KAPITEL 5
Düster musterte Federsen den überquellenden Aschenbecher auf seinem Schreibtisch – und zog eine weitere Zigarette aus der Packung. Es wurmte ihn, dass er nach einem kurzen Intermezzo mit E-Zigaretten wieder rückfällig geworden war, aber momentan fehlte ihm die Kraft für einen weiteren Versuch, die jahrzehntealte Gewohnheit loszuwerden oder zumindest zu verändern. Als das Feuerzeug vor seinem Gesicht eine Flamme ausspuckte und den Tabak entzündete, fielen ihm im Hintergrund die zahlreichen Blumentöpfe auf, die er sonst kaum noch wahrnahm.
Von manchen Kollegen wurde sein Büro als grüne Hölle bezeichnet, was sicher nicht nur an den Pflanzen lag, die ihm seine Frau in regelmäßigen Abständen mitgab. An Laura war eine Botanikerin verloren gegangen, während Federsen mit Grünzeug weder auf dem Teller noch in tönernen Gefäßen viel anfangen konnte. Ihr gefiel die Vorstellung, dass er sich wenigstens in angenehmer Atmosphäre der Mörderjagd stellte – sie wusste nicht, dass er jeden Abend leise fluchend mit der Gießkanne seine Runde drehte.
Mit Nachdruck schob er das größte Ungetüm hinter seinem Rücken ein Stück zur Seite. Ihm missfiel das Gefühl, dass sich dessen Ranken gefährlich um seinen Hals zu schlingen drohten. Er verspürte ohnehin schon Atemnot, sodass er die obersten Knöpfe seines Hemdes offen ließ. Zurückgelehnt in seinem Drehstuhl sah er zu, wie der Rauch zur Zimmerdecke stieg. Am gestrigen Sonntag war ihm der Schreck heftig in die Glieder gefahren. Die Angst, bald allein zu sein, war stärker als je zuvor. Es war jedoch kein neuerlicher MS-Schub gewesen, der seine Frau den Notarzt hatte alarmieren lassen. Ihre Erkrankung war nur indirekt der Auslöser gewesen.
Federsen verwünschte und bewunderte ihren Stolz gleichermaßen. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, auf einen Stuhl zu steigen, um die kaputte Glühbirne selbst zu wechseln. Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Ihre Beine hatten nachgegeben, und sie war mitsamt dem Stuhl unkontrolliert zu Boden gegangen. Nur mit Glück hatte ihr Kopf dabei die Ecke des Esstisches verfehlt. Doch auch der gebrochene Arm war tragisch. Er machte sie schließlich noch hilfloser, als sie es ohnehin war. Über Nacht hatte man sie zur Beobachtung im Krankenhaus behalten, nach dem Frühstück war sie dann von ihrem Mann abgeholt worden. Kaum daheim angekommen, hatte sie ihn wieder aus dem Haus gescheucht, er solle keine große Sache aus dem Missgeschick machen.
Letztlich war ihm der Gang zum Arbeitsplatz aber gar nicht schwergefallen. Es brannte ihm unter den Nägeln, sich durch die Akten der zurückliegenden Fälle zu wühlen, auch wenn ihm diese noch sehr präsent waren. Und tatsächlich: Beim Durchlesen tauchten immer wieder Erinnerungen auf, die sonst wohl verschollen geblieben wären. Kein Wunder bei der Vielzahl an Spuren und beteiligten Personen. Obwohl er mehrere Seiten mit Notizen gefüllt hatte, landete er am Ende wieder bei den drei Spuren, die ihm von Anfang an am realistischsten erschienen waren.
Um die Auswahl weiter einzugrenzen, hatte es Federsen nicht bei theoretischer Arbeit belassen. Obwohl viele Kollegen ihm dies nicht zutrauten, verfügte er durchaus über ein vorzeigbares Netz an Informanten. Vermutlich war es nicht ganz so groß und belastbar wie das des Alten Fritz, aber es hatte ausgereicht, um eine der Spuren von der Liste zu nehmen. Es handelte sich ausgerechnet um diejenige, die ihn zur Zurückhaltung animiert hatte, da ihm eine Verstrickung in den Polizeiapparat wahrscheinlich vorgekommen war. Doch wenn die Aussagen seiner Informanten stimmten, müsste sich gerade er selbst anstelle von Hannes mit Unannehmlichkeiten herumplagen, da der Verdächtige vor allem gegen den Kriminalhauptkommissar zu wettern pflegte.
Ganz fallen lassen wollte er seinen Verdacht dennoch nicht, denn in der betroffenen Ermittlung war eine vielversprechende Juristenkarriere jäh zunichtegemacht worden. Vorrang sollten aber eher die beiden anderen Fälle genießen: die Tierschützer und die Freikirche.
Das Telefon klingelte, geistesabwesend griff Federsen zum Hörer. Als er die Stimme erkannte, runzelte er die Stirn. Lauras Bruder! Anfangs hatten Federsen und er sich hervorragend verstanden, heute wünschte er sich, dass Lauras Eltern es bei einem Kind belassen hätten. Einen Teil der Schuld musste Federsen allerdings bei sich selbst suchen. Er hatte sich blenden lassen von der mit Euphorie vorgetragenen Geschäftsidee, die wie eine sichere Bank gewirkt hatte. Das Versprechen, ostdeutsche Immobilien zu Ramschpreisen zu erstehen und nach einer Sanierung gewinnbringend zu vermieten oder zu verkaufen, hatte nachvollziehbar geklungen. Erst hatte er sich mit Startkapital beteiligt, wobei ein Teil seiner Erbschaft draufgegangen war. Dann hatte Lauras Bruder aber einen Bankkredit nicht mehr bedienen können und von einem vorübergehenden Liquiditätsengpass gesprochen – den Federsen überbrückt hatte. Erst beim zweiten Mal war er misstrauisch geworden, beim dritten Mal wütend und dann … tja, und dann hatte er weiter gutes Geld schlecht investiertem hinterhergeworfen, um nicht alles zu verlieren. Zusammen mit den Rechnungen für Lauras Therapien hatte dies zu der trostlosen finanziellen Lage geführt, in der er sich seit Jahren befand. Laura ging noch immer davon aus, dass ihr kleiner Bruder beim Mauerfall den richtigen Riecher gehabt hatte, und wusste lediglich, dass ihr Mann sich mit Startkapital beteiligt hatte. Von den erheblichen finanziellen Verlusten ahnte sie nichts.
Zumindest war Federsen nun erleichtert, dass ihr Bruder nicht schon wieder wegen akuten Geldbedarfs anrief. Im Gegenteil, im Moment schien es sogar so gut zu laufen, dass er bald einen Teil der Schulden zurückbekäme. Darauf gab er allerdings gar nichts, das hatte er schon zu oft gehört. Vehement lehnte er den Vorschlag ab, dass sich der Bruder in den nächsten Tagen um die verletzte Schwester kümmern könnte. Laura telefonierte täglich mit ihm und hatte natürlich auch von dem Armbruch erzählt. Nach fünf Minuten gelang es Federsen, das Gespräch abzuwürgen, aber bevor er sich wieder Hannes’ Bedrohung widmen konnte, wurde er erneut gestört. Die Tür öffnete sich, ohne dass zuvor geklopft worden wäre. Federsen hasste das.
