KAPITEL
3
Wider Erwarten konnte Hannes am Sonntagmorgen auf eine ruhige Nacht zurückblicken. Als er sich um Mitternacht mit Anna auf das Klappsofa in Bens Wohnzimmer gelegt hatte, war er so erledigt gewesen, dass er innerhalb von wenigen Minuten eingeschlafen war. Ob dies auch für Anna galt, bezweifelte er. Seit die Spur in die autonome Szene aufgetaucht war, hatte sie kaum noch an etwas anderes denken können.
»Mein Bruder hat mich mal auf eine Demo mitgeschleppt, die total eskaliert ist«, hatte sie ihm gestern Abend noch vor dem Einschlafen erzählt. »So was hab ich vorher noch nie erlebt, es war wie im Bürgerkrieg. Zumindest stell ich mir das so vor. Die Leute waren völlig enthemmt. Wenn solche Kerle jetzt hinter uns her sind …«
»Sie sind hinter mir her, nicht hinter dir«, hatte Hannes sie zu beruhigen versucht.
»Das macht es doch nicht besser! Es ist ein Albtraum!«
Ob Anna auch im Moment von Albträumen geplagt wurde, konnte Hannes nicht beurteilen. Zumindest schlief sie und atmete ruhig. Vorsichtig, um das betagte Sofa nicht in Schwingung zu versetzen, drehte er sich zur Seite und griff nach seiner Armbanduhr. Es war sieben Uhr, und durch den Vorhangspalt konnte er erkennen, dass die Sonne schien. Leise
stand er auf und schlich zu Bens Schlafzimmertür. Als er sie öffnete, erschien sofort Sockes
Hundeschnauze im Türspalt. Begeistert, dass schon jemand wach geworden war, wedelte er mit dem Schwanz und versuchte, sich herauszuzwängen. Seine Krallen bearbeiteten das Holz, und Ben grummelte vor sich hin, dann zog er sich das Kissen über den Kopf. Bevor auch Anna von Sockes
stürmischer Freude geweckt zu werden drohte, zog Hannes den Hund hinaus ins Freie.
Es war noch kühl, sodass er aus dem Schatten eines Baumes auf den Rasen in die Sonne trat. Aus dem Haupthaus hörte er Kinderlärm, deshalb sah er an sich herunter. Wer Ben als Untermieter akzeptierte, würde sich hoffentlich nicht daran stören, dass jemand nur mit Boxershorts im Garten herumlief. Nichtsdestotrotz suchte er den Schutz einer Hecke, nachdem er sich von der Terrasse einen Stuhl geholt hatte. Socke
stromerte durch den Garten, und Hannes atmete tief ein und aus. Die Sonne wärmte seinen nackten Bauch, an den Zehen spürte er den Morgentau. Mit geschlossenen Augen drehte er sein Handy zwischen den Fingern, es widerstrebte ihm, sich erneut mit dem Flugblatt sowie den Foreneinträgen auseinanderzusetzen und damit die friedvolle Atmosphäre dieses Morgens zu vertreiben.
Schließlich tat er es doch. Noch immer kam es ihm unwirklich vor, sein Foto über den Drohungen und Anschuldigungen zu sehen. Wer konnte ein Interesse daran haben, ihn den Rachegelüsten eines autonomen Mobs auszusetzen? Vermutlich jemand, der andere für seinen eigenen Rachefeldzug einzusetzen gedachte. Es war eine perfide Strategie, die sogar Erfolg versprechend schien, das musste Hannes dem Unbekannten zugestehen. Zumal dieser nichts dem Zufall überlassen hatte. Zu konkret waren die Informationen, als dass man erst mühsam nach der Zielperson hätte suchen müssen. Nicht nur Hannes voller Name und seine Adresse waren veröffentlicht worden, genauso eine Beschreibung seines Autos samt Kennzeichen,
und darüber hinaus war seine Dienstbehörde genannt worden. Auch die Information, dass er am Olympiastützpunkt als Kanut trainierte, blieb nicht unerwähnt, ebenso seine Herkunft aus einer Kleinstadt bei Hannover und der familiäre Hintergrund.
Ihm wurde übel. Dass sein privates Umfeld – wenn auch ohne Namensnennungen – hineingezogen wurde, löste ein beklemmendes Gefühl aus. Wahrscheinlich sollte genau das bezweckt werden. Musste er seine Eltern und Schwester warnen? Sie würden vor Angst außer sich sein! Verschweigen war aber auch keine gute Idee. Sollte ihnen etwas zustoßen, würde er sich ewig Vorwürfe machen. Hannes nagte an seiner Unterlippe. Es musste einen Weg geben, diesen Wahnsinn zu stoppen. Als Erstes wollte er die Kollegen über die neuen Hintergründe informieren, am Vorabend hatte er weder Isabell noch Federsen erreichen können. Als er sein Telefonbuch antippte, erhielt er eine SMS von einer unbekannten Nummer – die ihn völlig überrumpelte.
Hallo Hannes! Lange nichts mehr von dir gehört. Geht’s dir gut? Wir sollten uns mal treffen und über die alten Zeiten quatschen. Gibt bald genug Gelegenheiten, denn – Überraschung: Wir wohnen jetzt beide in derselben Stadt! Wann passt es bei dir?! Liebe Grüße Nina
Hannes massierte sich die Schläfen. Nina hatte er vor einer gefühlten Ewigkeit bei einem Wettkampf kennengelernt, kurz nachdem er seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Auch sie war Leistungssportlerin gewesen, allerdings auf einem niedrigeren Niveau. Sie hatte in Brandenburg gewohnt und war … einfach unglaublich gewesen. So unglaublich, dass Hannes über drei Jahre viele Stunden im Zug verbracht hatte, um sie regelmäßig zu treffen. Es war eine intensive, aber auch verhängnisvolle Beziehung gewesen, leidenschaftlich im positiven wie im negativen Sinn. Etwas Vergleichbares hatte er seitdem nicht mehr erlebt, was ihn gleichermaßen erleichterte und
bedrückte. Nach dem großen Knall hatte er zwei Jahre lang keine Frau mehr an sich herangelassen. Zum einen hatte er Zeit für sich gebraucht, und zum anderen hatte er – was er ungern zugab – Nina nicht aus dem Kopf oder besser gesagt nicht aus dem Herzen bekommen. Noch heute ertappte er sich manchmal dabei, dass er an sie dachte.
Ihm fiel auf, dass er seit Minuten regungslos auf das Display starrte. Auf eine solche Nachricht hatte er vor fünf Jahren noch monatelang gehofft, jetzt erschreckte sie ihn eher, als dass er sich freute. Rückblickend war er der Meinung, dass die Trennung zwar schmerzhaft, aber absolut richtig und wichtig gewesen war. Nina hatte es schon damals auf den Punkt gebracht: »Wir tun einander einfach nicht gut.« Allerdings hatte es durchaus Phasen gegeben, in denen sie sich sogar sehr gutgetan hatten. Es war das ständige Wechselspiel zwischen diesen Extremen gewesen, das sie zermürbt hatte. Hannes fragte sich, ob sie heute anders und souveräner mit diesen Gegensätzen umzugehen imstande wären. Er wusste, dass er selbst seinen Teil zur Eskalation beigetragen hatte, und dieser Beitrag ließ sich nicht nur auf seinen Hang zur Eifersucht reduzieren.
Er verstand selbst nicht, weshalb er derartige Überlegungen überhaupt zuließ. Mit Anna war er glücklich, er befand sich in einer ganz anderen Lebensphase, und vor allem gab es gerade erheblich drängendere Probleme. Wieso musste Nina ausgerechnet jetzt wieder ein Lebenszeichen von sich geben, und weshalb war sie hierher gezogen? Letzteres interessierte ihn dann doch, sodass er sich eine Antwort abrang. Ein Treffen schloss er für sich selbst allerdings kategorisch aus.
