KAPITEL
6
Die hohen Temperaturen verpassten Federsen einen hochroten Schädel und sorgten für ein durchgeschwitztes Hemd. Zum wiederholten Mal wischte er sich mit einem Taschentuch über das Gesicht, zudem öffnete er einen weiteren Hemdknopf. Zwei Teenager schlenderten an ihm vorbei, beide trugen Kopfhörer und hatten den Blick auf ihre Smartphones gesenkt. Federsen begriff diese Generation nicht. Keine Augen für die Umgebung, keine Unterhaltung, keine Emotionen. Dabei bot das Gelände genügend Ablenkungsmöglichkeiten, er selbst hätte als junger Mensch Besseres mit diesem schönen Tag anzufangen gewusst.
Dicht vor ihm gingen die Jugendlichen durch das Tor, dann steuerten sie die Bushaltestelle an, vermutlich wollten sie in die Stadt. Das Waldhaus
der Jugendschutzstelle befand sich passend zu seinem Namen in einem Mischwald am Rande der Stadt. Es war kein düsterer Ort, ganz im Gegenteil. Es gab eine zu einem Bach hin abfallende Wiese, einen Bolzplatz, Tischtennisplatten, Sitzgruppen und sogar einige Tiere, um den in Not geratenen Jugendlichen ein neues und zugleich friedvolles Zuhause zu bieten. Für manche dürfte dies eine völlig ungewohnte Erfahrung sein. An dem inneren Gleichgewicht arbeiteten Sozialpädagogen und anderes Fachpersonal mit unterschiedlichem Erfolg, wie Federsen schon beim Eintreten bemerkt hatte.
Ein vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen hatte in der Eingangshalle randaliert und den Erziehern Ausdrücke an den Kopf geknallt, von denen der Kriminalhauptkommissar einen Großteil noch nie gehört hatte. Dennoch hielt er sich mit einer Bewertung zurück, schließlich wusste er, dass jeder einzelne Minderjährige aus einem tragischen Grund hier untergebracht war und kaum aus Eigenverschulden. In fast allen Fällen war die Ursache bei den Eltern zu suchen. Manche waren Alkoholiker, andere gewalttätig oder kriminell, ein paar alles zusammen. Wie sollte ein junger Mensch eine derartige Umgebung ohne Schaden überstehen?
Besonderes Mitgefühl verspürte Federsen mit der Gruppe der Waisen, die durch ein Unglück, Verbrechen oder eine Krankheit beide Elternteile verloren hatten und nirgendwo anders unterkommen konnten. Er selbst hatte immer wieder mit dem Gedanken an eine Adoption gespielt, da Laura und ihm keine eigenen Kinder vergönnt waren. Seine Frau hatte sich mit der Vorstellung hingegen nicht anfreunden können, sodass er solche Vorstöße irgendwann aufgegeben hatte. Vergessen konnte er diese Möglichkeit aber nicht, auch wenn er aufgrund seines Alters nun wohl nicht mehr als Adoptivvater infrage kam.
Auch jetzt, als er wieder auf der Straße angekommen war und vor seinem Auto stand, rumorte der Frust in ihm, vom Schicksal ungerecht behandelt worden zu sein. Er wäre ein prima Vater gewesen, so wie Laura eine tolle Mutter hätte sein können. Nicht nur ihr eigenes Leben hätte bereichert werden können, ein Kind hätte es gut bei ihnen gehabt. Er verspürte Ärger auf Laura, dass sie sich einer Adoption stets energisch widersetzt hatte.
Die Sonne verschwand hinter den Bäumen und näherte sich dem Horizont, aber selbst im Schatten war es noch angenehm warm. Er zog die Hand, die schon den Türgriff seines Autos umfasst hatte, noch einmal zurück. Kurz entschlossen
verriegelte Federsen den Wagen wieder und lenkte seine Schritte auf einen Waldweg, der neben dem Grundstück begann. Ihn überkam das Verlangen, sich an einen Stamm gelehnt zu setzen und den Blick bis hinaus zur Ostsee schweifen zu lassen. Er musste dringend seine Gedanken sortieren, und das fiel ihm immer dann am leichtesten, wenn er sich ungestört im Büro oder allein draußen in der Natur aufhielt.
