seiner Sportlerlaufbahn ein geeigneter Zeitpunkt für einen Neuanfang vor der Tür stand. Nur nahmen die Diskussionen für seinen Geschmack einen zu schnellen Verlauf hin zu konkreter Planung. Er begründete seine Zurückhaltung vor allem damit, zunächst die anstehende Zusammenarbeit mit seinem neuen Vorgesetzten Marcel abwarten zu wollen. Dass er überdies immensen Respekt vor einem radikalen Neustart hatte und sich außerdem immer mehr mit seinem Job als Mordermittler angefreundet hatte, behielt er hingegen für sich.
Immerhin hatte er einen Kompromiss herausschlagen können, zu dem ihm auch die geplante Hochzeit verholfen hatte. Anna hatte eingewilligt, zunächst zu prüfen, ob es in der näheren Umgebung ein Stellenangebot gab, das sie interessierte. Allerdings nur so lange, bis sich Hannes ein Urteil über den Polizeidienst in Vollzeit und unter neuer Führung gemacht hatte. Da diese Neuerungen erst nach den Olympischen Spielen eintreten würden und Hannes sich alles vier Wochen lang ansehen wollte, hatte er sich eine Galgenfrist von fast drei Monaten herausgehandelt. Dass er damit Anna an seine eigene Entscheidung band, ohne dass sie Einflussmöglichkeiten besaß, löste regelmäßig ein schlechtes Gewissen bei ihm aus. Manchmal kam er sich wie ein Chauvinist vor. So hoffte er, dass Anna entweder auf einen Job stieß, der sämtliche Auswanderungspläne zerschmetterte, oder dass sie ihm einen Vorschlag präsentierte, der sich nicht so verwegen anhörte wie ihre bisherigen. Bisher war keine dieser Varianten eingetreten.
Jetzt gab es aber drängendere Themen, denen sie sich widmen mussten. Irritiert bemerkte er, dass der Wagen leicht zur Seite zog. Sie hatten den Passat zwar gebraucht gekauft, er hatte aber erst wenige Kilometer auf dem Tacho. Trotzdem war er schon einige Male in der Werkstatt gewesen – kündigte sich gerade der nächste Schaden an? Auch die Lenkung fühlte sich
merkwürdig an, und es rüttelte leicht. Hannes wollte gerade das Tempo reduzieren und eine entsprechende Bemerkung machen, als ein Knall ertönte. Anna schrie auf, Hannes zuckte zusammen. Krampfhaft umklammerten seine Finger das Lenkrad, instinktiv trat er heftig auf die Bremse.
Dass dies keine gute Idee gewesen war, bewies das Ausbrechen des Fahrzeugs, doch es war zu spät, um das Schleudern noch zu verhindern. Hannes hörte Gummi quietschen, konnte das Geschehen aber nur wie versteinert verfolgen. Erst als die Fahrbahn wieder in Sicht kam, löste er den Fuß von der Bremse und lenkte den Wagen in Richtung Standspur. Er bemerkte, dass Anna den Warnblinker aktivierte, und bremste sanft ab. Als der Passat schließlich zum Stehen kam, war Hannes blass, seine Finger klebten am Leder des Lenkrads.
»Alles in Ordnung?« Endlich war er in der Lage, zur Seite zu blicken.
Auch auf Annas Stirn stand Schweiß, ihre Augen waren weit aufgerissen. »Ja, aber … was war das?«
»Ein geplatzter Reifen?«
Seine Hände zitterten, als Hannes den Sicherheitsgurt löste. Er wollte schon die Tür öffnen, als ein Lastwagen an ihm vorbeirauschte. Wieder zuckte er zusammen und überprüfte dann genauer, ob er den Wagen gefahrlos verlassen konnte. Schon beim Aussteigen erkannte er, dass seine Vermutung zutraf. Vom linken Hinterreifen hingen nur noch Fetzen an der Felge, es roch verschmort. Jetzt war er für das Tempolimit in Dänemark dankbar, denn bei einer höheren Geschwindigkeit wären sie vielleicht nicht mit dem Schrecken davongekommen. Für einen Moment war er unfähig, sich zu bewegen. Seine Knie fühlten sich weich und kraftlos an, trotz der Sommersonne fröstelte er.