Marcel trat ein und deutete zum Fenster. »Ganz schöne Räucherkammer. Darf ich …?«
»Nein.«
»Dann fasse ich mich lieber kurz. Wir hatten Teambesprechung, weshalb warst du nicht dabei?«
»Weil ich nicht Teil des Teams bin.«
»Aber Hannes ist Teil deines Teams. Zumindest im Moment noch.«
»Ist mir nicht entfallen, dass sich das bald ändert. Du hast ihn mir ausgespannt.«
Marcels Gesicht rötete sich. »Ich hab ihn dir nicht …. Können wir das jetzt mal beiseitelassen? Es erstaunt mich, dass du wegen seinem … Wechsel so kaltschnäuzig auf seine Situation reagierst.«
»Wer behauptet denn, dass das so ist?«
»Du tust nichts, und es scheint dich nicht mal zu interessieren.«
Federsen verschränkte die Arme vor der Brust. »Da bist du auf dem Holzweg.«
»Hast du überhaupt schon mal mit ihm gesprochen?«
»Nein … das … ich bin noch nicht dazu gekommen. Aber im Hintergrund bin ich durchaus aktiv, auch wenn du dir das nicht vorstellen willst.«
»Henning.« Marcel trat näher. »Ich habe nichts gegen dich und bin dir nie in die Quere gekommen. Trotzdem behandelst du mich so, als ob ich dir ständig ans Leder wollte. Was hast du für ein Problem mit mir?«
»Gar keins.« Federsen sortierte seine Aufzeichnungen zu einem Stapel. »Ich hoffe sogar, dass du Erfolg hast. Vor allem in Hannes’ Interesse.«
»Verstehe. Du hast ihn wirklich gern, oder?« Marcel winkte ab. »Schon gut, würdest du eh nicht zugeben, ist mir klar. Wenn dir aber so an seinem Wohlergehen liegt, solltest du vielleicht dieses Pflanzenparadies verlassen und dich uns anschließen. Immerhin weißt du besser als jeder andere, was in seinen Ermittlungen passiert ist.«
»Davon habe ich euch schon einiges mit auf den Weg gegeben. Außerdem bin ich seit heute Morgen damit beschäftigt, die alten Akten durchzugehen und … gewisse Quellen anzuzapfen.«
Marcel löste seine verschränkten Arme. »Was kam dabei raus?«
»Dass wir uns auf die Freikirche und die Tierschützer konzentrieren müssen.«
»So weit waren wir ja schon. Inzwischen sind wir aber einen Schritt weiter.«
Marcel berichtete von der Verbindung, die zwischen dem Verdächtigen Kristian Schmelzer und einer der beiden Tierschützerinnen bestanden haben könnte. Als er erfuhr, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte, konnte Federsen nicht bestreiten, dass schnelle Fortschritte erzielt worden waren. Allerdings noch keine entscheidenden. Dass am Vorabend ein Hund getötet worden war, ließ tiefe Furchen auf seiner Stirn entstehen.
»Damit kann eine Hemmschwelle gefallen sein!«
»Ja, die Zeit von Sachbeschädigungen könnte vorbei sein. Umso wichtiger ist es, dass du hier nicht vor dich hin grübelst, sondern uns aktiv unterstützt.«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Wenn mir eine zündende Idee kommt, melde ich mich.« Als Marcel stehen blieb, griff er demonstrativ zum Hörer. »Sonst noch was?«
Marcel schüttelte den Kopf und verließ schweigend das Zimmer. Aufatmend legte Federsen den Hörer zurück. Die angekündigte Idee war ihm schneller gekommen als gedacht. Ob sie auch zielführend war? Er wusste, dass Juliane eine vielversprechende Kandidatin war – und damit auch Carina, die ihr hörig war. Nur: Der tote Hund passte nicht ins Bild. Welcher Tierschützer würde einen Hund töten oder töten lassen, um einen persönlichen Rachefeldzug auf die nächste Ebene zu hieven? Er hatte beide Frauen kennengelernt und hielt es für ausgeschlossen.
Vielleicht hatten sich die Ermittler auf eine Theorie eingeschossen, die zwar naheliegend, aber deshalb noch lange nicht zutreffend war. Dafür sprach auch, dass diese Stoßrichtung bislang komplett im Sande verlaufen war. Die Frage, wem die Mordermittlungen geschadet hatten, konnte man nicht nur mit einer Auflistung der überführten Mörder beantworten. Und auch nicht allein mit denjenigen, die dabei infolge anderer Taten aufgeflogen und verurteilt worden waren. Gab es daneben nicht weitere Personen, die durch die Ermittlungsarbeit Schaden genommen hatten? Entweder weil sie erfolgreich oder weil sie nicht erfolgreich genug verlaufen waren – sozusagen ein menschlicher Kollateralschaden? Wie zum Beispiel fast jeder aus der Alt-68er-Kommune, die sie bei der Wiederaufnahme von Fritz’ einzigem ungelösten Fall gesprengt hatten. Oder … Federsen drückte die Zigarette aus und erhob sich.
Oder wie jemand, der – zu Recht oder Unrecht – den Mordermittlern vorwerfen konnte, den Mörder nicht schnell genug aus dem Verkehr gezogen zu haben. Rache für vermeintliche Ermittlungsfehler? Das war ein Motiv! Und hier fiel Federsen vor allem ein junger Mann ein, den er völlig vom Radar verloren hatte, weil er eine Nebenfigur dargestellt hatte. Heute könnte er die Hauptfigur sein. Federsen befolgte Marcels Ratschlag und begab sich so schnell wie möglich ins Freie, um der Spur nachzugehen.
Wider Erwarten hatte sich Hannes am Vormittag voll auf das Training konzentrieren könne. Vermutlich war es die einzige Tätigkeit, die in der Lage war, ihn die bedrohliche Situation für ein paar Stunden vergessen zu lassen. Nun, da er das Auto vom Trainingsgelände zurück ins Stadtzentrum lenkte, wurden aber mit jedem Kilometer die Gedanken an die näher rückenden Olympischen Spiele von den aktuellen Ereignissen verdrängt. Vor allem das am Vorabend mit Ben geführte Telefonat lag ihm so schwer im Magen, dass er das Fenster herunterlassen und mehrmals tief ein- und ausatmen musste.
Ben hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, denn für Sockes Tod sei jemand anderes verantwortlich. Allerdings war er fix und fertig gewesen. Es war Hannes nahegegangen, seinen Freund zum ersten Mal weinen zu hören. Ausgerechnet Ben, der sonst der personifizierte Frohsinn war! Am Nachmittag wollte er wieder zurückkommen, weitere Tage bei seiner Mutter könne er nicht mehr ertragen, hatte er gesagt. Offenbar war das Zusammentreffen wenig harmonisch verlaufen, aber Hannes hatte Hemmungen gehabt, tiefer nachzubohren. Genauso befangen sah er dem Wiedersehen am Nachmittag entgegen, denn er gab sich durchaus eine Mitschuld an Sockes tragischem – und vermutlich qualvollem – Ende.
