KAPITEL
4
Am Nachmittag sah die Welt für Hannes nicht mehr ganz so düster aus, obwohl der Schock über die gesunkene Lena
noch nicht vollends abgeflaut war. Es beruhigte ihn jedoch, dass mit Marcel ein besonnener und zugleich erfahrener Kommissar die Ermittlungsarbeit übernommen hatte und gleich zur Tat geschritten war. Es kam Struktur in die Ermittlung, und der telefonisch aus Hamburg gemeldete Zwischenstand stärkte die Hoffnung, dass man das Feuer in den autonomen Kreisen würde austreten können. Offen blieb nur, inwieweit die Flammen schon um sich gegriffen und weitere Brandnester geschaffen hatten – und wer sie überhaupt initial entzündet hatte.
Hannes sah auf die Uhr. In einer Stunde würde er sich mit Marcel treffen, um diese entscheidende Frage weiter zu vertiefen. Dabei musste man auch den Fund einordnen, der ihnen am Vormittag im Hafen geglückt war. Oles Enkel Fiete hatte vor Aufregung genauso rote Ohren wie Hannes gehabt, als sie ihn zu seiner nächtlichen Beobachtung befragt hatten. Dass er ein wichtiger Zeuge für die Polizei war, dürfte den Fünfjährigen noch lange mit Stolz erfüllen. Die Person hatte er zwar nicht näher beschreiben können, sich dafür aber die Stelle gemerkt, an der sie auf den Motorroller gestiegen war. Ganz in der Nähe gab
es nämlich einen Fuchsbau, und er hatte sich Sorgen gemacht, dass der Unbekannte die Tiere erschrecken könnte.
Was Hannes mehr als nur erschreckt hatte, war von der Spurensicherung zehn Minuten später aus dem Dickicht gezogen worden. Auf den ersten Blick war es ein unscheinbarer Gegenstand gewesen. Flach, viereckig und von der Größe einer Postkarte. Drehte man ihn aber um, präsentierte er sich in einem anderen Licht. Auf der Vorderseite war das Glas zerbrochen, doch das dahintersteckende Foto war unversehrt geblieben. Es zeigte Anna, wie sie dem Betrachter in Großaufnahme entgegenlächelte. So wie sie es aus dem Bilderrahmen schon seit Monaten tat – allerdings eigentlich im Steuerhaus der Lena
. Hannes hatte es darin kurz nach Weihnachten angebracht. Anna sei so eine Art Schutzpatronin für den Kutter, hatte er ihr weismachen wollen.
Dass nun eher sie es war, die Schutz benötigen könnte, nagte nicht nur an seinem, sondern natürlich auch an ihrem Nervenkostüm. Wenn es ein Gutes an der Sache gab, dann war es die Erhöhung ihrer Bereitschaft, für die nächsten Tage von der Bildfläche zu verschwinden. Da ihre Freundin Tine allerdings gerade mit ihrem neuen Freund zusammengezogen war, hatten sie sich ein alternatives Ausweichquartier überlegt. Eigentlich war Elke eher Hannes’ Freundin – als sie aber von der bedrohlichen Situation erfahren hatte, war sie sofort bereit gewesen, Anna bei sich aufzunehmen.
Ob dies überhaupt nötig war? Ohne Grund hatte der Unbekannte ihr Foto sicher nicht an sich genommen. Wieso hatte er es dann aber weggeworfen? Der Täter musste Handschuhe getragen haben, denn es hatten sich nur Hannes’ Fingerabdrücke auf dem Rahmen befunden. Ein Risiko wollte Hannes auf keinen Fall eingehen. Ich werde dir alles nehmen
, hatte auf dem Zettel gestanden. Alles
konnte auch seine
Freundin einschließen. Und ebenso seine Eltern und seine Schwester samt ihrem Sohn.
Diese Befürchtung hatte schließlich doch dazu geführt, dass er sich bei seiner Familie gemeldet und sie um Vorsicht gebeten hatte. Erwartungsgemäß hatte vor allem seine Mutter schockiert reagiert. Sie schien sich allerdings weniger Sorgen um sich als um ihren Sohn zu machen.
»Kann man dir keinen Polizeischutz geben?«
»Mama, ich bin selbst Polizist!«
»Aber kein Spezialist für so
etwas!«
Da hatte er ihr nicht widersprechen können. Nur mit Mühe hatte er sie davon abhalten können, sich sofort auf den Weg zu machen, um ihn zu unterstützen. Dass sie eher eine zusätzliche Belastung als eine Hilfe sein würde, hatte ihr erst Hannes’ Vater verdeutlichen können. Er war es auch gewesen, der Hannes eine andere, nicht ganz uninteressante Information gegeben hatte.
»Letzte Woche hat Nina bei uns angerufen und nach dir gefragt. Hat sie dich schon erreicht?«
»Hat sie. Ist hierhergezogen und will mich sehen. Hast du ihr meine Telefonnummer gegeben?«
»Nein, das war Mama. Ist das ein Problem?«
»Wäre nett, wenn ihr mich das nächste Mal vorher fragen könntet«, war seine Erwiderung gewesen. »Ich hab grad gar keinen Kopf für sie, aber du erinnerst dich vielleicht, wie schwer man sie auf Distanz halten kann.«
Sein Vater hatte gelacht. »Stimmt, aber das ging damals von beiden Seiten aus. Es hat kein Blatt zwischen euch gepasst.«
Und genau das war wohl der Grund für das Scheitern ihrer Beziehung gewesen, hatte Hannes gedacht, es aber für sich behalten.
Dass seine Mutter ihr Wissen über Hannes’ aktuelle Lebensumstände dagegen nicht für sich behalten hatte, konnte er sich lebhaft vorstellen. Immerhin war Nina die einzige
seiner Exfreundinnen gewesen, die bei ihr einen Stein im Brett gehabt hatte. Glücklicherweise galt dies aber auch für Anna, was mit Blick auf die bevorstehende Hochzeit keine unwichtige Begleiterscheinung war.