Als er an der Einfahrt vorbeiging, sah er zum Haus zurück. An mehreren Fenstern erkannte er Umrisse, die ihm nachsahen. Neuigkeiten verbreiteten sich in einer solchen Einrichtung schnell. War das ein Problem? Wenn er auf der richtigen Spur war, konnte sich das durchaus nachteilig auswirken. Nur war er sich nicht sicher. Der Leiterin des Waldhauses
und dem zuständigen Sozialpädagogen hatte er seinen Verdacht nicht auf die Nase gebunden. Sein Kommen hatte er damit begründet, sich informieren zu wollen, was aus dem Siebzehnjährigen geworden war, dessen Leben im zurückliegenden Frühjahr aufs Radikalste aus der Bahn geworfen worden war.
Federsen hatte ihn damals als einen aufgeweckten Burschen erlebt, der gerade für das Abitur gelernt und sich mit der Planung des weiteren Lebensweges beschäftigt hatte. Etwas schüchtern war er gewesen, vielleicht sogar gehemmt. Der Grund konnte darin liegen, dass er zu
behütet aufgewachsen war. Dass die Eltern ihn unbedingt hatten schützen wollen, konnte Federsen angesichts der Familienhistorie nachvollziehen, und genauso, dass der junge Mann das Abitur dann doch nicht gemacht hatte. Nach dem, was er hatte mit ansehen müssen, war er sicher außerstande gewesen, sich über ein Mathematikbuch zu beugen. Dies sollte er nun ein Jahr später nachholen, wie der Sozialpädagoge mitgeteilt hatte.
Federsen ging durch eine geöffnete Schranke und betrat den Wald. Er steckte die Zigarettenschachtel wieder zurück und atmete stattdessen das feucht-harzige Aroma ein. Wann immer
er es in die Nase bekam, fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Dieser Geruch war untrennbar mit seinem Vater verbunden, der mit ihm Dämme oder Hütten gebaut, gezeltet und Nachtwanderungen unternommen hatte. Bis er eines Tages während eines Banküberfalls von einem panischen Bankräuber erschossen worden war – als Zufallsopfer. Für seinen Sohn hatte damit schon im Alter von zehn Jahren unverrückbar festgestanden, dass er eines Tages Polizist werden würde.
Als der Weg anstieg, geriet er außer Atem. In einer Kurve blieb er stehen. Ein Trampelpfad wies nordwärts, während der Hauptweg wieder zurück in Richtung Zivilisation zu führen schien. Er sah auf die Uhr und entschied, noch genügend Zeit zu haben. Kurz darauf streifte er durch Buschwerk, besonders häufig schien hier niemand entlangzulaufen. Er passierte eine halb verfallene Futterkrippe, dann endete der Pfad an einer Wiese. Wie von Federsen erhofft, breitete sich vor ihm das Land aus, dahinter strahlte ihm das Blau des Meeres entgegen, das am Horizont mit dem Himmel verschmolz. Er musterte einen Hochsitz, entschied sich aber dagegen, ihn zu erklimmen.
Stattdessen ließ er sich auf einem Baumstumpf nieder und zündete sich eine Zigarette an. Allmählich beruhigte sich das hektische Heben und Senken seines Brustkorbs, und seine Gedanken kehrten zu dem eigentlichen Grund seiner Anwesenheit an diesem Ort zurück. Die Aussagen der Angestellten des Waldhauses
hatten zwar nicht beruhigend, aber auch nicht wirklich besorgniserregend geklungen. Sie hatten von einem traumatisierten Zustand gesprochen, der nicht von heute auf morgen überwunden werden konnte. Davon, dass sich der junge Mann von seinen Mitbewohnern zurückzog, wenig sprach und den Sport aufgegeben hatte. Das war alles nicht ungewöhnlich und durchaus verständlich.