Mehrere Motorradfahrer näherten sich und reduzierten das Tempo. Der Aufmachung nach handelte es sich um eine Rockergruppe. Hannes war nicht wohl dabei, als sie auf die
Standspur wechselten und langsam ausrollten. Einerseits war er für Hilfe dankbar, und es war heller Tag, andererseits machte die Gruppe keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Vor allem aber setzte sich ein Gedanke in seinem Kopf fest: War der geplatzte Reifen Zufall, oder hing er mit dem Brandanschlag zusammen? Wie in Endlosschleife rotierte diese Frage in ihm, während er bewegungsunfähig zusah, wie eine kräftige Person in Ledermontur von dem vorderen Motorrad abstieg und dann auf ihn zukam.
Isabell und ihr Vorgesetzter Henning Federsen vertraten unterschiedliche Auffassungen, ob der Wochenendeinsatz berechtigt war oder nicht. Der Kriminalhauptkommissar pochte auf klar geregelte Zuständigkeiten, und dass sein Untergebener Johannes Niehaus keine Blessuren davongetragen hatte, sei ein unwiderlegbarer Fakt. Entsprechend missmutig hatte er die Befragungen in dem Altbau hinter sich gebracht, während Isabell mehr Eifer an den Tag gelegt und so meist die alleinige Gesprächsführung innegehabt hatte. Kopfschüttelnd sah sie nun ihren Chef an, als dieser den Hauseingang verließ und stehen blieb, um nach seiner Sonnenbrille zu kramen.
»Ich hoffe, Sie zeigen mehr Anteilnahme, sollte mir mal was zustoßen.«
»Mit fehlender oder vorhandener Anteilnahme hat das nix zu tun.« Anstatt der Sonnenbrille zog er eine Zigarettenpackung aus der ausgebeulten Hemdtasche und entzündete ein Feuerzeug. »Hier ist kein Mord passiert. Punkt. Aus. Ende.«
Sie deutete auf das Graffito. »Eine Morddrohung ist das aber mindestens. Wenn nicht sogar ein Mordversuch. War ja reiner Zufall, dass Hannes und Anna gerade in Schweden waren.«
»Auf dieses Geschmiere gebe ich gar nichts. Drohen ist leicht, aber umsetzen … Vielleicht ist es sogar absichtlich ausgerechnet
in der letzten Nacht passiert. Der Brandstifter kann auf den Moment gewartet haben, in dem die Wohnung verwaist war.« Immer noch auf der Suche nach seiner Sonnenbrille wühlte Federsen erneut in seiner Hemdtasche.
»Aus welchem Grund? Wer sollte Hannes einschüchtern wollen? Wir arbeiten gerade an keinem akuten …«
»Meine Güte!« Er gönnte ihr nur einen kurzen Blick, bevor die hervorstehenden Augäpfel hinter dunklen Brillengläsern verschwanden. »Wir alle machen uns Feinde, jeden Tag. Gehört zum Job. Außerdem ist gar nicht gesagt, dass das hier«, er deutete zum zweiten Stock hinauf, »mit Herrn Niehaus’ Beruf in Verbindung steht. Wer weiß, wem er sonst noch auf die Füße getreten ist.«
»Das ist total weit hergeholt!« Normalerweise neigte Isabell nicht dazu, sich auf ein Wortgefecht mit Federsen einzulassen. Sie mochte ihn zwar genauso wenig wie die meisten ihrer Kollegen, akzeptierte aber, dass er der Chef war. Sie wusste auch, dass es insbesondere zwischen Hannes und ihm ein nicht zu kittendes Zerwürfnis gab, aber seine zur Schau getragene Ungerührtheit stieß sie ab. Wenigstens in einem solchen Moment konnte man doch mal persönliche Animositäten beiseiteschieben und sich kollegial zeigen!
»Weit hergeholt oder nicht, möglich ist es.« Federsen gab sich weiter renitent. »Verstehe nicht, weshalb man uns hat antanzen lassen.«
»Weil wir seine Kollegen sind?«
»Ein Grund mehr, weshalb wir hier nichts zu suchen haben. Persönliche Befangenheit.«
Isabell schnaubte. »Und wenn es doch etwas mit den letzten Ermittlungen zu tun hat? Dann sind wir am besten geeignet, den Täter zu finden.«
»Wenn es mit einem unserer Fälle zusammenhängt, warum hat es dann nur ihn getroffen?«
Herausfordernd sah sie ihn an, am liebsten hätte sie ihm die Brille aus dem fleischigen Gesicht geschlagen. »Vielleicht kommt das ja noch? Hannes war nur der Erste, wer weiß, wer der Nächste sein wird.«
Er öffnete den Mund, blieb aber stumm. Nur das Pochen einer Ader an der Schläfe verriet, dass Isabell einen Treffer gelandet hatte. »Schönen Samstag noch«, sagte sie und wandte sich ab, um zu den Kollegen der Spurensicherung zu gehen. Sie räumten gerade ihre Koffer in einen Transporter, hatten aber wenig Erhellendes beizutragen.