Hi Nina, schön von dir zu hören! Leider geht es bei mir gerade drunter und drüber. Du bist hergezogen? Wie kam es dazu?
Bevor er weiter über seine Exfreundin nachdenken konnte, rief er Isabell an. Erwartungsgemäß war sie bereits wach.
»Sorry, dass ich dich gestern nicht mehr zurückgerufen habe«, sagte sie. »Hab erst spät gesehen, dass du versucht hattest, mich zu erreichen. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»So sehr in Ordnung, wie es in Ordnung sein kann, wenn man auf der Abschussliste von Autonomen steht.«
»Hä?«
Hannes erklärte ihr den Hintergrund und wie er an die Informationen gelangt war. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hatte sich Isabell gefangen. »Wir müssen die Hamburger Kollegen sofort losschicken, damit dieses Missverständnis aus der Welt geschafft wird!«
»Missverständnis?« Hannes lachte auf. »Das ist Absicht! Jemand will mir diese Kampfhähne auf den Hals hetzen. Und wie es scheint, funktioniert es ganz gut.«
»Hast du inzwischen ’ne Idee, wer das sein könnte?«
»Mindestens zehn. Du musst nur die Personen durchgehen, die wegen mir im Knast gelandet sind. Zählt man die indirekt durch die Ermittlungen Inhaftierten dazu, kommen noch mehr infrage. Ich hätte halt Lehrer werden sollen.«
»Da kannst du dir genauso Feinde machen. Wir müssen eine Liste anlegen. Mit allen, die dir neue Lebensumstände zu verdanken haben.«
»Und dann?« Hannes’ Stimme wurde lauter. »Die sitzen alle im Knast, nach ihrem Alibi musst du nicht fragen. Wenn einer von denen dahintersteckt, wird es Helfer geben. Das ist … wie sollen wir das auf die Schnelle herausfinden?«
Isabell behielt einen kühlen Kopf. »Zunächst müssen wir die Dringlichkeit reduzieren. Die Info streuen, dass du bei dem Wirtschaftsgipfel gar nicht im Einsatz warst. Dass du ein Mordermittler bist. Dazu sollten wir dort ansetzen, wo die einzige konkrete Spur verläuft.«
Hannes nickte. »So weit war ich auch schon. Das Flugblatt und dieses Forum.«
»Den Verfasser des Flugblattes werden wir so schnell nicht finden, den Betreiber des Forums schon eher. Wer hat darin dein Foto gepostet?«
»Ein joshi
.« Der Nickname hatte sich Hannes eingebrannt. »Er hat so ziemlich genau die Infos reingeschrieben, die auch auf dem Flugblatt standen. Aber noch zwei weitere Angaben. Ist also wahrscheinlich, dass er die Lawine losgetreten hat.«
»Vielleicht hat er nicht nur die Lawine losgetreten, sondern selbst die Brandsätze geworfen. Die Frage ist nur, weshalb? Was hat er ins Forum geschrieben, das nicht auf dem Flugblatt stand?«
»Eine genauere Beschreibung meines Äußeren und dass ich bei Olympia antrete. Daraufhin haben sich mehrere Leute in ihren Kommentaren empört, dass ich mein Superheldenleben weiterführe, während ein Mädchen wegen mir halb blind geworden ist. Und wie das so ist, haben sich dann andere gemeldet, die mich an dem Tag angeblich auch in Hamburg beobachtet haben. Ich wäre einer von den ganz schlimmen Bullen gewesen. Das geht bis zu offenen Mordaufrufen. Es verselbstständigt sich, Isabell!«
»Verstehe, ich informiere gleich Federsen. Das Dumme ist nur, dass wir nicht so richtig zuständig sind.«
Hannes schluckte die Verbitterung herunter, Isabell konnte ja nichts für die Polizeiregeln. »Tja, da muss ich wohl erst draufgehen«, konnte er sich dennoch nicht verkneifen.
»Untersteh dich. Und glaub nur nicht, dass ich die Füße stillhalte. Bei der Spurensicherung hab ich gerade keinen guten Stand.«
»Warum?«
»Weil ich denen Feuer unterm Hintern mache. Immerhin liegt das Ergebnis zu deinem Reifen vor. Sieht tatsächlich so aus, als wäre er manipuliert worden. Angeritzt mit einem Messer.
Viel ist von dem Ding leider nicht mehr übrig, es gibt also keine Gewissheit.«
»Und sonst?«
»Die Wasserflaschen lieferten keine weiteren Hinweise und der eingesammelte Krimskrams auch nicht. Bleibt der Fußabdruck im Beet. Von dieser Stelle kann man zu einem eurer Fenster hochsehen. Na ja, zu den anderen Wohnungen natürlich auch. Muss also nichts bedeuten. Meine Vermutung war richtig, der Abdruck stammt von einem Stöckelschuh. Größe sechsunddreißig.«
»Glaube kaum, dass jemand mit Stöckelschuhen Molotow-Cocktails schmeißt.« Aus den Augenwinkeln sah Hannes, dass Anna und Ben auf die Terrasse traten. Laut hechelnd stürzte ihnen Socke
entgegen. »Wie geht’s jetzt weiter, Isabell? Ich kann nicht einfach nichts tun.«
»Dann denk weiter scharf darüber nach, mit wem du ernsthaft aneinandergeraten bist. Ist ja auffällig, dass nur du ins Visier genommen worden bist. Bist du dir sicher, dass nichts anderes dahinterstecken kann?«
»Ja, bin ich. Mir fällt nichts ein, was einen Racheplan gegen mich erklären könnte. Fährst du nachher ins Präsidium? Dann komme ich dazu, und wir zerlegen dieses Forum.«
»Das ist keine gute Idee. Du kannst nicht in einem Fall ermitteln, bei dem du selbst betroffen bist. Als Hauptbetroffener schon gar nicht.«
Diese goldene Regel war Hannes natürlich nicht unbekannt. »Dann halte mich wenigstens auf dem Laufenden, versprich mir das!«
»Davon … darf aber niemand wissen«, willigte sie zögernd ein.
»Okay.«
Das Handy brummte, und Hannes verabschiedete sich. Er hatte eine weitere SMS erhalten, und sie steigerte seine
Vorahnung, dass er auf Ninas Kontaktaufnahme besser nicht reagiert hätte. Hab nen Job als Personalerin angenommen. Ein Konkurrent hat mich abgeworben, fette Gehaltserhöhung, cool, oder? Muss ich dir in Ruhe erzählen. Bin erst mal in einer Pension untergekommen, weißt du vielleicht eine Wohnung für mich? Wann zeigst du mir, was in der Stadt los ist? Lass uns mit deiner Lieblingskneipe anfangen!
Hannes meinte, beim Lesen der Nachricht ihre Stimme zu hören und die Augen glitzern zu sehen. So wie Nina eben klang und aussah, wenn sie voller Tatendrang steckte. In einer solchen Verfassung war sie nicht zu stoppen und riss einen förmlich mit. Nur wollte sich Hannes gar nicht mitreißen lassen.
Kenne leider keine freie Wohnung
, schrieb er und fügte vorsichtshalber hinzu: Meine eigene ist gerade abgebrannt, weshalb ich bei einem Freund wohne. Das mit deinem Job freut mich, ich melde mich, wenn mal mehr Luft ist.