Er beobachtete, wie Anna im Garten vor Bens Haus Socke
mit einer Frisbeescheibe beschäftigte. Er konnte selbst nicht sagen, weshalb er Ninas Kontaktaufnahme vor ihr geheim hielt. Vielleicht weil sie nicht bloß irgendeine
Exfreundin war? Er nutzte einen unbeobachteten Augenblick, um seine ausstehende Antwort per SMS zu versenden.
Ist etwas kompliziert mit dem Brand, aber ich schwöre, dass ich nicht vergessen habe, eine Kerze auszublasen ;-) Wenn es bei dir passt, können wir uns morgen zum Mittagessen treffen.
Ihre Antwort kam innerhalb einer Minute. Super Idee! Schreib mir einfach wann und wo.
Dazu kam Hannes aber nicht sofort, denn Anna näherte sich. »Socke
hat keine Lust mehr auf Frisbee.«
»Dann lass ihn einfach durch den Garten stromern.«
Sie setzte sich neben ihn. »Und was machen wir? Eigentlich will ich mich nicht weiter mit diesem Wahnsinn auseinandersetzen. Wir brauchen Ablenkung!«
»In einer Stunde kommt Marcel.«
»Dann sollten wir uns in dieser Stunde mit etwas Schönem beschäftigen.«
»Du meinst …« Hannes zwang sich zu einem Grinsen und deutete auf Bens Schlafzimmerfenster.
Anna schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich dann doch nicht in der richtigen Stimmung. Aber wir könnten die Hochzeitsplanung weiter vorantreiben. Zum Beispiel die Einladungskarten gestalten.«
»Puh … ja. Wenn dir wirklich danach ist.«
»Hast du ’ne bessere Idee?«
Hannes schüttelte den Kopf. Sie hatten es ohnehin zu lange schleifen lassen. Zugleich fand er es aber schade, dass die Hochzeitsvorbereitungen mehr und mehr zu einem Punkt auf der immer umfangreicher werdenden To-do-Liste wurden. Sollte man das Ganze nicht besser verschieben? Der Termin war sowieso sehr kurzfristig angesetzt, und sollte der Schrecken bis dahin nicht vorüber sein, war eine Hochzeit unter großen Sicherheitsvorkehrungen keine verlockende Vorstellung. Zu deutlich stand ihm noch seine dritte Ermittlung vor Augen, bei der ein Rockstar auf seiner eigenen Hochzeit erschossen worden war.
Dass Annas Vorschlag die erhoffte Wirkung nicht verfehlt hatte, zeigte sich, als auf einmal Marcel über den Rasen auf sie zukam. Er hatte sich verspätet, was Hannes aber gar nicht bemerkt hatte. In den letzten anderthalb Stunden hatte er nur selten über die beängstigende Lage nachgedacht und war stattdessen mit Anna voll und ganz in eine andere Welt eingetaucht. Diese Welt jetzt wieder zu verlassen, lag nicht in Annas Interesse.
Sie nahm den Laptop und erhob sich. »Ich mache drinnen weiter und suche nach passenden Deko-Ideen. Bleibt ihr ruhig auf der Terrasse.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Marcel, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
»Schlägt sich tapfer. Aber eigentlich ist sie total verängstigt.«
»Und du?«
»Tja …« Hannes lachte gequält. »Ich dachte immer, dass ich mich bei unseren Fällen gut in bedrohte Menschen hineinversetzen konnte. Einen Scheiß konnte ich. Jetzt weiß ich erst, wie sich das wirklich anfühlt. Wenn du ständig mit einem neuen Angriff rechnest und auch noch Angst um andere hast. Das ist … Mist.«
Marcel rieb sich den getrimmten Bart, der einen Kontrast zu seinem kahlen Kopf bildete. »Umso wichtiger, dass wir diesen
Mist schnell beenden. Ich kann dich schon mal beruhigen: Von der autonomen Szene dürfte keine Gefahr mehr drohen. Die ist vielmehr sauer, dass man sie für fremde Zwecke benutzen wollte. Per hat es geschickt so gedreht, dass du ein Opfer von Nazis sein könntest. Wahrscheinlich bist du in Hamburg gerade der beliebteste Bulle bei diesen Leuten.«
»Per? Wusste gar nicht, dass der so eine kreative Ader hat.«
»Doch, doch. Er sieht ja nicht nur aus wie ein Nerd, sondern kennt sich tatsächlich gut mit IT aus. Ähm … das war jetzt wenig professionell formuliert. Vergiss es, immerhin bin ich bald dein Vorgesetzter. Du weißt, dass ich Per schätze.«
Hannes nickte. Er selbst schätzte wiederum an Marcel, dass er sich wie ein normaler Mensch verhielt. Kollegial und bodenständig. Nicht umsonst hatte er sich entschieden, dessen Team beizutreten, und immer stärker wuchs in ihm die Überzeugung, dass es wohl doch am schlausten war, wenn er nach den Olympischen Spielen einfach als Polizist weitermachen würde. Nicht nur aus rationalen Gründen. Die letzten Fälle waren zwar teils nervenaufreibend gewesen, doch er hatte auch zunehmend Gefallen an seiner Arbeit gefunden. Besonders befriedigend war es immer dann, wenn man eine Ermittlung abgeschlossen und den Täter überführt hatte. Bisher war dies noch jedes Mal gelungen, aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis diese Glückssträhne ein Ende fand.
Zwischen ihm und seinem baldigen Chef hatte vom ersten Tag an ein vertrauensvolles Verhältnis geherrscht. Marcel war ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich wohl und gut aufgehoben fühlte. Das sahen auch viele Frauen so, die zudem von seinen markanten Gesichtszügen und dem melancholischen Ausdruck der braunen Augen angezogen wurden. Zwar war sich Marcel seiner Attraktivität bewusst, er setzte sie aber nicht gezielt ein. Seit Hannes einmal dessen Frau und die Kinder kennengelernt hatte, konnte er das auch nachvollziehen.