»Der Brand wurde mit Benzin gelegt«, erklärte einer der Männer und streifte sich einen weißen Anzug ab. »Simpel und effektiv. War in Wasserflaschen abgefüllt, Fingerabdrücke sind nicht erkennbar. Von einem Stofffetzen haben wir noch den Rest gefunden. Dürfte von einem schwarzen TShirt stammen.«
»Wurden irgendwelche Gegenstände entdeckt?«, hakte Isabell nach. »Etwas, das der Brandstifter verloren haben könnte?«
»Hier lag einiges rum«, antwortete eine Frau. »Papierschnipsel, Teddybär, Feuerzeug, Kippen und ähnliches Zeug. Der Teddybär wird dem Täter schon mal nicht gehört haben. Und der Rest?« Sie zuckte mit den Schultern.
»Was ist mit der Farbe an der Hauswand?«
»Stammt aus einer Spraydose, die wir aber nicht gefunden haben. Ohne Zeugen wirst du keine Chance haben, diesen Brandanschlag aufzuklären.« Sie wandte sich ab, um auf den Fahrersitz zu steigen.
Düster sah Isabell zu, wie ihr drei Männer ins Wageninnere folgten. Die Zeugen waren genau das Problem. Die Molotow-Cocktails waren um ein Uhr nachts geworfen worden, zu dieser Uhrzeit war nur eine Bewohnerin wach gewesen. Ingrid Waldner hatte aber bloß das Zerbersten der Scheiben gehört und den Brandgeruch bemerkt. Ihr Mann dürfte handfestere Hinweise
liefern können, schließlich lag die Vermutung nahe, dass er dem Täter persönlich begegnet war. Dummerweise befand er sich mit zertrümmertem Nasenbein und Rippenprellungen im Krankenhaus. Dass er sogar auf der Intensivstation behandelt werden musste, lag an den inneren Kopfverletzungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit von Fußtritten herrührten. Er musste also etwas gesehen haben, was er nicht weitererzählen sollte. Bislang war der Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen, erfolgreich gewesen, denn Markus Waldner war nicht vernehmungsfähig.
Warum er um diese Uhrzeit in dem Innenhof gewesen war, hatte auch seine Frau nicht erklären können. Sie habe schon die Polizei informieren wollen, da er den ganzen Abend über verschwunden und nicht erreichbar gewesen sei. Gefunden hatten ihn dann die Feuerwehrleute, die wiederum von seiner Frau alarmiert worden waren. Vermutlich hatte sie damit nicht nur das Leben der anderen Bewohner, sondern vor allem das ihres Mannes gerettet. Vorerst zumindest.
Gedanklich ging Isabell die zurückliegenden Fälle durch. Nicht bei allen Ermittlungen war sie an Hannes’ Seite gewesen, die Zusammensetzung der Teams wechselte je nach Bedarf und Verfügbarkeit. Ihr selbst fielen zwar einige Kandidaten ein, die zu einer solchen Vergeltungstat imstande wären, aber sie wollte auch Clarissa und Per fragen, wer ihnen aus den anderen Fällen in Erinnerung geblieben war. Oder hatte Federsen am Ende doch recht, und es waren die Auswüchse einer Privatfehde?
Ihr fiel auf, dass sie eigentlich recht wenig über Hannes’ Privatleben wusste. Dass er Deutschland als Kanut bei den Olympischen Spielen vertreten würde und als Sportpolizist jeden Vormittag für sein Training nutzen durfte, war wahrscheinlich sogar dem Putzteam im Präsidium bekannt. Viel mehr, als dass Anna seine Freundin war, er von seinem früheren Chef Fritz einen umgebauten Krabbenkutter geschenkt bekommen
hatte, es eine Schwester gab, beide Eltern noch lebten und er ursprünglich aus der Nähe von Hannover stammte, wusste sie jedoch nicht. Ach ja, über einen sportlichen Konkurrenten lästerte er manchmal, aber Isabell konnte sich nicht mal an dessen Namen erinnern. Meist gab sich Hannes zugeknöpft, sobald es persönlich wurde. Sie selbst hatte diesbezüglich weniger Scheu und ihm schon das ein oder andere Mal etwas aus ihrem Privatleben erzählt.