Die Hoffnung, dass er die Sache totlaufen lassen konnte, war wohl illusorisch, aber für den Moment war Hannes nur daran gelegen, sich Zeit zu ergaunern. An sich war er einem Treffen gar nicht mal völlig abgeneigt, schließlich hatten sie sich im gegenseitigen Einvernehmen getrennt. Wenn dieser Albtraum vorbei war, würde es vielleicht sogar ganz interessant sein …
»Kommst du irgendwann zu uns rüber, oder willst du weiter dein Handy hypnotisieren?« Bens Stimme musste noch mehrere Straßen weiter zu hören sein.
Hannes schloss das SMS-Programm und erhob sich, um den Stuhl zurück zur Terrasse zu tragen. Anna stellte gerade Müslischalen und eine Milchpackung auf den Tisch, während Ben Saft einschenkte.
»Du siehst ganz schön mitgenommen aus«, sagte sie. »Mit wem hast du telefoniert?«
»Mit Isabell.« Er küsste sie.
»Hatte sie schlechte Nachrichten?«
»Nein, eher … gar keine.« Das Ergebnis der Reifenüberprüfung behielt er für sich. »Stattdessen hab ich ihr von der Spur zu den Autonomen erzählt.«
»Hoffentlich hast du ihr auch erzählt, wer diese Spur aufgetan hat.« Ben ließ sich auf ein Polster fallen. »Pluspunkte bei der Polizei könnt ich gut gebrauchen.«
»Es reicht, wenn du bei mir Pluspunkte sammelst. Wieso gibt es keine Brötchen?«
»Willst du mich …«
»Sorry, war nur der Versuch eines Scherzes. Wie habt ihr geschlafen?«
»Geht so«, antwortete Anna. »Was aber vor allem an deinem Schnarchen lag.«
»Ich schnarche nicht. Höchstens wenn ich …«
Hannes’ Handy polterte mit einem Rocksong los, schnell nahm er es in die Hand. Hoffentlich nicht schon wieder Nina, die es diesmal nicht bei einer SMS beließ, sondern ihn anrief! Erleichtert, aber auch verwundert, sah er, dass es sich bei dem Anrufer um Ole Nielsen handelte, einem Freund von Fritz, der noch immer als Fischer arbeitete. Der Mann hatte Hannes bei den Vorbereitungen für die Prüfung zum Sportbootführerschein geholfen, und seitdem liefen sie sich immer mal wieder zufällig am Hafen über den Weg. Ole hatte auch schon mehrfach mit angepackt, wenn es darum ging, den Krabbenkutter Lena
in Schuss zu halten. Das Boot hatte Hannes von Fritz geschenkt bekommen, da der frühere Kriminalhauptkommissar inhaftiert und zudem todkrank war und nicht mehr selbst in See stechen konnte.
»Ole, so früh auf?«
»Früh? Für mich ist es schon fast Mittag. Ich komme gerade vom Anleger. Du solltest herkommen und dir das selbst ansehen.«
»Was ist los?«
»Am Liegeplatz der Lena
hängen nur noch die Taue. Durchgeschnitten. Die Lena
selbst liegt abgesoffen im Hafenbecken. Muss in der Nacht passiert sein, gestern hab ich sie noch da rumschaukeln sehen. Wenn du …«
Hannes’ Hand sank mit dem Telefon nach unten. Ihm schien keine Verschnaufpause gegönnt zu sein, der Feldzug gegen ihn war um eine Episode reicher geworden. Was kam als Nächstes? Und was würde Fritz sagen, wenn er erfuhr, dass sein geliebtes Boot versenkt worden war?
Entgegen seiner Gewohnheit verzichtete Henning Federsen auf ein üppiges Frühstück. Dahinter steckte nicht die Absicht, sich mal wieder an einer Diät zu versuchen – das hatte er bisher erst einmal getan, und diese Erfahrung reichte ihm für das gesamte Leben. Manche Dinge musste man einfach akzeptieren, und er taugte nun mal nicht zum Hungerhaken. Seine Frau machte ihm keine Vorhaltungen, wozu sich also quälen? Schon als Laura ihn kennengelernt hatte, war er nicht schlank gewesen, wenn auch vom heutigen Körperumfang weit entfernt. Sie selbst hatte damals als Artistin in einem Zirkus gearbeitet und schien keine Mühe damit zu haben, ihre schlanke Taille bis ins Alter zu behalten.
Er beobachtete, wie sie ein Ananasstück aus ihrem Obstsalat auf die Gabel spießte. In Momenten wie diesen, wenn er gemeinsam mit ihr an einem warmen Sonntagmorgen das Frühstück im Garten einnahm, konnte er sein Glück kaum fassen. Laura war die Liebe seines Lebens. Schon beim ersten Aufeinandertreffen hatte er das gewusst, obwohl er sich selten zu derart emotionalen Erkenntnissen hinreißen ließ. Nur mit Mühe hatte er die professionelle Distanz wahren können, immerhin war sie die Zeugin einer Mordermittlung gewesen.
Erst als der Fall gelöst gewesen war, hatte er in einem Anfall aus Verzweiflung und Mut eine Annäherung gewagt. Gerade noch rechtzeitig, denn nur drei Tage später wäre sie mit dem Zirkus in die nächste Stadt gereist und für immer aus seinem Leben verschwunden.
»Willst du lieber Obst?« Laura streckte ihm die Gabel entgegen.
»Nein, danke.« Er rieb sich die brennenden Augen. »Ich hab mich nur erinnert, dass du früher schon an keiner Ananas vorbeigehen konntest.«
»Und ich erinnere mich, wie du mir deshalb einen Ananasring zur Verlobung über den Finger geschoben hast.« Die Lachfalten um ihre Augen vertieften sich. »Besonders romantisch war es vielleicht nicht, aber einfallsreich.«
»Und klebrig.« Bei der Erinnerung musste auch Federsen schmunzeln. »Vielleicht hab ich es nur nicht zu romantisch werden lassen, weil ich nie damit gerechnet hätte, dass du wirklich Ja
sagst.
»Wie hätte ich bei einem Ananasring Nein
sagen können?«
Er nickte, nun wieder ernst. »Das war der glücklichste Tag in meinem Leben, weißt du das?«
Sie lachte. »Du hast es mir oft genug gesagt.«
Er musterte sein unangerührtes Omelett, dann schob er den Teller von sich und sah auf. »Wie ist das bei dir? Bist du glücklich gewesen? All die Jahre … mit mir?«
»Gewesen?
Wir leben noch, falls du das übersehen haben solltest.«
»Das ist keine Antwort.«
»Spiel bei mir nicht den Polizisten.« Sie zog die Augenbrauen hoch, wirkte aber immer noch amüsiert. »Natürlich bin ich glücklich gewesen. Meistens jedenfalls. Jeder Mensch und jede Beziehung hat ihre dunklen Phasen.«
Wieder nickte er. Beide hatten früher einen drängenden Kinderwunsch gehabt, aber es war ihnen nicht vergönnt gewesen … Als es nach vielen Versuchen doch geklappt hatte, hatten sie die vierzig schon überschritten gehabt und waren völlig euphorisiert gewesen. Der Schlag in die Magengrube war bei der mit Komplikationen behafteten Geburt erfolgt. Laura war nur knapp mit dem Leben davongekommen, während man das Baby nicht hatte retten können. Seine Frau hatte sich daraufhin beharrlich allen weiteren Versuchen widersetzt, es war zur schwersten Krise ihrer Ehe gekommen. Erst Jahre später war Federsen in der Lage gewesen, das komplett eingerichtete Kinderzimmer samt der Spielsachen und Strampler an eine Hilfsorganisation zu spenden. Wirklich geheilt war diese Wunde aber nie.