»Was ist deine Meinung?«, kam Hannes zum Kern des Treffens. »Gehen die bisherigen … Vorfälle auf das Konto der Autonomen? Oder haben die es dabei belassen, sich die Aggression von der Seele zu schreiben?«
»Kann ich nicht einschätzen. Ich tendiere aber zu Ersterem. Denn wenn der eigentliche Drahtzieher sie einzuspannen versuchte, hat er wahrscheinlich Hemmungen, selbst aktiv zu werden.«
»Dann sollte jetzt also nichts mehr passieren?«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Es gibt einen Ermittlungsdurchbruch, der mich nicht gerade glücklich macht. Die Hatz auf dich wurde nicht nur durch die Flugblätter, sondern auch durch einen Foreneintrag ausgelöst.«
Hannes hatte schon geahnt, dass Marcel auch schlechte Nachrichten im Gepäck haben würde. »Ich weiß. Von einem joshi
. Hat er auch die Flugblätter ausgelegt?«
»Die Vermutung liegt nahe. Über die IP-Adresse, die joshi
benutzt hat, konnte Per seine tatsächliche Identität herausfinden. Kristian Schmelzer heißt er und hat eine deftige Polizeiakte. Übrigens nicht nur in Deutschland. Er ist einer dieser Krawalltouristen. Man sollte meinen, dass sogar der Heißblütigste mit vierzig Jahren langsam ruhiger wird. Aber nein, wo immer man einen Stein in Richtung Kapitalismus schmeißen und sich mit Sicherheitskräften prügeln kann, ist er dabei.«
»Klingt super. Da du nicht glücklich mit diesem Ermittlungsdurchbruch bist, habt ihr ihn vermutlich noch nicht schnappen können?«
»So ist es, die Fahndung läuft aber. Einen Job hat er nicht, er bewohnt ein Ein-Zimmer-Apartment, drei Straßen von deiner Wohnung entfernt. Dort ist er seit einem Monat gemeldet, davor trieb er sich in der Hausbesetzerszene herum.«
»Also kein Hamburger. Kennen die ihn wenigstens?«
»Klar, er scheint eine … nennen wir es mal identitätsstiftende Figur zu sein. Gut möglich, dass ihn jemand gewarnt hat. In dem Forum hat er übrigens zum ersten Mal was gepostet.«
Hannes befeuchtete seine trockene Kehle mit einem Schluck Wasser. »Selbst wenn er ein aggressiver Typ ist … wenn er jetzt weiß, dass ich das falsche Opfer bin, warum sollte er dann weitermachen?«
»Weil er ja derjenige sein dürfte, der diese Falschinfo gestreut hat. Vielleicht im Auftrag von jemand anderem, da du selbst noch nie mit ihm zu tun hattest. Dann ist er weiterhin eine große Gefahr für dich – und für Anna. Das bringt mich zu unserer eigentlichen Aufgabe: Hast du dir Gedanken gemacht, wer aus deinen Mordermittlungen eine so scheißgroße Wut auf dich haben könnte? Vielleicht gibt es zwischen demjenigen und Kristian Schmelzer eine Verbindung.«
»Hab den halben Tag damit verbracht.« Hannes deutete auf einen Notizblock. Realistisch scheinen mir nur zwei Fälle zu sein. Zuerst diese Freikirche, die wir im letzten Winter ordentlich aufgemischt haben.«
»Da hab ich auch schon dran gedacht, ich war ja selbst beteiligt. Fanatiker findet man in dem Laden wohl genug, aber warum trifft es dann nur dich? Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber da warst du noch ein Greenhorn.«
»Trifft das nicht auf alle Fälle zu? Ich war immer im Team unterwegs, in wechselnden Besetzungen. Außerdem gab es damals harte Auseinandersetzungen. Die Freikirche wird uns beiden nicht ohne Grund eingefallen sein.«
»Nein, das ist richtig.« Marcel rieb sich den Bart. »Aber dass religiöse Hardliner ausgerechnet die autonome Szene für sich nutzen oder sogar Verbindungen zu ihr haben? Passt das?«
»Klar. Der Fanatismus ist die Schnittmenge. Davon abgesehen wäre es geradezu genial, wenn du deine Feinde für deine
Zwecke einspannst. Damit schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Mag sein. An wen hast du noch gedacht?«
»An Cloud Palace
.«
»Die Band? Aber die gibt es doch nicht mehr.«
»Eben«, nickte Hannes. »Woran ich durchaus meinen Anteil habe. Die Musiker sind jetzt alle in anderen Projekten unterwegs, aber was ist mit den Fans? Du weißt selbst, wie die drauf waren, das war auch eine Form von Fanatismus. Kann doch sein, dass jemand nicht damit klarkommt, dass es seine Idole in dieser Formation nicht mehr gibt.«
»Klingt wahrscheinlicher als die Freikirche.« Marcel schenkte sich ebenfalls ein Glas Wasser ein. »Wäre aber die schwierigste Aufgabe für uns, denn da fischen wir komplett im Trüben. Es gab abertausende Fans. Weltweit!«
»Vielleicht auch Kristian Schmelzer?«
Marcel riss ein Blatt Papier von Hannes’ Block und machte sich eine Notiz. »Per soll sowieso in Schmelzers Hintergrund wühlen. Da kann er das gleich mit überprüfen.«
»Ich helf ihm dabei.«
Marcels Hand geriet beim Schreiben ins Stocken. »Ausgeschlossen!«
»Warum, was soll ich dann tun?«
»Auf dich aufpassen und weiter darüber nachdenken, wer dir ans Leder will.«
»Aber …«
»Vergiss es, Hannes! Du kannst nicht Teil des Ermittlungsteams sein, wenn sich die Ermittlung um dich dreht. Das weißt du genau.«
»Aber … ich kann doch in dieser Situation nicht Däumchen drehen!«
»Offiziell wirst du das aber tun müssen.«
Hannes grinste. »Höre ich da Fritz aus dir sprechen? Was ist die inoffizielle Version?«
»Die ist kaum anders. Aber wir tauschen uns natürlich eng aus. Und haben ein Auge auf dich.«
»Wird meine Mutter freuen. Habt lieber ein Auge auf Anna, um sie mache ich mir mehr Sorgen. Sie …«
»Was ist?«, fragte Marcel, als Hannes verstummte.