Nachdenklich ging sie in die Hocke und musterte einen Fußabdruck in dem Blumenbeet. Die Spurensicherung hatte ihn natürlich aufgenommen, aber Isabell bezweifelte, dass er vom Täter stammte. Eindeutig war dies der Abdruck eines Stöckelschuhs, wie auch immer er dorthin geraten sein mochte. Er sah zwar frisch aus, aber dass jemand in Stöckelschuhen einen Molotow-Cocktail warf, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie lenkte den Blick in Richtung Straße und seufzte. Nicht nur tagsüber herrschte hier reger Verkehr, auch nachts dürften immer wieder Fahrzeuge oder sogar Fußgänger entlangkommen. Ob sich irgendjemand an eine Person erinnern konnte, die als Täter infrage kam? Vermutlich nicht, denn der Innenhof war von der Straße aus nicht einsehbar. Immerhin konnte man den Zeitpunkt klar eingrenzen, was weiterhalf. Das bedeutete allerdings eine öffentliche Fahndung, mit der automatisch eine Vielzahl von Hinweisen eingehen würde, die teils erfunden, teils übertrieben und nur mit großem Glück zielführend sein würden. Zumindest in Bezug auf diese Aufgabe schloss sich Isabell der Meinung Federsens an, dass dies nicht in den Zuständigkeitsbereich der Mordkommission fiel. Besser fühlte sie sich dadurch aber nicht.
Der Geruch stach genauso in der Nase wie der Anblick in den Augen. Anna liefen Tränen herunter, als sie den verkohlten
Überrest eines Fotoalbums begutachtete. Auch Hannes hatte um Haltung ringen müssen, als er die Wohnung betreten hatte. Erst vor einem halben Jahr hatten sie das Apartment bezogen und Stück für Stück nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Es war nur ein schwacher Trost, dass sich die Schäden größtenteils auf das Wohnzimmer beschränkten, denn dort hatte das Feuer nichts unversehrt gelassen. Durch das Schlafzimmerfenster war ebenfalls ein Brandsatz geworfen worden, hatte aber nur Teile der Wand und die Seite eines Schrankes angesengt. Hannes erinnerte sich, dass er den Gestank, der nach einem erloschenen Feuer herrschte, in den letzten Monaten schon mehrfach gerochen hatte. Niemals hätte er damit gerechnet, dies einmal in seinem eigenen Zuhause erleben zu müssen.
Sie waren erst vor einer halben Stunde und damit später als geplant eingetroffen. Die vermeintliche Rockergang auf der dänischen Autobahn hatte sich als eine Gruppe älterer Motorradliebhaber entpuppt, die nicht nur äußerst freundlich, sondern zugleich technisch versiert gewesen waren. Den Wechsel des geplatzten Reifens hatten sie im Alleingang vorgenommen, während sich Anna und Hannes auf der Leitplanke sitzend wieder hatten sammeln können. Die Bemerkung eines der Männer, dass ein scharfer Gegenstand den Reifen beschädigt und später zum Platzen gebracht haben dürfte, hatte ihnen zu denken gegeben. Natürlich konnte ein Bordstein oder etwas Ähnliches den Schaden hervorgerufen haben, genauso gut konnte es aber auch – als tickende Zeitbombe – das Werk einer Person sein. Vielleicht waren sie sogar schon mit beschädigtem Reifen aus Deutschland abgefahren.
Gedankenverloren ließ Hannes den Blick durchs Zimmer schweifen. Isabell stand schweigend neben ihm, während sich Anna lautstark die Nase putzte. Dann gab er sich einen Ruck.
»Lass uns ein paar Klamotten zusammenpacken, danach fahren wir zu Ben«, sagte er zu seiner Freundin. Er hielt es
für das Beste, sie so schnell wie möglich aus diesem Chaos wegzubringen.
»Soll ich euch fahren?«, fragte Isabell.
»Nein, das Reserverad hat uns bis hierher gebracht, dann schaffen wir die paar Meter auch noch. Am Montag besorge ich einen neuen Reifen, den kaputten hab ich vorhin der Spurensicherung mitgegeben.«
Nur mit Mühe konnte er Anna kurz darauf davon abhalten, neben Klamotten noch andere Habseligkeiten in den Koffer zu werfen. »Wir ziehen nicht um, sondern kriechen nur für ein paar Tage bei Ben unter. Wenn was fehlt, holen wir es einfach. Außerdem glaube ich nicht, dass hier noch mal Molotow-Cocktails durchs Fenster fliegen.«
Anna stopfte einen Aktenordner mit Bankdokumenten und anderen wichtigen Unterlagen in eine bereits übervolle Tasche. »Woher willst du das wissen? Denk an die Botschaft an der Hauswand!«
Damit wollte sich Hannes auf keinen Fall näher befassen. Er ertappte sich ohnehin schon dabei, sich ständig umzusehen. So auch, als er das Gebäude gemeinsam mit den beiden Frauen verließ. Von dem Graffito und den neugierigen Blicken der Nachbarn abgesehen, wirkte alles wie immer. Am frühen Abend strömte der Verkehr vorbei, es gab Spaziergänger, Jugendliche, die mit einer Dose kickten, und den Obdachlosen, der oft drüben auf der Bank neben einem Parkautomaten schlief. Er machte Isabell auf den Mann aufmerksam.