Und dann der zweite Schicksalsschlag – zum fünfzigsten Geburtstag war bei Laura Multiple Sklerose diagnostiziert worden. Noch immer erinnerte sich Federsen an ihre Fassungslosigkeit, denn eigentlich lag das typische Erkrankungsalter zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Anfangs hatte es lange beschwerdefreie Phasen gegeben, dann waren die Schübe häufiger gekommen. Mittlerweile rechnete Federsen jeden Tag mit einem solchen Vorfall, der ihn jedes Mal vor Angst fast lähmte. Selbst an guten Tagen konnte man ihre Muskelschwäche kaum übersehen, obwohl Laura sie so gut wie möglich zu verbergen versuchte. Kurzzeitige Besucher konnte sie damit täuschen, ihren Mann aber nicht. Zu gut kannte er sie, und als vom letzten Schub – ausgerechnet im Urlaub vor wenigen Wochen – Lähmungen zurückgeblieben waren, hatte er einen Weinkrampf nicht unterdrücken können.
Laura hingegen nahm ihr Schicksal erstaunlich würdevoll. Selten klagte sie, und meist war sie es, die sich gegen die drohende Resignation im Hause Federsen zur Wehr setzte.
Beklommen dachte er daran, wie es wohl werden würde, wenn ihre Kraft dafür nicht mehr ausreichte. Er wusste, dass er im Präsidium als Griesgram verschrien war. Hier, in Lauras Nähe, fühlte er sich wie ein anderer Mensch. Und er verhielt sich auch wie ein anderer Mensch. Leichter und unbeschwerter. Meistens jedenfalls, denn dieser Vormittag gehörte nicht dazu. Was seiner Frau nicht entging. Langsam erhob sie sich und ging um den Tisch, um sich neben ihn zu setzen. Die Mühe war ihr anzusehen.
»Henning, was ist los?«
»Was soll los sein?«
»Du hast keinen Appetit, bist erst um drei ins Bett gekommen, hast dich nur hin und her gewälzt und bist um fünf wieder aufgestanden.«
»Es ist nichts …« Er brach ab. Laura konnte er nichts vormachen. Er drehte sich zu ihr. »Es geht um meinen jungen Mitarbeiter.«
»Der Sportpolizist, auf den du so große Stücke hältst?«
»Erzähl ihm das bloß nicht! Diese jungen Leute muss man fordern, sonst … und überhaupt …« Wieder brach er ab.
Forschend sah Laura ihn an. »Du hast seit Wochen nicht mehr von ihm gesprochen. Auf einmal hast du damit aufgehört. Ist etwas zwischen euch vorgefallen? Hast du mal wieder … Hast du es mit dem knurrigen Vorgesetzten übertrieben? Ich kenne die Geschichten über dich. Ich kann nicht verstehen, weshalb du …«
»Darum geht es jetzt nicht!« Es kam selten vor, dass er ihr über den Mund fuhr. »Außerdem hat er sich das selbst zuzuschreiben. Hat sich nicht gerade fein verhalten, obwohl ich ihn fördern wollte – und es sogar getan habe.«
»Und jetzt willst du von mir einen Ratschlag …?«
»Wie gesagt, darum geht es nicht. Wie es aussieht, will ihm jemand das Leben zur Hölle machen. Ihn vielleicht sogar
umbringen. Sein Wagen wurde manipuliert, man hat seine Wohnung abgebrannt. Dazu kommen Morddrohungen, und heute Morgen hat mich eine Mitarbeiterin informiert, dass sein Boot versenkt wurde.«
»Er hat ein Boot?«
»Das tut doch nichts zur … Laura! Scheißegal, ob er ein Boot hat oder nicht. Jetzt hat er auf jeden Fall keins mehr.«
Sie fuhr ihm mit der Hand übers schüttere Haar. »Es geht dir nah, dass er in Gefahr ist. Das kann ich verstehen.«
»Es geht mir nicht nur nah, es macht mich fuchsteufelswild! Irgendjemand will sich an ihm rächen, das liegt auf der Hand.«
»Dann finde denjenigen.«
»Das hab ich vor. Nur … es fällt nicht ganz in meine Zuständigkeit. Noch nicht.« Er lachte bitter. »Man hat mich nur hinzugezogen, weil ich sein Vorgesetzter bin und eventuell mehr über die Hintergründe wissen könnte.«
»Es stört dich also, dass du nicht selbst ermitteln kannst?«
Seine Finger trommelten auf der Tischplatte. »Eigentlich nicht. Ich stoße sogar ins selbe Horn, da man mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass die Bedrohung so ernst zu nehmend ist, dass doch besser die Mordkommission übernehmen sollte.«
»Das versteh ich nicht.«
»Der Täter ist gut über Hannes informiert.« Federsen griff nach ihrer Hand. »Sogar so gut, dass mich das misstrauisch macht. Nicht auszuschließen, dass er einen Helfer hat. Bei uns.«
»Ein Polizist, der einen Kollegen ans Messer liefert?«
»Was glaubst du denn? Dass bei uns nur Heilige rumlaufen? Denk an Fritz …«
»Das kannst du nicht vergleichen! Er hätte nie seine Kollegen verraten oder gar an ihrer Ermordung mitgewirkt.«
»Deine gute Meinung über ihn hab ich nie verstanden. Wie auch immer: Ich halte es für keine schlechte Idee, wenn
alle denken, dass sich der Kommissar Federsen nicht allzu viele Gedanken über diese Sache macht.«
»Was er aber tut.«
Schief grinste er sie an. »Nicht nur das. Er geht diversen Verdachtsmomenten nach. Und einer davon ist besonders stark. Heute Nacht hab ich eine Liste mit potenziellen Kandidaten aufgestellt, und eine Person kommt besonders schlecht weg. Nur … mir fehlt der richtige Hebel. Und im Moment geht der Täter nicht gerade langsam vor.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Wenn dein Verdacht stimmt, sollten alle Kräfte auf diese Theorie gelenkt werden. Was, wenn deine Kollegen in eine falsche Richtung laufen und du nicht schnell genug in die andere rennst?«
»Sollte das so sein, werde ich eingreifen. Im Moment ist das aber nicht der Fall. Wir zäumen das Pferd nur von verschiedenen Seiten auf, was keine schlechte Vorgehensweise ist. Während die anderen sich dem Kopf widmen und sich über die sichtbaren Auswirkungen der Attacken nach innen zum Kern vorarbeiten wollen, zwänge ich mich durch den Hintern rein.«
»Dann hast du die unappetitlichere Aufgabe.«
»Wie wahr.« Düster fixierte er eine Amsel, die gerade auf seinen Grill kotete. »Und dummerweise weiß ich noch nicht, wie ich diese Aufgabe unauffällig anpacken kann. Denn wenn mir das nicht gelingt, könnte Hannes sehr schnell ein glasklarer Fall für die Mordkommission werden.«
Die Straßen zum offenen Meer hin waren an diesem Sonntag von langen Blechkolonnen verstopft, das Vorwärtskommen zog sich in die Länge. Die Touristensaison hatte ihren Höhepunkt erreicht, daneben lockten die hochsommerlichen Temperaturen aber auch die örtliche Bevölkerung an die Ostseestrände. Fuhren Anna und Hannes normalerweise in Hochstimmung zu
dem Hafen vor den Toren der Stadt hinaus, so herrschte an diesem Sonntag bedrücktes Schweigen im Wagen. Socke
lag auf der Rückbank und verschlief den Großteil des Staus, sein Herrchen befand sich inzwischen auf dem Weg zu seiner Mutter. Nur mit Mühe war Ben davon abzubringen gewesen, seine Reise abzublasen und stattdessen Anna und Hannes zu unterstützen.