»Mir fällt gerade etwas auf!« Hannes sprang auf und begann hin und her zu gehen. »Du hast vorhin gesagt, dass Kristian Schmelzer Hausbesetzer war.«
»Stimmt.«
»Und du hast nach einer möglichen Verbindung zu meinen Fällen gesucht. Es könnte eine geben! Erinnerst du dich an die Tierschützer?«
»Klar. Eine von denen sitzt für viele Jahre im Knast.«
»Nachdem sie ihre Familie ausgelöscht hat. Na ja, fast zumindest. Ihr Bruder hat überlebt, wurde aber zum Vollwaisen. Das Entscheidende ist: Ihr traue ich zu, äußerst nachtragend zu sein. Und sie hatte eine Freundin, die für sie durchs Feuer gegangen wäre. Diese Freundin wiederum lebte in einem besetzten Haus – bis es geräumt wurde. Das kann der Link zu diesem Kristian sein.«
Wieder fuhr Marcels Stift über das Papier. »Das wirkt wie die vielversprechendste Spur. Auf Per wartet einiges an Arbeit. Sonst noch was?«
»Nein, natürlich frag ich mich ständig, ob es einen privaten Hintergrund geben kann. Mir fällt nichts ein, aber ich werde mich morgen mit einer alten … Freundin treffen. Vielleicht erinnert sie sich an etwas, das mir nicht mehr präsent ist.«
»Einen Versuch ist es wert.« Marcel faltete den Zettel zusammen und schob ihn in die Jeanstasche. »Bei einem Rachefeldzug sind immer Emotionen im Spiel. Vielleicht hast du irgendein Herz gebrochen?«
»Eher wurde mir
immer das Herz gebrochen.« Hannes zog eine Grimasse.
»Armer Junge.« Spöttisch sah Marcel zu ihm auf, bevor auch er sich erhob. »Ich mach mich jetzt auf den Weg, wenn dir noch was einfällt …«
»… melde ich mich.« Hannes musste lachen und merkte, dass es fast hysterisch klang. »Meine Güte, wie oft ich diesen Spruch schon selbst gesagt habe. Aber mach dir keine Sorgen. Ich kann auf mich aufpassen, und Anna zieht heute Abend bei einer Freundin ein.«
»Schreib mir die Adresse auf. Dann schicken wir immer mal wieder jemanden vorbei.«
Als Hannes die Straße und Hausnummer notiert hatte, klingelte sein Telefon. Marcel legte ihm die Hand auf die Schulter, dann ging er Richtung Straße. Hannes nahm das Gespräch an, es meldete sich das Krankenhaus, in dem Fritz auf der Palliativstation versorgt wurde. Sofort spürte er einen Knoten im Magen.
»Ist er … ist er etwa?«
»Nein, nein!« Die Stimme der Krankenschwester klang amüsiert. »Er tyrannisiert uns wie am ersten Tag, als er hier eingezogen ist. Ich soll Ihnen nur ausrichten, dass er Sie gern sehen würde. Möglichst bald. Also um genauer zu sein, hat er wörtlich gesagt: Er soll seinen Hintern so schnell wie möglich in diesen Kaninchenbau bewegen
. Es wäre wichtig.«
»Wichtig?«
»Mehr hat er nicht gesagt. Aber … also für seine Verhältnisse hat er mich fast angefleht, Ihnen Dampf zu machen.«
Hannes überlegte. Ob Fritz seine Notlage schon zu Ohren gekommen war? Zuzutrauen wäre es ihm. Oder hatte Ole ihn informiert, dass die Lena
abgesoffen war? Er sagte zu, am nächsten Tag einen Besuch einzuplanen, und verabschiedete sich. Weshalb hatte Fritz ihn nicht persönlich angerufen? Er konnte
nicht länger über den Hintergrund des Anrufs nachdenken, da Marcel ihm über den Rasen entgegengerannt kam. Man musste kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass schon wieder etwas vorgefallen war.
Nachdem sich Federsen den Großteil des Tages hinter dem Schreibtisch im Dachgeschoss seines Hauses verschanzt hatte, zog es ihn nun ins Freie. Seine Frau fühlte sich zu schwach für einen Spaziergang, Hitze strengte sie an. Auch Federsen war normalerweise kein großer Freund von Bewegung, was sein Arzt regelmäßig monierte. Aber heute hätte er wohl seine Freude an dem beleibten Mittfünfziger gehabt. Mit ausgreifenden Schritten näherte sich der Kriminalhauptkommissar dem Park, durch den man auf dem schnellsten Weg den Hafen erreichte. Der Nachmittag ging bereits in den Abend über, als er an einem Wasserlauf eine Pause einlegte. Suchend sah er sich nach einer Bank um, dann streifte er achselzuckend die Schuhe ab, setzte sich auf einen Stein und kühlte seine Füße im Wasser.
In der Nähe picknickten mehrere Familien, die Kinder tobten kreischend durch den knietiefen Bach. Wie immer war ihre Anwesenheit für Federsen wohltuend und schmerzhaft zugleich. War er sonst eher lärmempfindlich, brachte ihn das Kreischen und Lachen von Kindern nicht aus der Fassung. Dass er mit ihnen sogar nachsichtig und verständnisvoll umging, hätte wohl kaum einer seiner Kollegen vermutet. Woher sollten sie auch wissen, dass er noch heute um eine Tochter trauerte, der es nicht vergönnt gewesen war zu leben, und er sich nicht damit anfreunden konnte, niemals Enkelkinder zu haben?
Sobald er in Rente gehen würde, dürfte es einsam um ihn werden, da machte er sich keine Illusionen. Der Freundeskreis war überschaubar und wurde eigentlich nur von seiner Frau am Leben gehalten. Wenn Laura nicht mehr da wäre, würde es nicht lange dauern, bis alle Kontakte eingeschlafen waren.
Dennoch sehnte er sich nach dem Karriereende, denn seinen Job ertrug er nur noch, weil er sich ein undurchdringlich dickes Fell zugelegt hatte. Ein vorzeitiger Ausstieg war verlockend, aus finanziellen Gründen aber abwegig. Der Traum führte lediglich zu Frustration. Laura hatte keine Ahnung, wie ernst die Lage war, und sie durfte niemals erfahren, wie es zu der angespannten Situation gekommen war. Andernfalls würde eine Welt für sie zusammenbrechen.