»Habt ihr den schon befragt? Er könnte was mitgekriegt haben, ist häufig hier.«
Sie nickte. »Letzte Nacht auch. Er wurde aber erst wach, als die Feuerwehr mit Blaulicht und Sirene vorfuhr. Es wird kein Weg daran vorbeiführen, die Öffentlichkeit um Hinweise zu bitten. Auch die Taxiunternehmen wurden schon informiert, es gibt bisher aber kein brauchbares Feedback.« Fürsorglich
drückte sie erst Anna und dann Hannes an sich, bevor diese ins Auto stiegen. »Jetzt schnauft erst mal durch, und lasst das sacken. Wir kümmern uns um alles.«
Hannes nickte nur und startete den Motor. Er war außerstande, alles den Kollegen zu überlassen, sondern wollte so schnell wie möglich Struktur in seine wirbelnden Gedanken bringen. Noch am selben Abend würde er eine Liste mit den Personen anlegen, die ihm aus den zurückliegenden Ermittlungen in Erinnerung geblieben waren und über ein Motiv verfügen könnten. Immerhin ging es hier nicht nur um ihn selbst, was beunruhigend genug wäre. Sollte die Drohung ernst gemeint sein, waren weitere Vorfälle zu erwarten, die nicht nur ihn, sondern genauso Anna gefährdeten.
Verstohlen sah er zu ihr hinüber. Sie saß aufrecht auf dem Beifahrersitz und drehte zwischen den Fingern unablässig einen Anhänger, der ihrer Mutter gehört hatte. Nach dem Verlust der Fotos war dieser Schmuck das einzige verbliebene Erinnerungsstück. Innerlich verfluchte Hannes das Schicksal. Anna hatte endlich angefangen, die mentale Krise, die der Verlust des Babys und des Arbeitsplatzes ausgelöst hatte, hinter sich zu lassen. Beide hatten sich auf die Hochzeit gefreut und es genossen, dass zwischen ihnen wieder eine Vertrautheit eingekehrt war, die zwischenzeitlich verloren gegangen war. Sie hatten sich sogar dafür entschieden, es noch mal mit einer Schwangerschaft zu versuchen – sobald die Frauenärztin grünes Licht gab. Jetzt aber war die Leichtigkeit wie fortgeweht, genauso wie der Optimismus, dass alles gut werden würde.
Hinter dem Bäcker, bei dem sie üblicherweise sonntags Brötchen holten, bog Hannes in ein ruhiges Wohngebiet ab. Nach einem Blick in den Rückspiegel runzelte er die Stirn.
»Was ist los?«, fragte Anna. Offenbar war er nicht der Einzige, der den Gemütszustand des anderen zu ergründen versuchte.
»Weiter hinten … seit wir losgefahren sind, scheint uns ein Motorroller zu folgen.«
Hektisch drehte sie sich um und sah durch die Heckscheibe. »Der rote?«
»Genau.« Hannes fuhr langsamer und behielt den Spiegel im Blick.
»Jetzt biegt er ab.« Anna wandte sich wieder um, und seit vielen Stunden meinte er zum ersten Mal Lebensfreude an ihr zu bemerken. Sie steckte sich eine braune Haarsträhne hinter das Ohr und zeigte den Anflug eines Lächelns. »Leidet der Mordermittler jetzt an Verfolgungswahn? Wir sind erst seit drei Minuten unterwegs. Das ist wahrscheinlich nur ein Halbstarker auf dem Weg zu seiner Freundin.«
»Du hast recht.« Hannes setzte erneut den Blinker, um in Bens Straße einzubiegen. »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht überall Gespenster sehen.«
»Ich seh aber schon eins.« Anna deute nach vorn.
In der Tat war der Vergleich naheliegend, denn Ben erwartete sie in abenteuerlicher Aufmachung. Er lief auf dem Bürgersteig hin und her und wedelte mit beiden Armen, als er sie bemerkte. Hannes hielt neben ihm an und stieg aus.