Als rechter Hand eine schmale Nebenstraße abging, wurde Hannes des Zuckeltempos überdrüssig. Von einer zurückliegenden Ermittlung wusste er, dass die Strecke zwar einige Kilometer länger, dafür aber kaum befahren war. Sie führte über hügeliges Land mit weiten Feldern, die von Buschreihen und Bäumen aufgelockert wurden. Hin und wieder zeigte sich das blaue Band der Ostsee, auf dem viele Segel- und Motorboote als Farbtupfer aufleuchteten. Anna warf Hannes einen mahnenden Blick zu, als er mit hohem Tempo über die unübersichtliche und zunehmend holprigere Straße jagte. Socke
schien es weniger zu beeindrucken, er hob den Kopf und gähnte. Als hinter einer Biegung ein Mähdrescher auftauchte, schlug Hannes aufs Lenkrad und bremste scharf.
»Kann dieser Bauer nicht einfach einen freien Sonntag genießen?«
Von der Rückbank erklang ein Jaulen. Anna drehte sich um und tätschelte Socke
den Kopf.
»Ist wohl eher unser Glück, dass dieser Bauer so fleißig ist. Die Lena
taucht nicht wieder auf, wenn du uns gegen einen Baum fährst. Damit nimmst du dem Täter nur die Arbeit ab. Denk dran, dass hinten nur ein Reserverad drauf ist!«
Hannes ließ das Fenster herunter und atmete tief durch. »Du hast recht. Ist Socke
was passiert?«
»Nein, aber er hat sich erschreckt und ist vom Sitz geflogen. Kein guter Auftakt als Hundesitter.«
»Eigentlich hätte er ja in den Kofferraum gehört, du wolltest ihn hier vorn haben.«
»Weil er Autofahren nicht gewohnt ist und sich bestimmt geängstigt hätte.«
»Anna, die Hundeversteherin.« Liebevoll sah er sie an. »Wie gut, dass vor allem du dich in den nächsten Tagen um ihn kümmern wirst.«
»Stimmt. Und so gibt es jemanden, der auf mich aufpasst.«
Darauf wusste Hannes nichts zu erwidern. Es setzte ihm stark zu, dass Anna in diese Sache mit hineingezogen wurde. So gesehen war es vielleicht sinnvoll, wenn sie in nächster Zeit nicht zu viel zusammen waren. Eine Garantie für Annas körperliche Unversehrtheit war das allerdings auch nicht.
»Du könntest …«, setzte er an. »Es wäre besser, wenn du in den nächsten Tagen nicht in meiner Nähe bist. Kannst du nicht deinen Bruder oder deinen Vater besuchen? Oder bei Tine unterkommen?«
»Blödsinn! So schlimm das alles ist, es geht nur um Sachbeschädigungen. Man will dir Angst machen. Wenn erst mal geklärt ist, dass du bei den Ausschreitungen keine Rolle gespielt hast, wird sich alles beruhigen.«
»Je nachdem, wer dahintersteckt. Außerdem … die Spurensicherung geht davon aus, dass der Reifen manipuliert wurde. Und das ist nicht bloß Sachbeschädigung, sondern geplante Körperverletzung oder …«
»Ein Mordversuch. Wieso hast du mir das nicht gesagt?«
»Weil ich dich nicht noch mehr beunruhigen wollte.«
Sie schnaubte. »Hör auf damit, mir solche Infos vorzuenthalten! Ich will genauso wissen wie du, woran wir sind.«
»Okay, tut mir leid. Aber was meinst du zu meinem Vorschlag?«
Anna schwieg und sah aus dem Beifahrerfenster. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Wenn überhaupt, kommen nur mein Bruder und Tine infrage. Bei meinem Vater stehe ich
maximal einen Nachmittag durch. Nur … es gefällt mir nicht, dich allein zu lassen.«
»Du willst mich also beschützen. Du bist wirklich die tollste Freundin, die man sich wünschen kann.« Er lehnte sich zu ihr und küsste sie auf die Schläfe.
»Die tollste zukünftige Ehefrau«, korrigierte sie ihn. »Wobei mir einfällt, dass für die Hochzeit noch einiges vorzubereiten ist. Das könnte ich natürlich in aller Ruhe bei Tine …«
»Dann lass uns das so machen«, forcierte Hannes den Stimmungswechsel. Der Gedanke, Anna aus der Schusslinie zu bringen, erleichterte ihn. Natürlich sorgte er sich auch um sein eigenes Wohlergehen, aber die Angst um Anna verlieh allem eine noch bedrohlichere Dimension.
Eine Weile diskutierten sie das Für und Wider, wobei Hannes bemüht war, seiner Freundin jedes schlechte Gewissen auszureden und an ihre Vernunft zu appellieren. Als der Mähdrescher endlich auf die Zufahrt eines Gehöfts einbog, gab er wieder Gas, diesmal zurückhaltender. Die Straße schlängelte sich durch grüne Wiesen bergab, dann ging sie in eine Allee über, bevor sie wieder in die stark befahrene Landstraße mündete. Von hier an dauerte es noch einmal fünfzehn Minuten, bis Hannes den Motor abstellen konnte. Der Parkplatz des Hafens war bereits überfüllt, sodass sie die letzten hundert Meter zu Fuß gehen mussten.
Kaum ein Boot lag noch an seinem Liegeplatz, und schon aus der Entfernung war die Stelle zu erkennen, an der eigentlich der braun-weiß gestrichene Rumpf der Lena
im Wasser hätte dümpeln müssen. Mehrere Personen hielten sich auf dem Steg auf. Nachdem Hannes sie sofort nach Oles Anruf informiert hatte, waren von Isabell alle notwendigen Maßnahmen ergriffen worden. Nicht nur die Spurensicherung war schon vor Ort, ebenso waren Polizeitaucher anwesend, die der Ursache auf den Grund gehen sollten. Schweigend stand Hannes schließlich auf
den Planken des Steges und betrachtete die Luftblasen, die von den Tauchern zur Wasseroberfläche aufstiegen.
Die Sonne brachte das Wasser zum Glitzern, sodass er die Augen zusammenkneifen musste, um den Umriss des Kutters zu erahnen. Bilder glitten durch seinen Kopf und lösten das Bedürfnis aus, mehrere Male zu schlucken und angestrengt zu blinzeln. Er erinnerte sich, wie er an Weihnachten mit Anna rausgeschippert war, welche wilden Ausfahrten es mit seinen Freunden gegeben hatte, wie viel Mühe sie erst vor wenigen Wochen in die Instandhaltung gesteckt hatten und – wie der ursprüngliche Besitzer des zu einem Freizeitboot umgebauten Krabbenkutters seine vermutlich letzte Ausfahrt unternommen hatte. Genau wie Fritz hing mittlerweile auch Hannes an dem Boot, die Lena
war eine Art mobiler Sehnsuchtsort für ihn geworden. An ihrem Steuer hatte er sich immer frei und abgeschottet zugleich gefühlt. Vor allem, wenn die Niederungen der Ermittlungsarbeit allzu dunkle Schatten auf sein Seelenleben geworfen hatten.
Der Täter verfügte über ein gutes Händchen. Noch härter hätte er Hannes nur treffen können, wenn er ihm sein Kanu genommen hätte. Er spürte, dass Anna nach seiner Hand griff und sie sacht drückte. Ihm widerstrebte die Vorstellung, die nächsten Tage auf Abstand zu ihr zu gehen. Ohne sie und Socke
würde es in Bens Gartenhaus einsam werden. Er zog sie an sich und legte sein Kinn auf ihre Haare. Isabell hatte ihn beobachtet, sah aber schnell zur Seite.