Zuvor musste er noch ein weiteres Treffen überstehen, dem er mit gemischten Gefühlen entgegensah. Nina würde sicher schon seit mindestens fünf Minuten im Café Seaside auf ihn warten. Pünktlichkeit war eines ihrer Markenzeichen. Die Lokalität hatte in einem früheren von Hannes’ Fällen eine Rolle gespielt. Sie wurde von der Exfreundin eines Rockstars geleitet, dessen exzentrische, aber auch äußerst erfolgreiche Band Cloud Palace heute nicht mehr existierte. Es war somit nicht nur der schönen Aussicht geschuldet, dass Hannes diesen Ort als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Vielmehr wollte er die Gelegenheit nutzen, um bei der Besitzerin vorzufühlen, ob die aktuelle Gefahrenlage ihren Ursprung im Umfeld der Band oder deren Fans haben könnte.
Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und wühlte im Handschuhfach nach der Sonnenbrille. Erneut war ein hochsommerlicher Tag heraufgezogen, die Temperatur lag mittags bei einunddreißig Grad. Beim Näherkommen bemerkte Hannes, dass fast jeder Tisch auf der Terrasse des Cafés besetzt war. Im Inneren versprühten diverse Schiffsutensilien einen maritimen Charme, draußen bot sich ein freier Ausblick auf einen Teil des Hafens. Suchend ließ Hannes seinen Blick über die Gäste schweifen, von denen der Großteil gerade Mittagspause haben dürfte, worauf auch die Gesprächsfetzen schließen ließen.
Ganz am Rande der Terrasse, neben einem gusseisernen Anker, bemerkte er eine Bewegung. Eine junge Frau war aufgestanden und winkte in seine Richtung. Kurz gerieten seine Schritte ins Stocken. Verärgert spürte er, dass seine Ohren stark durchblutet wurden und mit jedem weiteren Meter bestimmt kräftiger leuchteten. Nicht nur aus der Entfernung, auch aus nächster Distanz sah Nina hinreißend aus. Das hatte sie früher schon getan, aber heute … Der lässig-sportliche Look war einem eleganten Stil gewichen, zumindest an diesem Tag. Ob dies nur an dem neuen Job lag?
Das weiße Kleid war eng geschnitten und endete kurz über den Knien. Anstelle von Sportschuhen trug sie braune Sandalen mit breiten Absätzen, die farblich exakt dem dünnen Ledergürtel entsprachen. Ihre dunkelblonden Haare waren nicht mehr zu einem langen Zopf zusammengebunden, sondern umrahmten stufig geschnitten und mit aufgehellten Strähnen ihr Gesicht. Nur die lebhaften grünen Augen erinnerten an die Nina, die er kannte. Und noch etwas war unverändert geblieben, wie er bemerkte, als sie ihn umarmte. Ihr Parfüm. Also hatte er keinen so schlechten Geschmack gehabt, wie sie ihm manchmal vorgehalten hatte. Den Duft hatte nämlich er ausgesucht, als sie einmal am Bahnhof auf einen verspäteten Zug gewartet und sich in einer Boutique die Zeit vertrieben hatten.
»Ich hab dich sofort erkannt, hast dich überhaupt nicht verändert!« Nina griff nach seiner Sonnenbrille und hob sie an. »Auch die Augen nicht, was für ein Glück.«
Er erwiderte ihr Lächeln, vermutete aber, dass seines eher einer Grimasse glich. »Deine Augen auch nicht, aber sonst …« Vielsagend deutete er auf ihr Outfit. Sie war dezent geschminkt und hatte sich die Fingernägel lackiert. Nicht aufdringlich und passend zu dem restlichen Erscheinungsbild, aber jedes einzelne Detail führte dazu, dass es sich anfühlte, als stünde er einer Fremden gegenüber. Dies änderte sich erst, als sie ihm lachend gegen die Schulter boxte.
»Darunter sieht alles noch so aus, wie du es kennst. Hoff ich zumindest.«
Ihre direkte und anzügliche Art hatte sie sich also erhalten, genauso wie ihr ansteckendes Lachen. Als Folge ihrer Aussage stiegen unwillkürlich Bilder in ihm auf, die er schnell wieder zur Seite schieben wollte. Genauso wie ihren Versuch, nach fünf Jahren nahezu absoluter Funkstille die alte Vertrautheit übergangslos wieder aufleben zu lassen. Er deutete den Hügel hinunter in Richtung der Hafenkräne.
»Schon an die neue Umgebung gewöhnt?«
»Klar, ich hab zuletzt in Hamburg gewohnt, wusstest du das nicht?«
Woher?, hätte er am liebsten gefragt, schüttelte aber nur den Kopf. Schon nach dem ersten Jahr hatten sie nur noch per SMS belanglose Glückwünsche zum Geburtstag ausgetauscht. Jetzt fühlte sich ihre Begegnung falsch und richtig zugleich an, unwirklich und doch logisch. Nina war einmal ein so zentraler Bestandteil seines Lebens gewesen, dass es schier undenkbar erschien, hätten sie sich nie wieder getroffen. Ob sie es ähnlich empfand? Die Frage interessierte ihn zwar, er stellte sie aber nicht. Stattdessen deutete er auf die Stühle.
»Du hast den besten Tisch ergattert, wie lange hast du Zeit?«
Sie setzte sich und legte den Kopf schief. »Ich bin jetzt Abteilungsleiterin und hab deshalb so lange Zeit, wie du Zeit hast.«
»Gratuliere.« Er nahm ebenfalls Platz. »Bist also fleißig auf der Leiter nach oben geklettert.«
»Du nicht?«
Diesen Blick kannte er. Spöttisch, leicht überheblich und doch liebevoll. Er winkte ab. »Als Halbtagskraft klettert man nicht so schnell. Oder auch gar nicht. Immerhin konnte ich die Abteilung wechseln.«
»Ich weiß, du bist jetzt Mordermittler.«
Wieder dieser Tonfall. Er hob die Augenbrauen. »Woher weißt du davon?«
»Von deiner Mutter. Sie platzte vor Stolz.«
Natürlich. Die beiden hatten sich in ihrem Telefonat vermutlich ausgiebig ausgetauscht, und den verbliebenen Wissensrückstand versuchte Nina so schnell wie möglich auszumerzen. Nachdem sich beide für Caesar Salad und Eistee entschieden hatten, fragte sie ihn gründlich nach seinen letzten Jahren aus, und im Speziellen nach seiner Tätigkeit als Mordermittler. Eine halbe Stunde später fühlte sich Hannes völlig ausgesaugt – und beschloss, nicht mehr so viel von sich preiszugeben. Zumal Nina ein Thema einzukreisen begann, das er lieber außen vor halten wollte: seinen derzeitigen Beziehungsstatus. Er spießte das letzte Salatblatt auf, dann schob er den Teller zur Seite und leerte sein Glas. Eine Frau kam an den Tisch und nickte ihm lächelnd zu.