Schwermütig ließ er seinen Rücken ins Gras sinken. Das Leben hatte sich anders entwickelt, als er erhofft hatte. Damals … in einem rauschartigen Zustand hatte er Laura am Traualtar aus den Händen ihres Vaters an sich gezogen und war sich sicher gewesen, dass von nun an nichts Schlechtes mehr passieren könnte. Schon einen Monat später hatte mit dem Selbstmord seines Bruders eine Kette verhängnisvoller Ereignisse ihren Anfang genommen. Es war weder Charakterschwäche noch Zufall, dass Federsen seit Jahren dem Alkohol mehr zusprach, als ihm guttat. Dass man dies inzwischen auch äußerlich an den roten Adern in seinem Gesicht erkennen konnte, hatte nur dazu geführt, dass er sich noch weniger zu beherrschen versuchte.
Ein Ball traf ihn am Kopf, und erschrocken setzte er sich auf. Schüchtern und mit hinter dem Rücken verborgenen Händen näherte sich ein kleines Mädchen.
»Volltreffer!«, rief Federsen ihr zu. »Du solltest Handballspielerin werden.«
»Entschuldigung, das war … keine Absicht«, kam die schüchterne Antwort.
»Weiß ich. Außerdem hab ich einen dicken Schädel, der kann viel aushalten. Hör mal!« Mit den Handknöcheln schlug er sich auf die Kopfplatte und machte dabei mit der Zunge knackende Geräusche.
Das Mädchen kicherte. »Wieso sitzt du hier allein?«
»Weil ich nachdenken muss.«
»Ist es was Schlimmes?«
»Nein, nein! Wieso?«
»Weil du so traurig aussiehst.«
Federsen musste sich räuspern. »So seh ich immer aus, wenn ich nachdenke. Ich überlege, was ich meiner Frau zum Hochzeitstag schenken soll. Das ist doch was Schönes, oder?«
»Kommt auf das Geschenk an.«
Federsen schmunzelte. Kinderlogik war nicht zu übertreffen. »Hast du einen Vorschlag?«
»Du kannst mit ihr in den Zirkus gehen, das ist immer toll! Darf ich … meinen Ball wiederhaben?«
»Na klar.« Federsen rollte ihn zu ihr und verfolgte, wie sie ihn aufhob und dann zu den anderen Kindern zurücksprang. Unterwegs drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. »Der Opa da drüben ist nett«, hörte er sie noch sagen, bevor ihre Worte in erneutem Gekreische untergingen, als ein Junge einen Wassereimer über seiner Schwester ausleerte.
Mit einem Mal fühlte sich Federsen viel besser. Unerwartet hatte ihm das Mädchen sogar einen guten Tipp gegeben. Der dreißigste Hochzeitstag stand am kommenden Samstag an, und ein Zirkusbesuch war eine gute Idee. Immerhin war Laura als Artistin früher selbst in der Manege aufgetreten, und dort hatten sie sich auch kennengelernt.
Federsen erhob sich, um zurückzugehen – diesmal in einem gemächlicheren Tempo. Bis zum Hafen war es ihm jetzt doch zu weit, zumal er Hunger verspürte. Tagsüber hatte er sich derart in seinen Grübeleien verloren, dass er fast nichts zu sich genommen hatte. Gegen diese ungewohnte Unterversorgung protestierte sein Magen nun so vernehmbar, dass ihm ein älteres Ehepaar einen irritierten Blick zuwarf. Federsen zwinkerte ihnen nur zu und wunderte sich selbst über sein Hochgefühl. Bei Lichte betrachtet gab es eigentlich nur Schatten, wo er auch hinsah.
Für Hannes galt dies natürlich im Besonderen. Noch hatte es der Kriminalhauptkommissar nicht über sich gebracht, sich persönlich bei seinem Mitarbeiter zu melden. Seit dem Zerwürfnis hatte er Hemmungen, mit ihm in näheren Kontakt zu treten. Er wusste, dass er dieses Problem angehen musste, aber es überforderte ihn. Seine Kränkung war echt und saß tief. Es war seit Langem das erste und in jedem Fall das letzte Mal gewesen, das er einen Kollegen so nah an sich herangelassen hatte. Hannes zu helfen, war ihm trotzdem ein Anliegen.
Von Marcel hatte er sich telefonisch auf den neuesten Stand bringen lassen und war schon versucht gewesen, sich doch aktiver an der offiziellen Ermittlungsarbeit zu beteiligen. Immerhin schwenkte Marcel mit seinem Team schon jetzt auf die gleiche Linie ein, die auch Federsen verfolgte. Nachdem der Aufruhr in der autonomen Szene befriedet worden war, wurden nun alle Ressourcen auf die Identifikation des eigentlichen Verursachers ausgerichtet. Damit endeten allerdings schon die Gemeinsamkeiten, denn Federsens Liste der Verdächtigen unterschied sich fast vollständig von der, die Marcel ihm vorgetragen hatte. Das tat sie vor allem aus einem Grund: Federsen wusste, dass er kein Sympathieträger war. Sollte sich jemand am Ermittlungsteam rächen wollen, würde sicherlich er an erster Stelle stehen und nicht der Sportpolizist, der lediglich als Halbtagskraft arbeitete. Somit kam nur ein Fall infrage, den Hannes quasi im Alleingang gelöst hatte oder einer, an dem Federsen nicht beteiligt gewesen war.
Oder aber – und hierauf hatte er das meiste Hirnschmalz verwendet – es gab eine persönliche Komponente. Es musste sich nicht zwangsläufig ein verurteilter Mörder an Hannes rächen wollen, genauso gut konnte es jemand sein, der im Zuge der Ermittlungen zwar nicht des Mordes überführt worden war, dafür aber in einem anderen Zusammenhang unter den Enthüllungen zu leiden hatte. Derartige Kollateralschäden
gab es gar nicht so selten, und Federsen waren einige aus den letzten zwölf Monaten in Erinnerung geblieben. Am nächsten Tag wollte er im Präsidium die Akten durchgehen, um letzte Lücken zu schließen.