Im Wasser brodelte es, dann tauchte ein Kopf auf. Die Taucherin spuckte das Atemgerät aus und zog sich die Maske vom Kopf. Dann ließ sie sich von zwei Kollegen auf den Steg hieven.
»Klare Sache«, erklärte sie. »Ich bin durch die Luke in den Innenbereich geschwommen, das Schloss war aufgebrochen
worden. Da drinnen sieht es wie in einem Wohnzimmer aus, sehr gemütlich.«
»Danke«, sagte Hannes.
Sie sah zu ihm auf und wirkte irritiert. »Wer sind Sie?«
»Der Besitzer der Lena
.«
»Ach … hätte ich wissen müssen, bei den …« Sie brach ab, aber Hannes ahnte, dass sie auf seine zweifarbigen Augen anspielte.
»Was ist eine klare Sache?«, fragte er.
»Dass der Rumpf mit einer Axt bearbeitet wurde. Das Loch ist gar nicht mal besonders groß, man kann erkennen, dass häufig zugeschlagen wurde. Sieht nicht nach einem Könner aus.«
»Passt«, meinte Isabell. »Auch die Taue der Lena
wurden laut Spurensicherung mit einer Axt durchtrennt.«
»Haben die sonst noch irgendwas rausgefunden?«
»Allerdings. Man fand das hier.« Sie präsentierte ihm einen Zettel, der in einer Plastiktüte steckte. »War an diesen Poller da geklebt. Er steckte in einem Briefumschlag mit deinem Namen.«
»Was steht drauf?«
»Lies selbst.« Sie hielt ihm die Tüte hin.
Auf dem Zettel standen nur wenige Wörter. In Druckbuchstaben, offenbar mit einem PC geschrieben. Ich werde dir alles nehmen. Erst ganz am Ende auch dein Leben.
Hannes konnte nicht verhindern, dass Anna ebenfalls einen Blick auf das Papier warf. Ihre Stimme war belegt.
»Verdammt, Hannes … wer … wieso hasst dich jemand so?«
Wortlos gab er den Zettel wieder an Isabell zurück. Auf diese Frage wusste er keine Antwort und fühlte sich nur imstande, die Schultern zu heben. Hätte man sich an Federsen rächen wollen, wäre das ja noch nachzuvollziehen. Aber an ihm?
Er hatte doch immer nur seinen Job gemacht! Noch dazu als Teil eines Ermittlungsteams, und trotzdem galt die Rache ausschließlich ihm. Wieder grübelte er vergeblich darüber nach, ob sein Widersacher außerhalb der Arbeit zu verorten sein könnte. Vielleicht sollte er sich doch mal mit Nina treffen, früher war sein Leben turbulenter gewesen als heute, und sie hatten sich über wirklich alles ausgetauscht. Diese intensive Nähe war wohl am Ende einer der Hauptgründe für das Scheitern der Beziehung gewesen, heute konnte sie sich als Glücksfall erweisen. Vielleicht fiel Nina etwas ein, das er selbst verdrängt hatte. Für besonders wahrscheinlich hielt er es jedoch nicht, da er eigentlich nie ein echter Heißsporn gewesen war.
Bislang hatte er noch nicht auf ihre letzte Nachricht reagiert, in der sie neugierig nachgefragt hatte, wie seine Wohnung hatte abbrennen können. Der Ernst der Lage war ihr natürlich nicht bewusst, sonst hätte sie wohl nicht mit einem Smiley darauf hingewiesen, dass er schon früher verschusselt und ohne sie ziemlich aufgeschmissen gewesen sei. Hannes erinnerte sich, wie ihn entsprechende Predigten und Hinweise anfangs amüsiert hatten, ihm aber irgendwann heftig auf die Nerven gegangen waren. Zunehmend hatte er sich in ihrer Gegenwart wie ein kleiner Junge gefühlt.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus den Gedanken. Schon an dem Umfang der schwieligen Pranken ahnte er, wer sich unbemerkt von hinten genähert hatte. Als Hannes sich herumdrehte, wirkten Oles Augen sorgenvoll. Der Mittsechziger hatte ein zerfurchtes Gesicht, dem man den häufigen Kontakt mit Wind und Salzwasser ansah.
»Was hast du dir denn für Feinde gemacht?«, kam der Fischer sofort zur Sache. »Dachte heute früh zuerst, dass du rausgefahren bist, als ich die Lena
nicht gesehen hab. Erst später entdeckte ich die durchgeschnittenen Taue.«
»Die durchgehackten Taue«, korrigierte Hannes automatisch. »Sie wurden mit einer Axt durchtrennt. Wahrscheinlich nachdem der Kiel damit bearbeitet worden war.«
Ole kratzte sich unter seinem Vollbart. »Ergibt Sinn. Fiete hat was gesehen.«
»Fiete?«
»Mein Enkel.«
»Ich weiß, dass Fiete dein Enkel ist. Was hat er gesehen? Und wann?«
»Er ist ganz verschossen in das Teleskop, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe.« Oles Mund verzog sich zu einem Schmunzeln und erlaubte so einen Blick auf eine beachtliche Zahnlücke. »Dass man die Sterne mitten in der Nacht am besten sehen kann, hat er auch schon rausgefunden. Schleicht sich immer wieder aus dem Bett …«
»Ole! Was hat er gesehen?«
»Sterne, aber auch einen Menschen. Wann das war, weiß er nicht. Muss aber gewesen sein, als ich schon im Bett lag. Also nach elf. Er sah, wie jemand vom Parkplatz die Straße hochging. Mit einem Rucksack.«
»Da kann die Axt drin gewesen sein! Wie sah er aus?«
»Es war stockdunkel, und Fiete ist erst fünf. Er kann ihn nicht beschreiben. Sah nur noch, wie der Typ irgendwas ins Gebüsch warf und auf einen Motorroller stieg. Dann verschwand …«
»Auf einen Motorroller?« Hannes packte Ole am Oberarm. »War der rot?«
»Es war Nacht«, entgegnete Ole.
»Er hat etwas weggeworfen?«, mischte sich Isabell ein. »Wo denn?«
»Da müsst ihr mit Fiete sprechen. Hoffentlich erinnert er sich …«
»Okay, das erledigen wir sofort!« Hannes schlug Ole gegen die Brust. »Endlich haben wir was Konkretes. Wie gut, dass du Fiete das Teleskop geschenkt hast!«
»Sieht meine Tochter anders. Zum Glück weiß sie nicht, wie oft Fiete nachts …«
Hannes hörte nicht weiter zu, sondern lief schon über den Steg zurück in Richtung Land. Also war ihm der rote Motorroller doch nicht ohne Grund aufgefallen! Hoffentlich hatte Fiete sich nicht getäuscht und der Kerl hatte tatsächlich etwas weggeworfen. Was natürlich fahrlässig gewesen wäre und insofern nicht zur bisherigen Vorgehensweise passte. Wenn es sich um denselben Fahrer handelte, den er am Vortag im Rückspiegel beobachtet hatte, dann konkretisierte sich zwar einerseits die Spur, andererseits hätte dies auch eine Schattenseite. Schließlich war ein derartiges Gefährt am Vortag auch an Bens Haus vorbeigeknattert. Der Täter wüsste also, wo er und Anna sich zurzeit aufhielten.