»Lange nicht gesehen, darf es noch was sein?«
»Nein danke, im Moment nicht. Können wir nachher kurz sprechen?«
Sie wirkte verwundert, nickte aber und ging zum Haus zurück.
»Kennst du die?«, fragte Nina. »Hat eine beeindruckende Ausstrahlung.«
»Ja, Leah heißt sie. War mal die Muse eines Rockstars. Bis wir kamen und … sich einiges verändert hat.«
»Hattest du was mit ihr?«
Entrüstet sah er sie an. »Ich kann Job und Freizeit auseinanderhalten.«
»Aber du hättest gern?«
»Nein. Außerdem … war ich damals schon mit meiner Freundin zusammen.« Es war wohl an der Zeit, die Fronten zu klären. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Nina ihn nicht nur hatte wiedersehen wollen, um in alten Erinnerungen zu schwelgen. Vielleicht täuschte er sich aber, denn sie nickte nur.
»Hat mir deine Mutter schon erzählt. Eine Zeugin aus deiner ersten Ermittlung. Job und Freizeit auseinanderzuhalten, war also nicht immer deine Stärke?« Ihr Grinsen wirkte spitzbübisch und nahm den Worten die Schärfe.
»Na ja, manchmal … hat sich auf jeden Fall gelohnt!«
»Freut mich für dich, ganz ehrlich!«
»Wie sieht’s bei dir aus?«
Mit dem Daumennagel bearbeitete sie abwechselnd die Nägel der anderen Finger. Es war eine vertraute Geste. Nina fühlte sich jetzt unwohl, wenn nicht gar niedergeschlagen. Er wusste, wie wichtig es ihr war, in einer Beziehung zu leben, und er ahnte die Antwort.
»Ich hab etwas geflunkert, weshalb ich hier gelandet bin. Das Abwerben … also es war schon eine Art Abwerben, allerdings hab ich es provoziert. In Hamburg lebte ich mit jemandem zusammen. Zwei Jahre. Als es vor sechs Monaten vorbei war … es war schnell klar, dass wir räumlichen Abstand brauchten. Ist immer schlecht, wenn einer die Trennung nicht akzeptieren kann.«
»Hat er dich gestalkt?«
Sie räusperte sich. »Nein und nein.«
Verwirrt sah er sie an.
Sie senkte den Blick. »Ich wurde nicht gestalkt, und es war kein er , sondern eine sie
»Was?«, entfuhr es Hannes. »Seit wann … wusste gar nicht, dass du …«
»… dass ich bisexuell bin? Bin ich gar nicht. Es war ein großer Irrtum. Ich … ach, Hannes, was soll ich sagen. Mir ging es echt beschissen, als du und ich uns getrennt haben. Jahrelang. Da dachte ich, dass das Problem wohl tiefer liegen müsste. Eine Freundin redete mir ein, dass ich vielleicht gar nicht auf Männer stehe.«
Hannes schluckte. Das kam überraschend – und er hätte nie gedacht, dass Nina eine ähnlich schwere Zeit durchgemacht hatte wie er selbst. Wenn auch mit anderem Ausgang. Er versuchte die Spannung mit einer Witzelei aufzulösen.
»Dann sollte ich dich mit einer Freundin von mir bekannt machen. Elke. Sie ist lesbisch und … echt nett. Anna ist gerade bei ihr untergekommen.«
Nina hob wieder den Blick. »Ich dachte, ihr wohnt zusammen? Hattet ihr Streit?«
»Nein, gar nicht! Es ist nur …« Hannes brach ab, dann gab er sich einen Ruck und erzählte ihr, was in den vergangenen Tagen vorgefallen war. Immerhin war dies ja der eigentliche Grund, weshalb er sich überhaupt mit Nina verabredet hatte. Zum einen tat es gut, mit jemand Unbeteiligtem über alles zu reden, und zum anderen fiel ihr vielleicht jemand ein, der einen Groll gegen ihn hegen könnte. Als er geendet hatte, griff sie nach seiner Hand.
»Wie furchtbar! Was, wenn es nicht aufhört? Wenn du am Ende sogar …« Sie verstummte.
»Dann habe ich wohl die kürzeste Laufbahn als Mordermittler in der Geschichte hingelegt«, kommentierte Hannes lapidar.
»Und bist gleichzeitig der, der sich als Schnellster lebensbedrohliche Feinde gemacht hat. Es will sich also jemand dafür rächen, dass du ihn überführt hast?«
»Der Verdacht liegt nahe. Warum trifft es aber nur mich? Da muss mehr dahinterstecken. Vielleicht sind wir auf der völlig falschen Spur.«
»Wer sonst sollte dir etwas antun wollen?«
Hannes setzte die Sonnenbrille ab. »Ich habe gehofft, dass du vielleicht eine Idee hast.«
»Ich?« Ihre Finger lösten sich von seiner Hand. »Wie kommst du darauf?«
»Weil wir … so eng wie mit dir war ich noch nie mit jemandem. Wir haben über alles geredet, fast alles zusammen gemacht. Trotz Fernbeziehung.«
Sie nickte stumm, und ihr Blick schien sich im Hafengelände zu verlieren.
»Fällt dir irgendjemand oder irgendetwas ein?«, fuhr Hannes fort. »Eine mögliche Erklärung für diese Attacken gegen mich?«
»Spontan nicht. Ich kenne niemanden, der zu so was fähig wäre. Aber ich weiß natürlich nicht, in welchen Kreisen du dich nach mir rumgetrieben hast.«
Hannes winkte ab, ohne näher auf die Fopperei einzugehen. Dass er sich lange zurückgezogen und sogar Freundschaften hatte versanden lassen, wollte er ihr nicht anvertrauen. Rückblickend schämte er sich für diese Schwächephase, die fast zwei Jahre gedauert hatte.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach Nina. »Das hat mich jetzt überrumpelt.«
»Sollte dir eine Idee kommen, ruf mich sofort an«, bat Hannes. »Wer weiß, wann der nächste Angriff stattfindet. Wenigstens ist die letzte Nacht ruhig verlaufen, allerdings hatte ich auch Personenschützer an meiner Seite.«
»So ernst ist es also?«
»Na ja, wer einen Hund ermordet, ist wohl auch in der Lage, sich an einem Menschen zu vergehen.«
»Sag das nicht.«
»Stimmt, du magst ja keine Hunde. Eigentlich hätte mir dadurch schon klar sein müssen, dass es nie was mit uns werden kann.« Er zwinkerte ihr zu.