Er hielt es für eine gelungene Arbeitsteilung, dass sich Marcel auf die unmittelbaren Verlierer der Mordermittlungen konzentrierte, während er selbst sich den Figuren am Spielfeldrand widmete. Wer am Ende den finalen Treffer landete, spielte dabei keine Rolle. Dennoch hatte er das Gefühl, selbst keine schlechten Karten in der Hand zu halten. Wenn er an die gemeinsamen Ermittlungen mit Hannes zurückdachte, fiel ihm nicht ohne Grund als Erstes ein besonders dramatischer Fall ein. Genauer gesagt eine Szene, die ihm seitdem sogar hin und wieder in seinen Träumen begegnete. Dass daraus etwas entstanden war, das heute Hannes’ Leben in Gefahr brachte, war keine abwegige Überlegung. Sofern er auf der richtigen Fährte war, könnte Federsen dann allerdings – wenn er weiterdachte – auch selbst nicht mehr allzu ruhig schlafen.
Das zweite Mal an diesem Tag zuckte er heftig zusammen. Diesmal war es kein Ball, der ihn aus den Gedanken riss, sondern das Martinshorn eines Krankenwagens. Federsen bog gerade in seine Wohnstraße ein und sah, wie der Wagen direkt vor seinem Haus eine Vollbremsung machte. Die Türen flogen auf, und zwei Sanitäter sprangen heraus. Als sie auf seine Haustür zurannten, war Federsens Hochstimmung so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Sein Gewicht und die Raucherlunge verfluchend, warf er die Zigarette von sich und setzte zu einem Sprint an.
Hannes saß auf dem Boden und starrte ins Leere. Einen klaren Gedanken konnte er nicht fassen, das Einzige, was er verspürte, war tiefe Traurigkeit. Er zog die Beine an und legte die Stirn auf die Knie, um sich von der Umgebung abzuschotten. Sein Magen
hatte sich schmerzhaft zusammengezogen, und er spürte, dass er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und Hannes war Marcel dankbar, dass er ebenfalls schwieg und lediglich durch diese Geste sein Mitgefühl zeigte.
Unablässig ließ Hannes seine Finger durch das weiche Fell kreisen. Es kostete ihn Kraft, den Kopf wieder zu heben und zur Seite zu blicken. Neben den Steinplatten, die vom Tor zum Haupthaus und in den Garten führten, lag Socke
auf dem Rasen. Zwischen den Pfoten befand sich noch immer der Gegenstand, der dafür verantwortlich gewesen sein dürfte, dass sein Hundeleben vor wenigen Minuten in Hannes’ Armen zu Ende gegangen war. Als er hinter Marcel hergerannt war, hatte er sofort erkannt, dass Socke
mit dem Tod rang. Helfen hatte er ihm nicht mehr können, nur den großen Kopf streicheln und beruhigend auf das Tier einreden. Nun lag Socke
auf der Seite, der Körper war noch warm, die Augen aber erloschen.
Ein Schrei. Wie aus dem Nichts war Anna aufgetaucht und schlug sich die Hand vor den Mund. Mit aufgerissenen Augen erfasste sie das Geschehen und ging neben dem Hundekörper in die Hocke. Sie streckte die Hand aus, hielt aber in der Bewegung inne und berührte den toten Hund nicht.
»Was ist passiert?«, flüsterte sie.
Marcel antwortete an Hannes’ Stelle. »Es sieht so aus, dass er vergiftet wurde. An dem Knochen hing noch Fleisch, und darin … tja.«
»Ben wird am Boden zerstört sein!«
Hannes konnte nichts sagen. Ben würde nicht nur am Boden zerstört sein, Sockes
Tod würde ihm das Herz brechen. Er hatte ihn als Welpen einem Bauern abgeschwatzt, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, von beiden Seiten. Hannes’ Kehle war wie zugeschnürt, als er überlegte, wie er seinem Freund den Verlust nahebringen sollte. Die Schuldgefühle machten es nicht
leichter. Er hätte besser auf Socke
aufpassen müssen, aber wie hätte er damit rechnen können, dass sich jemand Bens Hund als Ziel aussuchte?
»Meinst du, dass … man dachte, dass Socke
dir gehört?«, fragte Anna.
»Das würde bedeuten, dass man euch beobachtet«, sagte Marcel. »Seit wann habt ihr ihn allein beaufsichtigt?«
»Seit heute Morgen. Wir hatten ihn am Hafen dabei. Mittags sind wir noch zusammen spazieren gewesen.«
»Ist euch jemand aufgefallen?«
»Nein. Aber am Hafen war einiges los und hier in der Stadt genauso. Wie kann jemand zu so etwas fähig sein! Was kann der arme Socke
dafür?«
»Leider ergibt es Sinn«, erwiderte Marcel. »Auf dem letzten Zettel stand: Ich werde dir alles nehmen.
Wenn der Täter dachte, dass Socke
Hannes’ Hund ist, war er ein logisches Ziel. Was mir noch mehr Sorgen macht: Ihm ist bekannt, dass ihr vorübergehend bei Ben eingezogen seid. Also … könnt ihr hier nicht bleiben.«
Hannes hörte nicht länger zu. Er wälzte sich auf die Knie und nahm noch einmal Sockes
Kopf in die Hände. »Tut mir leid, mein Freund«, wisperte er. »Es tut mir so leid.« Dann strich er ihm mehrmals über die Augen, bis die Lider den gebrochenen Blick verbargen. Langsam rappelte er sich auf. Anna unterbrach ihr Gespräch mit Marcel und umarmte ihn. Schweigend hielten sie sich fest, er spürte, dass ihre Schultern bebten.
»Dafür wird der Scheißkerl bezahlen.« Hannes löste sich und sah Marcel auffordernd an. »Wir müssen die ganze Nachbarschaft abklappern. Irgendjemand muss was gesehen haben!«
»Was ist mit den Leuten in diesem Haus?« Marcel deutete auf die Villa.
»Sind heute früh weggefahren. So wie es aussah, für einen Tag am Strand. Die Kinder werden völlig fertig sein, wenn sie das erfahren. Wir müssen Socke
woanders hinlegen, die dürfen ihn so nicht sehen! Er war ein ständiger Spielkamerad für sie.«
»Ich muss ihn sowieso mitnehmen. Genauso wie den Knochen. Außerdem kommt gleich die Spurensicherung und durchkämmt das Grundstück.«
»Gut.« Hannes spürte, dass ihm die Fokussierung auf die nächsten Schritte half, wieder die Fassung zurückzugewinnen. Zugleich machte er Marcel klar, dass er sich keinesfalls davon abhalten lassen würde, bei den Befragungen der Nachbarn eine aktive Rolle zu übernehmen. Etwas anderes brannte ihm aber besonders unter den Nägeln, bevor er seinem Zorn erlauben durfte, die Oberhand zu gewinnen.