Im Gegensatz zu seiner Frau konnte Marcel Bartel mit Hamburg nichts anfangen. Eigentlich traf das aber auf alle Metropolen zu, genauso wenig hätte man ihn zu einem Umzug nach Frankfurt, München oder gar Berlin bewegen können. Seit er vom Kriminaloberkommissar zum Kriminalhauptkommissar befördert worden war, spielten derartige Überlegungen ohnehin keine Rolle mehr. Er war da angekommen, wo er immer hingewollt hatte – und das mit zweiundvierzig Jahren. Wenn er an die letzten Monate zurückdachte, ging es auch in seiner Heimatstadt nicht gerade beschaulich zu, aber im Vergleich zu Hamburg erschien sie ihm wie eine Oase der Friedfertigkeit. Damit bot sie zugleich bessere Voraussetzungen, den Beruf mit dem Familienleben einigermaßen unter einen Hut zu bekommen, selbst wenn seine beiden Söhne dies nicht ganz so sahen.
Dass er sich dennoch über die Autobahn auf den Weg in die benachbarte Hansestadt begeben hatte, lag an seinem künftigen Mitarbeiter Johannes Niehaus. Sie hatten erst einmal im Team miteinander gearbeitet, als sie vor Monaten im Umfeld einer Freikirche mit religiösem Fanatismus konfrontiert worden waren. Damals war Hannes noch eher unbeholfen aufgetreten, sein Talent war Marcel aber nicht entgangen. Folgerichtig hatte er dessen weiteren Werdegang verfolgt und sich schließlich dafür stark gemacht, dass der Sportpolizist nach den Olympischen Spielen als Vollzeitermittler in seinem Team spielte. Sein ohnehin angeknackstes Verhältnis zu Henning Federsen war daraufhin zwar nicht gerade besser geworden, aber damit konnte er leben.
Größere Sorgen bereitete ihm der Feldzug gegen Hannes, den er so schnell wie möglich zu beenden beabsichtigte. Als Begleitperson hatte er Per ausgewählt. Per war es schließlich auch gewesen, der die Betreiber des Internetforums ausfindig gemacht hatte, in dem der Hass gegen Hannes seine Blüten trieb. Anders als erwartet führte sie das Navi nicht in ein heruntergekommenes Viertel, sondern nach Harvestehude an der Außenalster. Der Stadtteil gehörte zu den wohlhabendsten in Hamburg. Vor einem herrschaftlichen Wohnhaus warteten bereits die örtlichen Kollegen auf sie.
»Hoffentlich ist diese Johanna Matthes überhaupt zu Hause«, meinte Per, als Marcel den Motor abstellte. »Bei dem Wetter liegt halb Hamburg an der Elbe oder paddelt auf der Alster. Hätte ich grad auch mehr Lust zu, als eine linke Aktivistin zu verhören.«
Marcel nickte nur. Es fiel ihm schwer, sich Per in einer Badehose oder in einem Paddelboot vorzustellen. Der Einunddreißigjährige sah selbst im Sommer so blass und abgemagert aus, als würde er von früh bis spät vor Konsolen sitzen.
Dass man ihm damit Unrecht tat, wusste Marcel mittlerweile, aber man brauchte eine Weile, um hinter der introvertierten Fassade Pers eigentliche Talente zu entdecken.
Marcel begrüßte die Hamburger Kollegen mit Handschlag und deutete auf das Gebäude. »Nicht gerade der Wohnsitz, den ich erwartet hätte.«
Der ältere der beiden Polizisten winkte ab. »Gibt einige Kinder aus gutbürgerlichem Haus, die hier in der linken Szene aktiv sind. Johanna Matthes ist keine Unbekannte für uns, sondern eine der prägendsten Figuren. Glücklicherweise kann man mit der aber durchaus reden.«
»Ist sie zu Hause?«
»Ja, wir haben uns angekündigt. Allerdings unter einem harmlosen Vorwand.«
»Na dann …« Marcel nickte auffordernd. Er wollte keine Zeit verlieren, sondern Hannes so schnell wie möglich aus der Schusslinie bringen. Im Anschluss galt es dann herauszufinden, wer für die Anschuldigungen verantwortlich war.
Johanna Matthes war eine einundzwanzigjährige Studentin, der man im Gegensatz zum Wohnhaus und der Einrichtung ihrer Eltern den politischen Hintergrund sofort ansah. Die Haare hingen links lang bis auf die Schultern herab und waren knallrot gefärbt, auf der anderen Seite waren sie bis auf wenige Millimeter kahl geschoren. Aus dem Kragen des T-Shirts schien sich ein Panther in Form eines Tattoos nach oben zu schieben, zumindest ordnete Marcel die Pranke diesem Raubtier zu. Die Ohren waren fast vollständig mit Piercings versehen, und dass sie auch ihre Zunge nicht verschont hatte, sah Marcel, als sie sich damit über die Lippen fuhr.
»Weshalb kommt ihr zu viert?«
»Weil du meinen Kollegen bei einer Angelegenheit helfen musst«, erklärte der jüngere der beiden Hamburger Polizisten. »Lässt du uns rein?«
»Von mir aus. Fallt nicht über die Kartons.«
Sie ging durch einen vollgestellten Flur in ein Wohnzimmer, das im viktorianischen Stil eingerichtet war.
»Wird hier gerade entrümpelt?«, fragte Marcel, um das Schweigen zu brechen.
»Nee, aber ich zieh aus. Ins Schanzenviertel zu einer Freundin, hier ist es nicht mehr auszuhalten. Also Mark …«, sie zeigte auf den jüngeren Polizisten, »du hast doch gesagt, dass du bei der afghanischen Familie vermitteln könntest. Wie soll das aussehen? Die Abschiebung ist für nächsten Mittwoch angesetzt.«
»Wir wollen vor allem eine Eskalation vermeiden«, erwiderte er. »Beim letzten Mal haben deine Leute den halben Flughafen zerlegt.«
»Das waren nicht meine Leute, die kamen von außerhalb.«
»Johanna … wir wissen beide, dass das nicht stimmt.«
Sie verschränkte die Arme, wirkte aber weder aggressiv noch eingeschüchtert. Eher belustigt. Marcel war sich nicht sicher, aber er hätte schwören können, dass es zwischen den beiden eine … weitere Ebene gab – auch wenn sie sich bemühten, sich das nicht anmerken zu lassen. Ob diese Aktivistin im Geheimen einen Polizisten vögelte? Ihm wäre es egal, und für den eigentlichen Grund dieses Hausbesuchs war es völlig irrelevant.
»Vielleicht können wir erst mal die andere Angelegenheit besprechen?«, brachte er sich wieder ins Spiel.
Sie löste ihren Blick von dem jungen Polizisten und sah ihn an. »Wer sind Sie überhaupt?«
Er zog seinen Dienstausweis hervor und legte ihn auf den Tisch. »Marcel Bartel von der Mordkommission. Das hier ist mein Kollege Per Hoffmann.«
Sie beugte sich über den Ausweis. »Nicht aus Hamburg. Weshalb will ein Mordermittler mit mir reden?«
Marcel schilderte den Hintergrund in knappen Sätzen. Mit jeder Minute nahm ihre Reserviertheit zu, sie unterbrach ihn aber nicht. Als er geendet hatte, schüttelte sie den Kopf.
»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Es gibt mehrere Zeugen, die diesen Johannes beobachtet haben. An verschiedenen Orten und zu verschiedenen …«
»Von wegen!« Marcel knallte einen Zettel auf den Tisch. »Zum einen haben sich diese Zeugen erst zu Wort gemeldet, als mein Kollege schon im Scheinwerferlicht stand. Müssen gar keine absichtlichen Falschaussagen gewesen sein. Erinnerungen sind beeinflussbar, das kennen wir aus unseren Ermittlungen sehr gut. Zum anderen – was wesentlich relevanter ist, um Ihre Zweifel zu beseitigen – widersprechen sich diese Aussagen.«
»Inwiefern?«
»Insofern, dass mein Kollege kaum an mehreren Orten gleichzeitig gewesen sein kann. Hier, sehen Sie es sich an. Ich habe alle Anschuldigungen aufgeschrieben, die roten Kreise zeigen die zeitlichen Überschneidungen.«
Stirnrunzelnd nahm sie das Papier in die Hand. »Selbst wenn nicht alle Beschuldigungen stimmen …«
»… bleibt immer noch der Fakt, dass er zum Zeitpunkt des Wirtschaftsgipfels dienstlich in Schweden und nicht in Hamburg war. Hätte auch gar keinen Sinn gemacht, da Mordermittler nicht bei derartigen Ereignissen eingesetzt werden. Hier ist eine Kopie seines Dienstausweises.«
»Wir legen das alles hier so offen, weil wir auf deine Kooperation setzen«, ergänzte der junge Polizist.