Ihre Augen fixierten ihn. »Ich glaube, dass wir einfach zu unreif waren. Denn eigentlich waren wir ein perfektes Paar. Heute wären wir vielleicht souveräner.«
»Tja, wer weiß.« Hannes sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. »Wir müssen leider bezahlen, ich muss gleich weiter zu meinem Exchef. Er liegt mit Krebs auf der Palliativstation. Soll ich dich unterwegs irgendwo absetzen?«
»Danke, aber ich bin selbst mit dem Auto da. Ein Dienstwagen, nicht übel, oder?«
Hannes bekam ein schlechtes Gewissen. »Wir haben fast die ganze Zeit nur über mich geredet. Ich weiß noch nicht mal, wo du jetzt arbeitest.«
Nina winkte nach der Bedienung, wobei Hannes einfiel, dass er noch mit Leah hatte sprechen wollen. Fritz würde sich etwas gedulden müssen. Weshalb er wohl so dringend auf einen Besuch gepocht hatte? Hoffentlich war seine letzte Stunde nicht schon näher, als Hannes ohnehin befürchtete. Er merkte, dass Nina ihn beobachtete.
»Was ist?«, fragte er.
»Na, ich überlege gerade, mit welchem Lokal ich mich revanchieren kann. Wenn du etwas aus meinem Leben hören willst, kommen wir um ein weiteres Treffen nicht herum. Morgen Mittag gleiche Zeit?«
»Öhm … ja, warum nicht?«
»Gut!« Nina stand auf. »Ich schicke dir rechtzeitig die Adresse. Und bis dahin: Pass auf dich auf! Danke für die Einladung.«
Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann ging sie in Richtung Parkplatz, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dafür wandten sich an den Nachbartischen einige Köpfe nach ihr um, wie Hannes bemerkte. Er unterdrückte ein Schmunzeln, da sich Leah dem Tisch näherte. Irgendwie fühlte es sich gut an, Nina wieder um sich zu wissen. Allerdings führte diese Erkenntnis zu einem Magenzwicken. Weniger, weil er diese alte Liebe wieder hätte aufwärmen wollen. Davon war er weit entfernt, immerhin wusste er, dass Anna ein Glücksgriff war, wie man ihn wohl kaum ein zweites Mal hinbekam. Was war dann der Grund? Resolut schob er alle weiteren Überlegungen zur Seite, um sich auf die Befragung von Leah zu konzentrieren, die sich soeben auf Ninas Platz niedergelassen hatte und ihn fragend ansah.
Nachdem sie den Großteil des Tages außerhalb des Präsidiums verbracht hatten, versammelten sich Isabell, Per und Marcel am Nachmittag im Konferenzraum, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Eigentlich hatte auch Federsen an dem Meeting teilnehmen sollen, aber er war nicht auffindbar und ging nicht ans Telefon. Stattdessen hatte sich Steffen Lauer eingefunden, der sich als Leiter der Mordkommission besorgt und empört darüber zeigte, dass einer seiner Mitarbeiter ins Visier eines Vergeltungstäters geraten zu sein schien. Dass Hannes darüber hinaus bei ihm einen Stein im Brett hatte, war ein offenes Geheimnis.
»Wie steht es um seinen Schutz?«, lautete dementsprechend Lauers erste Frage.
»Die vergangene Nacht hat er schon mal überlebt.« Marcels Ton ließ Lauers Augenbrauen nach oben wandern.
»Und seitdem?«
»Seitdem legt er Wert darauf, seiner eigenen Wege gehen zu können. Personenschutz akzeptiert er nur nachts.«
Die Tür hatte sich geöffnet, und Clarissa war eingetreten. Da es momentan keine dringlicheren Aufgaben zu erledigen gab, war sie ebenfalls hinzugezogen worden. Bei mehreren von Hannes’ Ermittlungen war sie an seiner Seite aktiv gewesen, sodass sie über mögliche Motive genauso gut Bescheid wusste wie Isabell.
»Kann verstehen, dass Hannes nicht ständig Bodyguards um sich haben will«, meinte sie und setzte sich neben Isabell. »Solange er seine Waffe dabeihat, mach ich mir wenig Sorgen.«
»Blödsinn!«, erregte sich Isabell. »Es gibt genug Möglichkeiten, jemanden aus dem Hinterhalt umzulegen, das weißt du genau. Denk an den manipulierten Reifen oder …«
»Das hätten nicht mal Personenschützer verhindern können. Der beste Schutz ist, die Gefahrenlage zu beenden. Und da hab ich ’ne Idee.«
»Lassen Sie hören.« Lauers sorgenvoller Gesichtsausdruck glättete sich.
»Darauf gekommen bin ich, als ich über das Foto seiner Freundin nachgedacht habe«, sagte Clarissa. »Ich hab mir die Frage gestellt, weshalb das jemand aus der Kajüte von Hannes’ Kutter mitgenommen hat.«
»Weil derjenige Hannes das Leben zur Hölle machen will und deshalb auch seine Freundin angreifen könnte«, erwiderte Isabell.
»Das ist die eine Möglichkeit. Aber warum wurde das Bild weggeworfen? Es könnte auch andersherum sein. Der eigentliche Grund – oder besser gesagt das Motiv – für das alles ist nicht Hannes, sondern Anna.« Beifall heischend sah Clarissa in die Runde.
»Können Sie diese Vermutung genauer erläutern?« Lauer wirkte alles andere als überzeugt.
»Mir ging nicht aus dem Kopf, dass bislang alle Bemühungen, die Ursache in Hannes’ Job zu finden, Rohrkrepierer waren. Obwohl ihm dabei genügend Verrückte über den Weg gelaufen sind, denen man es zutrauen könnte. Der Großteil sitzt aber im Knast oder ist tot, und das Umfeld haben wir in den letzten Tagen ebenfalls überprüft. Auf irgendwas hätten wir stoßen müssen!«
»Sind wir doch«, entgegnete Isabell. »Kristian ist ein Tatverdächtiger, und Verbindungen zu den Tierschützern sind auch nicht unwahrscheinlich, da er mit Carina im selben Haus wohnte.«
Per wollte sich an dieser Stelle zu Wort melden, aber Clarissa stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Tierschützer, die einen Hund umbringen lassen? Das ist absurd!«
»Vielleicht handelt Kristian auf eigene Faust. Er hat den Auftrag, Hannes immer mehr Angst einzujagen, sucht sich die Mittel dazu aber selbst aus«, wandte Isabell ein.
»Kann sein, ja. Darf ich jetzt endlich mal meinen Gedanken zu Ende führen?« Streng sah Clarissa Per an, der erneut etwas sagen wollte. »Es gibt bislang keine belastbare Spur in Hannes’ beruflicher Vergangenheit, da sind wir uns wohl einig. Kann ja sein, dass sich noch eine auftut, aber so sieht’s im Moment aus. Was sein Privatleben betrifft, ist es das Gleiche. Zumindest fällt ihm niemand ein, den er sich zum Feind gemacht haben könnte. Was ich nachvollziehen kann, denn … ich meine, ihr kennt Hannes so gut wie ich!«
»Bei seiner Freundin könnte das aber anders sein?«, fragte Marcel.