»Hast du dich in der Jahreszeit vertan? Karneval …«
»Freut mich auch, dich zu sehen.« Ben boxte ihm gegen die Brust und umarmte Anna.
»Ist das ein Nachthemd?«, fragte sie.
»Das hier?« Ben zupfte an dem weit geschnittenen weißen Stoff, der wie ein Sack um seinen schlaksigen Körper hing. »Nennt sich Thawb. Das ist arabisch und bedeutet Gewand.«
»Und wieso trägst du so was?« Hannes war zwar einiges von Ben gewohnt, zweifelte aber mal wieder an dem Verstand seines Freundes. »Bist du zum Islam konvertiert oder bloß bekifft?«
»Weder noch. War nur ein Test, wie ihr reagiert. Ich hab nämlich vor, meine Mutter damit zu überraschen.«
»Was soll das bringen?«
»Ach, das führt zu weit.« Ben winkte ab. »Es gibt einen plausiblen Grund, glaub mir. Jetzt haben wir aber Wichtigeres zu besprechen, kommt mit!«
Er half den beiden, das Gepäck auszuladen, und stieß die Gartentür auf. Als sie an der Villa der Eigentümer vorbei in den hinteren Gartenbereich gingen, gerieten Hannes’ Schritte ins Stocken. Anna und Ben bemerkten es nicht, sondern überquerten den Rasen in Richtung des Gartenhauses, in dem Ben als Mieter wohnte. Auf der Veranda lag sein Hund Socke
, der erst den Kopf hob und ihnen dann schwanzwedelnd entgegenstürmte. Hannes lauschte noch immer, das knatternde Geräusch wurde lauter. Er ließ beide Koffer fallen, drehte sich um und rannte zur Straße zurück. Durch die Hecken konnte er nur einen Schatten vorbeigleiten sehen, kurz darauf riss er das Gartentor auf. Das Geräusch entfernte sich, vom Verursacher war aber nichts mehr zu sehen. Es war ein Motorroller gewesen, da war sich Hannes sicher. Ob er eine rote Farbe gehabt hatte?
Langsam ging er in den Garten zurück. Socke
begrüßte er eher beiläufig, obwohl zwischen ihm und dem Hund schon seit ihrer ersten Begegnung eine herzliche Zuneigung herrschte. Fragend sah Anna ihn an.
»Wo warst du?«
»Ach … hatte was im Auto vergessen.«
Hannes war bemüht, sich die Sorge nicht anmerken zu lassen. Anna sollte sich hier sicher fühlen, das war wichtig! Er selbst wollte allerdings Augen und Ohren offen halten. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie Ben sich das Gewand über den Kopf zog. Darunter trug er lediglich eine Unterhose, immerhin. Er ließ sich auf einem Liegestuhl nieder und deutete einladend auf die Haustür.
»Breitet euch in Ruhe aus. Ab morgen könnt ihr euch im Schlafzimmer einrichten, heute Nacht gehört es aber noch mir.«
»Zu schade.« Hannes musterte den hageren Oberkörper. »Wo du dich gerade so aufreizend präsentierst.«
»Soll ich mir besser was anziehen? Nicht, dass eure Hormone durchdrehen.«
Anna setzte sich neben ihn. »Keine Sorge, unsere Hormone haben gerade andere Sorgen. Kann ich mir eins nehmen?« Sie deutete auf einen Sixpack Bier. »Auspacken können wir später.«
»Klar, ist eh besser, wenn wir gleich zur Sache kommen.«
»Ehrlich gesagt, wir wollen jetzt nicht weiter über den Anschlag auf unsere Wohnung reden.« Hannes setzte sich ebenfalls, nachdem er eine Hundebürste vom Klappstuhl auf den Tisch gelegt und einen Haufen Trockenfutter auf den Boden gefegt hatte. »Unsere Gedanken haben sich schon genug darum gedreht und brauchen eine Pause.«
»Ist aber wichtig. Wartet hier, ich muss euch was zeigen.« Ben stand schon wieder auf und verschwand im Haus.