»Ich verstehe nicht, was ich da für eine Rolle spiele.«
»Du betreibst das Forum …«
»Klar, aber nicht allein. Außerdem hab ich mit dem Inhalt nichts zu tun. Zensur gibt’s bei uns nicht.«
»Das hat überhaupt nichts mit Zensur zu tun«, brauste Marcel auf und ignorierte die mahnenden Blicke der Kollegen.
Normalerweise neigte er im Unterschied zu Federsen nicht zu Ausbrüchen, aber jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen. »Das Leben dieses jungen Mannes steht gerade auf dem Spiel!«
»Jetzt übertreiben Sie nicht. Selbst wenn einige heftige Worte gewählt …«
»Heftige Worte? Da waren Morddrohungen dabei.«
»Im Eifer des Gefechts schreibt man so was schon mal. Aber …«
»Und wenn es nicht beim Schreiben bleibt?« Unbehaglich spürte Marcel, dass sich Nasenbluten ankündigte. In stressigen Situationen kam das häufig vor, sodass er sich mühsam zügelte. »Hören Sie: Die Wohnung dieses Mannes wurde angezündet, sein Auto manipuliert, sodass der Reifen auf der Autobahn geplatzt ist, und letzte Nacht wurde auch noch sein Boot versenkt. Was kommt als Nächstes?«
Sie blieb störrisch. »Da steckt niemand von uns dahinter.«
Erstmals brachte sich Per ein. »Aber jemand benutzt Sie und Ihre Mitstreiter. Diese Falschinformation wurde absichtlich lanciert, damit sich andere die Finger schmutzig machen. Hannes hat mehrere Mörder geschnappt, da waren Leute darunter, von denen auch Sie nicht viel halten dürften. Nazis zum Beispiel.«
Anerkennend warf ihm Marcel einen schnellen Seitenblick zu. Per hatte genau die richtige Taktik gewählt, das war offensichtlich. Johanna spielte mit den Fingern an ihren Piercings herum und musterte Per, als wolle sie einschätzen, ob dieser merkwürdig aussehende Ermittler ihr Vertrauen verdiente.
»Okay«, sagte sie dann. »Wir haben uns eh schon gewundert, wo die Flugblätter herkamen. Keiner hatte eine Ahnung, auf einmal lagen sie da. Wenn uns jemand für seine Zwecke missbraucht … wegen so was brauchen wir keine zusätzlichen Probleme mit euch. Wir können … wir stellen das im Forum klar.«
»Das reicht aber nicht«, erwiderte Marcel. »Wir müssen wissen, wer diese Posts verfasst hat.«
»Das geht zu weit. Ich hab schon gesagt, dass wir keine Leute umbringen.«
»Verdammt, man kann doch in niemanden hineinsehen!«, brauste Marcel auf. »Außerdem ist auch Körperverletzung oder Sachbeschädigung nicht akzeptabel!«
Johanna stand auf. »Mann, ich versteh euch ja. Tut mir auch leid, was eurem Kollegen da grad passiert. Aber wie soll ich das machen? Wenn ich euch Namen gebe, dann … dann bin ich für die anderen eine Verräterin. Es sehen eh schon viele kritisch, dass ich zu vermitteln versuche und mit Vertrauensleuten der Polizei rede! Davon abgesehen weiß ich gar nicht, wer hinter jedem Nickname steckt. Man kann sich anonym im Forum registrieren. Es braucht nur eine funktionierende E-Mail-Adresse.«
»IP-Adressen helfen uns auch.« Per erhob sich ebenfalls und trat neben sie. »Am dringendsten müssen wir die Identität von demjenigen herausfinden, der das erste Posting gemacht hat. Um die Trittbrettfahrer können wir uns danach kümmern.«
»Sie meinen joshi
.«
»Er ist Ihnen also bekannt«, schlussfolgerte Marcel.
»Nein, aber er ist mir aufgefallen. Weil er oder sie vorher noch nie was im Forum geschrieben hat. Registrierte sich und ließ dann diese Bombe platzen. Da waren aber die Flugblätter schon in der Welt, deshalb hab ich nicht an seiner Darstellung gezweifelt.«
Jetzt stand auch Marcel auf. »Per, du kümmerst dich mit Frau Matthes darum, die Infos über joshi
herauszufinden, die wir benötigen. Welche auch immer das sind, und wie auch immer ihr das anstellt. Dann sorgst du dafür, dass sofort eine Gegendarstellung in das Forum kommt. Und zwar so auffällig, dass jeder sie sieht. Wir drei«, er drehte sich zu den Hamburger Kollegen um, »sollten in der Zwischenzeit zu
dem Versammlungszentrum fahren, wo die Flugblätter ausgelegt wurden. Alle, die dort noch rumliegen, kassieren wir ein. Außerdem hängen wir eine Klarstellung an die Wände.«
»Mhm …«, der ältere Polizist wiegte den Kopf. »Einfach reinmarschieren, Flugblätter einkassieren und eigene auslegen … dürfte nicht so gut ankommen.«
»Dürfte nicht so gut ankommen? Ist mir völlig egal, wie das ankommt!«
»Waren Sie schon mal in dieser Szene unterwegs?«
»Nein.«
»Wir schon. Täglich. Deshalb wurden wir Ihnen an die Seite gestellt. Wenn wir nicht Wasserwerfer als Begleitschutz anfordern wollen, sollten wir gemäßigter vorgehen und nicht alle gleich vor den Kopf stoßen. Wir wollen schließlich, dass man uns glaubt
und nicht andere Absichten unterstellt.«
»Ich regle das«, mischte sich Johanna ein. »Um diese Uhrzeit ist eh nicht viel los, aber ich komme besser mit und erklär, worum es geht.«
Marcel schloss kurz die Augen, dann nickte er. »Von mir aus. Aber zuerst kümmern Sie sich um diesen joshi
und die Gegendarstellung im Forum. Mein Kollege hat dafür schon einen Text vorbereitet. Am besten schicken Sie zusätzlich eine Rundmail, sicher ist sicher. Per, sieh zu, dass das so schnell wie möglich passiert!«
Per nickte und folgte Johanna aus dem Zimmer. Marcel ließ sich wieder zurück in den Sessel sinken. Nur kurz lauschte er dem Ticken der Wanduhr, dann überbrückte er die Wartezeit mit einem Anruf bei Hannes, um ihm von den anstehenden Maßnahmen zu berichten. Zudem verabredeten sie sich für den Nachmittag, um sämtliche Mordermittlungen, an denen Hannes beteiligt war, mit Blick auf mögliche Drahtzieher durchzusprechen. Als Hannes ihm berichtete, was in einem
Busch nahe des Hafengeländes gefunden worden war, schloss Marcel erneut die Augen und stöhnte. Als er die Augen wieder öffnete, erschien gerade Per im Türrahmen. Triumphierend hob er den Daumen, sah aber nervös aus. Als er berichtete, wer sich hinter dem Pseudonym joshi
verbarg, wusste Marcel auch weshalb.