»Nicht, dass sie jemanden zum Feind hat, denn dann wäre sie das Hauptziel und nicht Hannes. Nein, eher so, dass jemand näher an sie ran will – sie vielleicht sogar zurückhaben möchte.«
»Also eine Art eifersüchtiger Stalker, der den Weg für sich freiräumen will? Warum dann dieses scheibchenweise Vorgehen?«
»Vielleicht weil er einen Menschen nicht töten kann. Es reicht ihm, wenn er die beiden auseinanderbringt. Den ersten Schritt hat er ja schon geschafft: Anna ist ausgezogen. Vielleicht setzt er darauf, dass sich die beiden auseinanderleben.«
»Was sagt Anna dazu? Gibt es jemanden, auf den das zutreffen kann?«
»Ich hab noch nicht mit ihr darüber gesprochen. Aber erinnert ihr euch an den Fall, als Hannes nach Schweden musste? Da hat sich so ein komischer Typ an sie rangewanzt.«
Isabell nickte. »Marius Beer, nannte sich Manu. Eine merkwürdige Geschichte war das schon. Ganz zurechnungsfähig war der Kerl definitiv nicht.«
»Dann sollte er überprüft werden«, entschied Lauer. »Auf den ersten Blick überzeugt mich Ihre Theorie zwar noch nicht, aber …«, begütigend hob er die Hand, als Clarissa aufbrausen wollte, »sie ist auch nicht völlig abwegig. Sprechen Sie vorsichtshalber mit Herrn Niehaus’ Freundin darüber. Wollen die beiden nicht bald heiraten?«
»So ist es.«
»Hm.« Lauer fuhr sich über die Glatze. »Die anstehende Hochzeit könnte bei einem enttäuschten Liebhaber eine Kurzschlussreaktion ausgelöst haben. Trotzdem … wir sollten die zurückliegenden Mordermittlungen weiter mit Priorität behandeln. Wo stehen wir da?«
Wieder versuchte sich Per bemerkbar zu machen, diesmal war es Marcel, der ihm zuvorkam. Im Schnelldurchgang handelte er jeden einzelnen Fall von Hannes’ Ermittlerkarriere ab, präsentierte die potenziellen Verdächtigen mit ihren möglichen Motiven und zog anschließend ein Fazit, ob sie infrage kamen oder nicht. Dass er und sein Team in der Kürze der Zeit keine Spur unbeachtet gelassen und jede Menge Verhöre durchgeführt hatten, imponierte dem Leiter der Mordkommission sichtlich.
»Alle Achtung, haben Sie einen Achtundvierzig-Stunden-Tag?«
»Leider nicht.« Marcel schien das mitschwingende Lob zu überhören. »Wir haben uns aber einige Kollegen ausgeliehen, sonst wären wir kaum da, wo wir jetzt stehen.«
»Dann bleiben also drei Personenkreise übrig«, stellte Lauer fest.
»Na ja, das kann man abschließend nicht sagen. Wenn jemand die Schmutzarbeit an einen Außenstehenden delegiert hat, dann … dann haben wir kaum eine Chance, solange es keine Zeugen oder verwertbare Spuren gibt. Den erweiterten Dunstkreis jedes überführten Täters zu durchleuchten, ist extrem zeitaufwendig. Deshalb haben wir uns zunächst auf diejenigen konzentriert, die uns am wahrscheinlichsten vorkommen.«
»Die Tierschützerin Juliane samt ihrer Freundin Carina, die Freikirche und das Umfeld der Band Cloud Palace «, fasste Lauer zusammen.
»Wobei es zu den Tierschützern noch die konkreteste Spur gibt«, fügte Isabell hinzu. »Allerdings hat Carina keinen persönlichen Kontakt mehr zu Juliane, ich bin die Besucherliste im Gefängnis durchgegangen. Die beiden könnten jedoch miteinander telefoniert haben. Telefonate werden nicht standardmäßig überwacht, sondern nur bei gegebenem Anlass.«
»Der jetzt vorliegt«, sagte Lauer. »Informieren Sie die Gefängnisleitung, dass ab jetzt jedes Telefonat ausgewertet wird. Das gilt für alle anderen relevanten Insassen genauso. Wo hält sich diese Carina eigentlich auf?«
»Wissen wir nicht. Seit Julianes Verhaftung verliert sich ihre Spur. Ich habe allerdings starke Zweifel, dass sie die Taten begangen hat. Sie hat selbst einen Hund, den sie innig liebt. Niemals würde sie einen Hund vergiften.«
»Womit wurde das Tier eigentlich getötet?«
Marcel zog ein Papier hervor und schob es über den Tisch. »Die Details stehen hier drauf. Es handelt sich um ein schnell wirkendes, geschmackloses Mittel, das in das Fleisch am Knochen gespritzt wurde. Rindfleisch übrigens.«
»Wo bekommt man dieses Gift her?«
»Es ist ein Pestizid, das in der Landwirtschaft eingesetzt wird. Es war geschickt ausgewählt, das heißt, der Täter muss sich auskennen. Wahrscheinlich kann man das aber auch im Internet herausfinden. Es gibt sicher Seiten, auf denen sich perverse Hundehasser über so was austauschen.«
»Augenzeugen gab es keine?«
Isabell berichtete von den Befragungen in der Nachbarschaft, deren Ergebnis sich mit der Beobachtung von Oles Enkel am Hafen deckte. Die einzige Spur war der rote Motorroller, von dem sich aber niemand das Kennzeichen gemerkt hatte. Da Motorroller – anders als Autos – nicht zentral von einer Zulassungsbehörde erfasst wurden, konnte man nicht per Knopfdruck überprüfen, wer über ein derartiges Gefährt verfügte. Das Gesicht des Fahrers hatte niemand erkennen können, aber seine Statur hatten alle als schmächtig angegeben. Eine Beschreibung, die nicht auf Kristian Schmelzer hindeutete, wie Isabell einschränken musste.
»Trotzdem ist er gerade unsere Hauptzielperson«, erklärte sie. »Aber von ihm fehlt immer noch jede Spur.«
»Nicht ganz«, sagte Per.
Alle Köpfe drehten sich zu ihm.
»Wieso? Wurde er gesehen?«, fragte Marcel.
»Nein, aber er hat sein Handy benutzt. Seine Nummer wurde erfolglos überwacht, wie ihr wisst. Er besitzt aber noch ein anderes, das uns bislang unbekannt war. Wahrscheinlich ein Prepaidhandy.«
»Woher weißt du das?«, hakte Isabell nach.
»Weil ihn jemand aus der autonomen Szene in Hamburg darauf angerufen hat, der seinerseits seit Monaten überwacht wird. Diese Info haben mir die Kollegen vorhin …«
»Sag mal, Per, geht’s noch?«, explodierte Marcel. »Wieso hältst du mit so einer wichtigen Nachricht hinterm Berg?«
»Ich kam ja nicht zu Wort.«
»Manchmal verhältst du dich wie ein Fünftklässler«, fuhr Clarissa ihn an.