Anna kraulte Sockes
Kopf, der sich davon unbeeindruckt zeigte und sich über das Futter hermachte. »War eine gute Entscheidung, hierherzukommen.« Sie wies auf den Garten. »Es fühlt sich total unwirklich an, dass unsere eigene Bude abgebrannt ist. Hier wirkt alles wie immer, friedlich und … einfach schön.«
Hannes machte ein zustimmendes Geräusch. Wenn man bedachte, was für ein unkonventioneller Typ Ben war, dann war es sogar kitschig schön. Er hätte mit seinen Dreadlocks, dem Augenbrauenpiercing und dem oft von der Norm abweichenden Verhalten besser in eine WG in irgendeinem verlotterten Gebäude gepasst als in dieses Gärtnerhäuschen, das als Kulisse für einen Rosamunde-Pilcher-Film hätte herhalten können. Das Ärztepaar, dem das Grundstück gehörte und das mit den beiden Kindern in der Villa wohnte, hatte zwar den verwilderten Charme des Gartens nicht angetastet, aber mit kleinen Akzenten dafür gesorgt, dass er nicht ungepflegt wirkte. Um
einen Apfelbaum herum wucherten Wildblumen, ein Rosentor fungierte als Eingang zu drei Gemüsebeeten, und quer über einen schmalen Wasserlauf war eine Hängematte gespannt worden. Hannes verlor sich in dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen der Blätter. Er schloss die Augen, spürte Sonnenstrahlen durch das Laub auf sein Gesicht fallen und griff nach Annas Hand.
»An so einen Wohnsitz könnte ich mich gewöhnen«, hörte er ihre Stimme. »Vielleicht sollten wir Ben zu einem Umzug ins Ausland überreden.«
»Vergesst es.« Ben war zurück. Angezogen und mit einem Laptop unter dem Arm.
Hannes öffnete die Augen. »Solltest du aber jemals …«
»… muss ich die Vermieter anbetteln, euch hier einziehen zu lassen. Ich weiß, hast du mir schon x-mal gesagt. Sei mal lieber froh, dass du mich hier in deiner Nähe hast. Denn wie schon vor einem Jahr«, er stellte den Laptop auf den Tisch und legte sein Smartphone daneben, »bin ich wieder mal ein wertvoller Tippgeber.«
»Wie meinst du das?«
Ben drückte den Startknopf und setzte sich. »Anders als du und deine Kollegen hab ich eine Vermutung, weshalb deine Bude angesteckt wurde.«
Damit hatte er nicht nur die volle Aufmerksamkeit seines Freundes, sondern auch die von Anna. Sie richtete sich auf und rückte mit dem Stuhl neben ihn. »Was für eine Vermutung und woher …?«
»Kam von einem Freund aus Hamburg. Ich hab ihm mal erzählt, dass ich mit einem Polizisten befreundet bin, was er ziemlich abwegig fand, weil … na ja. Wir sind in ähnlichen Kreisen unterwegs.«
Hannes zog die Augenbrauen nach oben. Ben engagierte sich seit Jahren im Kampf gegen alte und neue Nazis, wobei er
es mit den Gesetzen nicht so genau nahm. Zuletzt war er ihm ruhiger vorgekommen, aber er wollte gar nicht so genau wissen, was sein Kumpel schon alles angestellt hatte – oder noch immer anstellte.
»Ich hab mal fallen lassen, dass du Leistungssportler bist und zweifarbige Augen hast«, fuhr Ben fort. »Vor allem Letzteres ist wohl bei ihm hängen geblieben, deshalb hat er sich sofort bei mir gemeldet.«
Hannes schüttelte den Kopf. »Kannst du mal aufhören, in Rätseln zu sprechen?«
»Ich war noch gar nicht fertig.« Ben nahm das Smartphone in die Hand und wischte darauf herum. »Er ist öfter in einem alternativen … na ja, genauer gesagt ist es ein Treffpunkt für Autonome … ich war allerdings noch nicht dort! Vom Steinewerfen hab ich nie was gehalten und …«
»Bleib jetzt mal bei der Sache.« Auch Anna war irritiert. »Um was geht es?«
»Darum, dass in diesem … Zentrum einige Flugblätter rumlagen. Und auf denen war das hier. Er hat mir ein Foto geschickt.«
Er drehte das Display zu Hannes, der sich daraufhin nach vorn beugte. Mit offenem Mund betrachtete er sein eigenes Gesicht. In Farbe und nur leicht unscharf. Er erinnerte sich daran, wie es entstanden war – bei einem der wenigen Interviews, die jemals mit ihm geführt worden waren. Das lag erst ein paar Monate zurück. Beim Weltcup in Duisburg hatte er mit persönlicher Bestzeit den dritten Platz belegt und war nach seiner Rückkehr von einer Lokalzeitung – genauer gesagt von einem lokalen kostenlosen Anzeigenblatt – kontaktiert worden. Auf deren Webseite war der Artikel ebenfalls veröffentlicht worden, samt Foto. Wie und vor allem warum es auf einem Flugblatt gelandet war, das von Autonomen herumgereicht wurde, konnte er sich allerdings nicht erklären. Genauso wenig
warum über dem Bild in roten Lettern Payback Time
stand. Ben erklärte es ihm.