»Marcel, kannst du dafür sorgen, dass Anna unauffällig zu Elke gebracht wird? Da sich mir offenbar jemand an die Fersen geheftet hat, darf ich es nicht riskieren, sie selbst zu fahren.«
»Natürlich. Aber was ist mit dir? Du solltest genauso wenig hier wohnen bleiben! Der Garten ist nicht einsehbar, die Grundstücke sind weitläufig und …«
»Ich bleibe.« Abwehrend hob Hannes den Arm, als sowohl Anna und Marcel zum Widerspruch ansetzten. »Ich werde diesem Psychopathen nicht die Genugtuung verschaffen, dass ich mich ängstlich verkrieche. Genau das will er ja!«
»Wenn du bleibst, könntest du ihm die Genugtuung verschaffen, dich tot zu sehen«, erwiderte Marcel.
»Keine Sorge, hab ich nicht vor.«
»Willst du die ganze Nacht wach bleiben?« Anna wirkte fassungslos. »Der Kerl ist skrupellos, wie kannst du da …?«
»Ich will mich doch gar nicht als wehrloser Speck in einer Mausefalle präsentieren. Wird aber Zeit, dass wir zur Gegenwehr ansetzen. Marcel, die Situation sollte jetzt doch brisant genug geworden sein, dass mir Personenschutz zusteht?«
»Davon ist wohl auszugehen.«
»Dann sollen sich meine Leibwächter so postieren, dass niemand sie sieht. Dazu noch Überwachungskameras, und das Risiko ist ausgeschaltet. Es wird schon keiner eine Rakete auf mich abfeuern. Wenn der Kerl hier wirklich auftaucht, kann er direkt überwältigt werden. Ich will, dass es endlich aufhört!«
Marcel rieb sich über seinen Bart, dann nickte er. »Einverstanden. Allerdings ist es fraglich, ob der Täter so waghalsig ist, sich schon heute Nacht ein zweites Mal anzuschleichen.«
Auf der Straße fuhren Polizeiwagen vor. Hannes entdeckte mehrere bekannte Gesichter, darunter Per und Isabell. Während Marcel die anstehenden Aufgaben verteilte, ließen sich Anna und Hannes noch einmal neben Socke
nieder. Es war unwirklich, ihn so starr daliegen zu sehen, ihn, der so voller Leben gesteckt hatte. Hannes sehnte sich danach, noch einmal die feuchte Zunge auf seiner Haut zu spüren und das vertraute Hecheln zu hören. Heftig blinzelnd sah er zu Anna, die den Kampf gegen die Tränen gar nicht erst zu gewinnen versuchte. Hannes hatte nie ein eigenes Tier besessen und sich immer damit schwergetan, wenn jemand um ein Tier wie um einen Menschen trauerte. Nun verstand er, wieso. Ein Freund war von ihm gegangen, und dass er sich selbst eine Mitschuld gab, machte es noch schwerer.
Den Anblick, wie Socke
abtransportiert wurde, wollte er sich ersparen. Ein letztes Mal strich er über die weiße Schnauze, dann erhob er sich, um mit Anna zu Bens Haus zurückzugehen. Schweigend packten sie Annas Sachen wieder in den Koffer, und als sie schließlich Seite an Seite zurück zur Straße gingen, haderte er plötzlich mit seiner Entscheidung. Auf einmal fühlte es sich falsch an, dass sie sich trennten. Doch er blieb standhaft. Nach einer langen Umarmung stieg sie schließlich mit Marcel und Per in ein Auto und fuhr weg. Ein Gefühl von Verlorenheit breitete sich in Hannes aus, als er ihnen hinterhersah.
»Hannes?« Isabell fasste ihn behutsam am Arm. »Kommst du klar?«
»Was? Ja, natürlich!« Er riss sich zusammen. »Es hilft ja nichts, ich muss damit klarkommen. Weiß nur nicht, ob ich dem Hinterbliebenen des Mordopfers gegenübertreten kann. Dabei reden wir hier über einen toten Hund!«
»Na und?« Isabell schien seinen angegriffenen Zustand nicht merkwürdig zu finden. Als Katzenliebhaberin hatte sie aber sicher einen eigenen Zugang zu diesem Thema. »Außerdem reden wir nicht nur über Socke
. Du erlebst gerade hautnah, wie es sich anfühlt, einem Verrückten ausgeliefert zu sein. Ist nachvollziehbar, dass du das nicht einfach so wegsteckst.«
»Ich hoffe, dass ich es überhaupt wegstecke. Am meisten würde es mir helfen, wenn wir das Schwein zu fassen kriegen. Meinst du, der Mord an Socke
geht auf Kristian Schmelzers Konto?«
»Würde ich ihm zumindest zutrauen. Per hat schon einiges zu ihm herausgefunden. Klar ist, dass der Typ vor Körperverletzung nicht zurückschreckt. Was dich aber vor allem interessieren dürfte: Er hat tatsächlich in dem besetzten Haus gelebt, in dem zu der Zeit auch diese Tierschützerin hauste!«
»Das kann kein Zufall sein! Ich bin mir sicher: Diese Angriffe gegen mich müssen mit dem Job zu tun haben. Und dieser Fall war ja wirklich sehr speziell … und tragisch.«
Isabell runzelte die Stirn. »Ich kenne ihn nur vom Hörensagen. Die Täterin hat am Ende ihre eigenen Eltern ermordet, oder?«
»Genau. Weil sie von falschen Hintergründen ausging. Sie wollte sich dafür rächen, dass man sie als Baby verstoßen und in eine fremde Familie gegeben hatte, in der sie keine schöne Kindheit erlebte. In Wahrheit wurde sie allerdings aus dem Kinderwagen entführt. Maja heißt sie. Wurde aber von ihren … Pflegeeltern Juliane genannt. Dieser Name steht wohl immer
noch in ihrem Pass, es sei denn, sie hat aus dem Gefängnis heraus eine Änderung beantragt.«
»Und weiter? Wieso könnte sie einen solchen Hass auf dich haben?«