Marcel seufzte, hatte sich aber wieder im Griff. »Um was ging es in dem Telefonat, und vor allem: Wo wurde das Handy geortet?«
»Es ging darum, dass er gewarnt wurde. Wartet, ich hab’s aufgeschrieben.« Per strich ein zerknittertes Papier glatt. »Die Kollegen von dem Bullen mit den Huskyaugen suchen nach dir. Stimmt es, dass du hinter dem her bist? Darauf seine Antwort: Klar, er ist das perfekte Ziel, um mal zurückzuschlagen. So in dem Ton ging das dann weiter hin und her. Interessant wurde es erst, als es um Kristians Versteck ging. Er sagte nämlich: Hier im Dschungel findet mich eh niemand.«
»Das heißt, er ist im Ausland?«
»Nee, laut Handyortung hier in der Stadt. Das Telefonat dürfte er mitten vom Marktplatz aus geführt haben.«
Clarissas Fingernägel trommelten auf die Tischplatte. »Und wo ist er jetzt?«
»Das Handysignal ist nicht mehr zu orten. Ich ahne aber, was er mit dem Dschungel gemeint haben dürfte.«
»Teilst du uns das noch mit, oder möchtest du es für dich behalten?«, fragte Marcel, als sich die Pause hinzog.
»Hinter dem stillgelegten Teil des Hafens gab es mal den Versuch, einen Kletter- und Skatepark zu etablieren. Nach ein paar Jahren ging der Betreiber bankrott, das war letzten Sommer. Wisst ihr, wie er das Gelände genannt hatte?«
Marcel und Lauer schüttelten den Kopf, während Isabell langsam nickte. »Dschungelcamp . Weil es völlig verwildert war. Ich bin mal dort gewesen. Hat mir nicht gefallen, war alles ziemlich ungepflegt. Heute treiben sich da öfter Junkies rum.«
»Und vermutlich dieser Kristian.« Per sah Marcel triumphierend an. »Heute Nacht sollte das Gelände durchkämmt werden, was meinst du?«
»Organisieren Sie das!«, antwortete Lauer an Marcels Stelle. »Und achten Sie darauf, dass sich Herr Niehaus in den verbleibenden Stunden bis zum Zugriff in Sicherheit befindet! Wenn sich Kristian Schmelzer eingekreist fühlt, könnte er unberechenbar werden!«
Hannes ignorierte das Klingeln seines Handys, nachdem er sich mit einem Blick aufs Display versichert hatte, dass es nicht Anna war, die ihn zu erreichen versuchte. Er telefonierte in regelmäßigen Abständen mit ihr, um zu hören, ob alles in Ordnung war. Aus ähnlichen Gründen dürfte es gerade Isabell bei ihm versucht haben, doch er fand es gar nicht schlecht, wenn seine Kollegen in Sorge waren. Zwar zweifelte er nicht an ihrem Einsatzwillen, aber da er selbst aus dienstrechtlichen Gründen keine aktive Rolle im Team spielen durfte, sollte zumindest der Ermittlungsdruck so hoch wie möglich sein.
Er suchte sich auf dem Besucherstuhl eine bequemere Position, was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Ob dieses vorsintflutliche Sitzmöbel dem Zweck dienen sollte, Besucher möglichst kurz in den Zimmern der zum Sterben Verurteilten verweilen zu lassen, um die tägliche Routine nicht allzu lange zu stören? Hannes ließ sich davon jedoch nicht beirren. Zu kostbar waren ihm die Momente des Zusammenseins mit seinem früheren Vorgesetzten Fritz, als dass er viele Gedanken an seinen Komfort verschwendet hätte.
Dass Fritz vierundsechzig Jahre alt war, musste man schon wissen, denn erraten hätte man es nicht. In seinem ausgemergelten Zustand wirkte er wie ein Greis auf den letzten Metern des Lebens. Sogar seine Stimme hatte, obwohl sie früher schon chronisch heiser gewesen war, an Kraft verloren. Fritz sprach schwerfällig und leise, es war weder zu überhören noch zu übersehen, dass sich sein Zustand weiter verschlechtert hatte. Selbst seine – angesichts eines wiederholten Versuchs von Isabell, Hannes zu erreichen – zu erwartende Frage, ob gerade an einem neuen Fall gearbeitet wurde, klang schwach und mehr wie ein Automatismus. Noch vor wenigen Wochen hätte er eine Salve an Fragen abgefeuert und versucht, hilfreiche Anregungen zu geben.
Hannes musste nur kurz mit sich ringen, ob er seinem Mentor von seiner aktuellen Notlage berichten sollte. Alles in ihm drängte ihn dazu, es zu tun, immerhin war Fritz selten um einen guten Ratschlag verlegen. Doch diesmal war etwas anders, das spürte Hannes, und er brachte es nicht über sich, dem Kranken noch mehr Kummer zu bereiten. Den Verlust der Lena wollte er ihm erst recht vorenthalten. Er bemühte sich um ein fröhliches Gesicht und winkte ab.
»Es geht um meine Hochzeit. Anna schmiedet jede Minute neue Pläne, sie kann mir später die neuesten Ideen erzählen.«
»Wann ist noch mal das Datum?«, krächzte Fritz.
»Mitte September.« Hannes’ beklemmendes Gefühl steigerte sich. Normalerweise verfügte Fritz über ein Elefantengedächtnis. »Wir hoffen auf einen milden Spätsommertag. Du sollst dir ja keinen Schnupfen einfangen.«
Fritz hustete und klang dabei wie ein Seehund. »Ich hab’s dir schon mal gesagt: Keine Chance, dass ich euch als Gespenst die Hochzeit versaue. Wie sieht das denn auf den Fotos aus, die ihr später euren Kindern zeigt!«
»Ohne dich würde aber jemand ganz Wichtiges fehlen«, gab Hannes zurück. Mittlerweile war ihm jedoch klar, dass Fritz tatsächlich außerstande sein würde, der Feierlichkeit beizuwohnen. Rasch wechselte er das Thema. »Die Krankenschwester hat mir gesagt, dass du mich unbedingt sprechen wolltest. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Fritz faltete seine Hände auf der Bettdecke ineinander und sah ihn feierlich an. »Ich wollte dich sehen.«
»Einfach so? Es klang dringend.«
»Na ja, wer weiß schon, ob er am nächsten Tag noch am Leben ist. Das gilt für jeden von uns, auch für dich. Mir ist das im Moment nur bewusster als allen anderen, die draußen rumlaufen.« Er zeigte zum Fenster.
»Das … ist wohl so.« Wie so häufig überlegte Hannes, ob Fritz über einen siebten Sinn verfügte. »Aber ich hoffe stark, dass du auch morgen noch die Augen aufmachst.«
Wider Erwarten verzichtete Fritz auf eine sarkastische Replik. »Du triffst mich hier zum letzten Mal«, verkündete er. »Man wird mich verlegen.«
»Wohin denn? Und warum?«
»Ins Hospiz. Was deine zweite Frage ebenfalls beantwortet. Das ist die Endstation, man wird mir den Sabber abwischen, den Hintern waschen und … ach, verdammt!« Er biss sich auf die Lippen und fuhr sich über die Augen. Dann stierte er angestrengt an Hannes vorbei zur Wand.