»Auf dem Blatt wirst du beschuldigt, in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Demonstranten verwickelt gewesen zu sein. Beim Wirtschaftsgipfel vor wenigen Wochen in Hamburg. Ist da was dran?«
»Spinnst du?« Hannes fand die Sprache wieder, auch wenn es mehr ein heiseres Krächzen war. »Ich bin Mordermittler, kein Bereitschaftspolizist oder so.«
»Ich
hab das ja auch nicht behauptet, sondern der Verfasser dieses Flugblatts.« Ben reichte das Smartphone an Anna weiter, die schon ungeduldig an seinem Arm zog. »Bei den Straßenschlachten ging es heftig zur Sache, es gab viele Verletzte.«
»Vermutlich auf beiden Seiten.«
»Vier Demonstranten wurden sogar schwer verletzt, eine Siebzehnjährige verlor ein Auge. Zeugen behaupten, dass sie von Polizisten zusammengeschlagen und noch am Boden liegend verprügelt wurde. Beweise gibt es nicht. Auf dem Flugblatt wird aber behauptet, dass du einer dieser Polizisten gewesen bist.«
Fassungslos sank Hannes gegen die Rückenlehne. Es passte. Die Vorgehensweise beim Brandanschlag, die Wortwahl des Graffitos. Was jedoch überhaupt nicht passte, war er als Zielperson. Wie konnte es zu einem derart fatalen Missverständnis kommen? Auch Anna sah geschockt aus.
»Es muss einen Polizisten geben, der Hannes ähnlich sieht.«
»Einschließlich zweifarbiger Augen?« Ben nahm sein Telefon wieder an sich. »Das wäre schon ein extremer Zufall.«
Hannes räusperte sich. »Aber wieso sind die ausgerechnet auf mich gekommen?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wer die
überhaupt sind. Mein Kumpel hat sich in der Szene umgehört, keiner
kann sagen, wer die Flugblätter ausgelegt hat. Auf einmal waren sie da. Mit deinem Namen … und deiner Adresse.«
Hannes stöhnte. »Das ist Wahnsinn! Obwohl ich völlig unschuldig bin, sinnt jetzt eine Horde Autonomer auf Rache?«
Ben nickte mit ernster Miene. »Und mit solchen Leuten sollte man sich nicht anlegen.«
»Ich hab mich doch gar nicht mit denen angelegt!«
»Dann hat jemand dafür gesorgt, dass es so aussieht. Absichtlich oder aus Versehen.«
An eine Verwechslung glaubte Hannes keine Sekunde. Trotzdem musste natürlich klargestellt werden, dass er zu Unrecht am Pranger stand. Nur wie? Eine Gegendarstellung wie bei fehlerhaften Pressemeldungen war hier schwer möglich. Wer wusste schon, in welchen Händen sich diese Flugblätter mittlerweile befanden – und wie viele davon gedruckt worden waren!
»Hat dein Freund eines der Flugblätter mitgenommen?«, fragte er.
»Hat er sogar schon in einen Briefumschlag gesteckt und an mich geschickt. Müsste am Montag ankommen. Es ist aber nicht unterschrieben, falls du auf einen Hinweis auf den Verfasser hoffst.«
»Das ist mir klar. Aber vielleicht gibt es irgendetwas, das einen Anhaltspunkt liefert … oder zumindest Kollegen, die sich mit so was auskennen. Die Sprache … der Stil oder …« Hilflos hob er die Hände.
»Vielversprechender ist eher das hier.« Ben schob den Laptop nach vorn, sodass Anna und Hannes den Bildschirm sehen konnten.
Hannes hörte, wie Anna nach Luft schnappte, und richtete nun auch seinen Blick auf den Bildschirm. Ben hatte eine Webseite geöffnet, auf der ebenfalls Hannes’ Foto zu sehen war. Als Beitrag in einem Diskussionsforum der linken
Szene. Konkret ging es in dem Thread um Polizeigewalt beim Wirtschaftsgipfel. Hannes konnte schon beim Überfliegen des ersten Kommentars erkennen, dass man begeistert war, endlich ein Bullenschwein aus der anonymen Masse
identifiziert zu haben. Und wie Ben mit einem Fingerzeig verdeutlichte, setzten sich derartige Kommentare über mehrere Seiten fort. Hannes brach der Schweiß aus, als er die Rachepläne so vieler Unbekannter durchlas, während Anna nur noch stumm und blass dasaß.