»Na ja … wir haben uns ganz gut verstanden. Was erklären würde, warum so viele Infos über mich bekannt wurden. Hör auf zu grinsen, Isabell! Am Anfang war sie lediglich eine Zeugin! Bis ich ihr auf die Schliche gekommen bin. Sie kann mir zweierlei vorwerfen: erstens, dass ich sie überführt habe, und zweitens, dass ich sie nicht gestoppt habe.«
»Ist das nicht ein Widerspruch?«
Hannes schüttelte den Kopf. »Sie hatte für sich schon ein neues Leben in Neuseeland geplant, nachdem sie Rache an ihren Eltern genommen hätte. Sie ging davon aus, dann endlich die bösen Geister loszuwerden und ihren Frieden machen zu können. Zugleich dürfte sie sich im Nachhinein wünschen, dass ich sie früher enttarnt hätte. Denn jetzt weiß sie ja, dass ihre Eltern unschuldig waren und sogar jahrelang verzweifelt nach ihr gesucht haben. Was glaubst du, wie es ihr mit diesem Wissen geht?«
»Sag du es mir!«
»An ihrer Stelle hätte ich wohl Selbstmordgedanken. Ich habe allerdings keinen Kontakt mehr zu ihr, seit sie verhaftet wurde.«
Isabell schmunzelte. »Diese Berührungsängste hattest du beim Alten Fritz nicht. Aber wie auch immer, wir sollten sie schnellstmöglich vernehmen.«
Hannes winkte ab. »Das müsst ihr, dabei wird aber nichts rauskommen. Sie wird kaum zugeben, dass sie sich nach dem Feldzug gegen ihre Eltern in einen neuen Irrsinn verrannt hat. Wichtiger wäre, ihre beste Freundin zu finden. Carina. Die lebte nämlich in dem besetzten Haus und ist daher die Verbindung zu Kristian Schmelzer.«
»Den wir ebenfalls finden sollten. Hast du weitere Infos über diese Carina?«
»Sie himmelte Juliane an. Ich habe sie als labil und unsicher in Erinnerung. Nahm Drogen und stand oft neben sich. Carina ist definitiv eine Frau, die sich von Juliane instrumentalisieren ließe. Ihr müsst herausfinden, ob die beiden in letzter Zeit Kontakt zueinander hatten.«
»Ich checke die Besucherlisten.« Isabell deutete auf drei kräftig gewachsene Männer in Zivil. »Da kommt dein Personenschutz. Ich denke, du wirst heute Nacht gut schlafen können.«
»Das bezweifle ich. Aber beruhigend ist es trotzdem.«
In den nächsten zwei Stunden musste er auf den Personenschutz allerdings noch nicht zugreifen. Gemeinsam mit Isabell suchte er die umliegenden Nachbarn auf, die durch die Aktivitäten vor dem großen Grundstück längst aufmerksam geworden waren. Vermutlich kam es selten vor, dass diese beschauliche Gegend in den Fokus von Polizeiermittlungen geriet. Entsprechend auskunftsfreudig präsentierten sich die meisten Bewohner, und es war wie immer eine schwierige Aufgabe, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.
Dessen ungeachtet tat es Hannes gut, dass er eine Beschäftigung hatte, die ihn ablenkte und ihm zugleich das Gefühl gab, endlich selbst gegen die Bedrohung vorzugehen. Am meisten interessierte ihn die Schilderung zweier Zeugen, die einen roten Motorroller beobachtet hatten, der seit Samstagnachmittag immer wieder durch die Straße gefahren sei. Sie mutmaßten, ein Teenager aus der Umgebung hätte den Roller erst kürzlich geschenkt bekommen und ihn ständig ausprobieren wollen. Zwar würde diese Vermutung überprüft werden, aber Hannes war sich sicher, dass es eine Fehleinschätzung war.
Die Beschreibung des Fahrers deckte sich mit seiner eigenen Beobachtung: eine schmächtige Person, deren Kopf unter einem dunklen Helm steckte, dessen Visier einen Blick auf das Gesicht verhinderte. Ein Zeuge meinte sich zu erinnern, dass zwischen den Beinen ein Rucksack geklemmt hatte. Ob darin der vergiftete Knochen transportiert worden war? Wahrscheinlich, dafür war es aber so gut wie ausgeschlossen, dass sich Kristian Schmelzer auf den Roller gezwängt hatte.
Abgesehen davon, dass er vom Typ her eher auf einem schweren Motorrad unterwegs wäre, passte sein Körperbau nicht. Isabell hatte sich im Präsidium rückversichert, und die Einträge in seiner Akte wie auch die Fotos waren eindeutig. Kristian Schmelzer war groß gewachsen, stämmig und breitschultrig. Ein Bär von einem Mann. Hannes erinnerte sich, dass Carinas Äußeres hingegen gut zu der Person auf dem Roller passte. Allerdings hielt er es für abwegig, dass sie einen Hund vergiften würde. Immerhin war sie in einer militanten Tierschutzbewegung aktiv gewesen und besaß selbst einen Hund, der ihr auf Schritt und Tritt folgte. Verrannten sie sich gerade in eine falsche Richtung?
Ermattet überließ Hannes es schließlich seiner Kollegin, Bens Vermieter samt deren Kinder über den Verlust von Socke
und die Anwesenheit der Personenschützer zu informieren, als diese von ihrem Strandausflug zurückkehrten. Er selbst verzog sich in das Gartenhaus, wo er noch eine Stunde auf dem Sofa saß und die Wand anstarrte. Dieser Tag hatte gleich zwei Tiefschläge geboten, die gesessen hatten. Wenigstens hatten beide neue Hinweise geliefert, auch wenn die Spurensicherung unverrichteter Dinge wieder aus dem Garten abgezogen war. Vermutlich war der vergiftete Knochen einfach über die Hecke geworfen worden.
Hannes fuhr sich über die Stirn, dann griff er endlich mit schweißnasser Hand nach seinem Handy, um Ben anzurufen.