Hannes schwieg. Jedes tröstende Wort wäre fehl am Platz gewesen, so gut kannte er den Alten Fritz, wie er in Kollegenkreisen genannt worden war. Besser war es, nichts zu beschönigen, zugleich aber eine positive und konstruktive Formulierung zu wählen. So hatte es Fritz im Berufsleben gehalten, da lag es nahe, dass er im Privaten ähnlich tickte. Und Hannes meinte zu wissen, was ihn am meisten beschäftigte.
»Mir ist es egal, ob ich ins Krankenhaus oder in ein Hospiz fahre«, erklärte er und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Vielleicht gibt es da sogar besseren Kaffee als hier, sodass ich mich nicht mehr mit deiner Notlösung abplagen muss.« Hannes machte eine Kopfbewegung zu dem Sideboard hin, auf das sich Fritz seine eigene Kaffeemaschine hatte stellen lassen. »Willst du eigentlich einen?«
»Nein, schmeckt mir nicht mehr. Eigentlich schmeckt mir gar nichts mehr, das wird sich wohl auch im Hospiz nicht ändern.«
In diesem Moment schien Fritz bewusst zu werden, dass er seit Hannes’ Eintreten nur mit Klagen beschäftigt war. Eine Unart, die er verabscheute und sich nie zu eigen hatte machen wollen. Er versuchte, sich mit dem Kissen in eine aufrechtere Position zu bringen, scheiterte aber. Er überspielte es, indem er Hannes zublinzelte.
»Immerhin besteht die Hoffnung, dass es dort ansehnlichere Pflegerinnen gibt als hier.«
»Die sind doch alle total nett. Wenn du dich ihnen gegenüber anders verhalten würdest … wie man in den Wald hineinruft …«
»Erspar mir deine Klugschwätzerei. Das erinnert mich an mich selbst in unserem ersten Fall. Meine Güte, muss ich dir auf die Nerven gefallen sein. Und bei all den weiteren Ermittlungen genauso.«
»Überhaupt nicht«, protestierte Hannes. »Du warst eine große Hilfe! Erst aus dem Gefängnis und dann von hier aus. Ohne dich hätten wir einige Morde wahrscheinlich gar nicht aufklären können.«
Sichtlich dankbar griff Fritz die Einladung auf, sich auf sicheres Terrain zu begeben. Eine halbe Stunde tauschten sie sich über die Geschehnisse der letzten Wochen aus und schafften es sogar, immer wieder in Gelächter auszubrechen. Vermutlich weil sie die dunklen Seiten konsequent aussparten. So wie ihn der Austausch anregte, erschöpfte er Fritz aber auch. Als ihm die Lider schwer wurden, griff Hannes nach seiner Hand und drückte sie.
»Ich kann morgen wiederkommen, wenn du willst. Oder findet da schon dein Umzug statt?«
»Nein, der ist übermorgen, aber morgen wird alles vorbereitet, da stehst du besser nicht im Weg rum. Ursula war auch heute schon da, und … tja, sie ist wirklich eine treue Seele.«
Fritz blinzelte, und Hannes ahnte, was in ihm vorging. Ursula war Fritz’ große Jugendliebe gewesen, die er jahrzehntelang aus den Augen verloren hatte. Als sie sich wieder begegnet waren, hatte sich der Krebs schon so tief in seinen Leib hineingefressen, dass es keine Hoffnung mehr auf eine späte Romanze hatte geben können. Immerhin hatte ihr Fritz mit Hannes’ Hilfe Seelenfrieden verschaffen können: Es war ihnen gelungen, den vierzig Jahre zurückliegenden Mord an ihrer Mutter und das Verschwinden ihres Vaters doch noch aufzuklären.
»Eine Bitte hab ich noch.« Fritz deutete auf den Nachttisch. »Nimm diesen Briefumschlag mit, öffne ihn aber erst, wenn ich nicht mehr da bin. Jetzt habe ich noch die Kraft zum Schreiben gehabt, aber wer weiß … na ja, wie gesagt. Wir alle können jeden Moment ins Gras beißen.« Nun war er es, der Hannes’ Hand drückte. »Es tut gut zu wissen, dass du mein Freund bist. Und ich danke dir, dass du mich nicht hast hängen lassen, obwohl du allen Grund dazu gehabt hättest!«
Hannes nickte nur, der Kloß im Hals verhinderte eine Erwiderung.
»Und jetzt sieh zu, dass du rauskommst und mit Anna sprichst«, forderte Fritz ihn barsch auf. »Immerhin habt ihr die Hochzeit des Jahres vorzubereiten. Hoffentlich sogar die eures Lebens!«
Hannes fand die Sprache wieder. »Die du dir nicht entgehen lassen solltest. Und wenn es nur ein Video ist, mit dem ich dich langweilen werde. Ich lasse mir gleich die Adresse von dem Hospiz geben. Spätestens am Wochenende schau ich, wie du dich eingerichtet hast.« Er erhob sich und streckte sein Kreuz durch. »Hoffentlich ist es dort für deine Besucher bequemer. Bis bald, Fritz!«
»Denk an den Umschlag!«, rief ihm Fritz hinterher, als er zur Tür ging.
Hannes drehte sich um und ging zum Bett zurück. Als er den Umschlag entgegennahm, erkannte er, dass Fritz’ Hände zitterten. Wieder versperrte der hartnäckige Kloß im Hals weiteren Worten den Weg. Bevor Fritz den verdächtigen Glanz in seinen Augen erkennen konnte, lief Hannes schnell zur Tür zurück. Dann drehte er sich doch noch einmal um.
»Frag jetzt nicht, was in dem Umschlag ist«, meinte Fritz. »Vielleicht ja ein Hochzeitsgeschenk. Lass dich überraschen.«
»Von mir aus. Ich hab sowieso gerade genug andere Fragen zu klären.«
Fritz zwinkerte ihm zu. »Die richtigen und wichtigsten Fragen beginnen immer mit einem Warum? Vergiss das nicht.«
Hannes musste schmunzeln. Fritz liebte es, das letzte Wort zu behalten, und er gönnte ihm den Spaß. Leise zog er die Tür ins Schloss und atmete tief durch. Er hasste Krankenhäuser, aber ob ein Besuch im Hospiz erquicklicher sein würde? Gespannt war er schon, wie es in einer derartigen Einrichtung zuging, aber lieber hätte er noch ein paar Monate auf diese Erfahrung verzichtet. Seine Finger tasteten den Umschlag ab, neben Papier musste sich noch ein anderer Gegenstand darin befinden. Er widerstand der Versuchung, den Brief an Ort und Stelle zu öffnen. Stattdessen zog er das Handy hervor und wählte Isabells Nummer, um den Grund ihres Anrufs zu erfahren.