Seit gut zwei Wochen hatten die Betreuer sogar eine aufsteigende Tendenz erkennen können. Das Schlimmste schien
überstanden, da der Siebzehnjährige wieder aktiver wurde, Sozialkontakten nicht mehr völlig aus dem Weg ging und sichtlich an Energie gewann. Den Vorschlag, ihn persönlich zu treffen, hatte Federsen abgelehnt. Vielleicht stellte sich seine Vermutung am Ende als eine fixe Idee heraus. Außerdem wollte er den Jungen mit seinem Erscheinen nicht an die Tragödie seines Lebens erinnern und ihn erneut aufwühlen. Andererseits, auf den Zahn fühlen musste man ihm auf jeden Fall.
Minutenlang grübelte er darüber nach, wie die weitere Vorgehensweise aussehen sollte. Marcel und sein Team hatten den Jungen nicht auf dem Schirm, was verständlich war. Man musste schon damals am Ort des Geschehens dabei gewesen sein, um auf Federsens Theorie zu kommen. Neben ihm selbst hatte sich aber nur Hannes dort befunden, der darüber hinaus enger in den Fall verstrickt gewesen war als sein Vorgesetzter. So gesehen ergab es Sinn, dass er
das Ziel war und nicht Federsen.
Er drückte die dritte Zigarette auf dem Baumstumpf aus, sammelte die Reste dann mit einem Taschentuch ein und stand auf. Es war an der Zeit, mit Hannes zu telefonieren und seine Meinung zu der auf den ersten Blick abenteuerlich wirkenden Annahme zu erfragen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, wählte er die Nummer seines Kollegen, doch sofort meldete sich die Mailbox. Federsen unterbrach die Verbindung, und sein Finger verharrte über dem Display. Es war an der Zeit, Marcel in seine Überlegungen einzuweihen, aber bevor er mit ihm sprach, wollte er erst noch Hannes’ Einschätzung hören.
Er ging zu dem zugewucherten Pfad zurück und wählte erneut die Nummer seines Mitarbeiters. Als nach Hannes’ Ansage der Signalton erklang, räusperte er sich.
»Hallo Herr Niehaus, Federsen hier. Ich weiß, dass ich … ich hätte mich schon viel früher melden sollen, aber … ach, was soll’s. Ich war inzwischen nicht untätig, das wollte ich Ihnen sagen. Wer jemanden aus meinem Team angreift, greift auch
mich an. Da der Täter viel von Ihnen weiß, ging ich zunächst davon aus, dass er Zugang zu polizeiinternen Informationen hat.«
Er stockte, da ihm ein neuer Gedanke kam. Der Sozialpädagoge hatte davon gesprochen, dass der junge Mann zuletzt wieder Energie ausgestrahlt hatte. Tat er das, weil er gerade einen Plan umsetzte, den er zuvor wochenlang zurückgezogen entwickelt hatte? Als Federsen sich in ihn hineinzuversetzen versuchte, kam ihm dies wie eine nachvollziehbare Entwicklung vor. Er erinnerte sich an den Ausdruck in den Augen des Jugendlichen, als alles vorbei gewesen war. Ein Vorwurf hatte darin gestanden. Der Vorwurf, es nicht verhindert zu haben. Und noch etwas kam Federsen in den Sinn, und er ärgerte sich, erst jetzt den Zusammenhang zu erkennen. Als er am Waldhaus
angekommen war, hatte gerade eine Gruppe Mädchen ihre Fahrräder unter einem Unterstand abgeschlossen. Neben den Rädern hatte ein Motorroller gestanden, ein roter.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, genauso seine Schritte. Er erreichte die Futterkrippe und konnte schon den Waldweg erkennen. Erneut räusperte er sich. »Herr Niehaus, wir müssen dringend sprechen. Ich denke, Marcel und ich überschätzen den Täter. Es geht nicht um einen asozialen Gewalttäter, der sich rächen will. In Wahrheit reden wir wohl eher von einer gequälten Seele, die keine Ruhe findet. Erinnern Sie sich, wie wir selbst uns gefragt haben, ob wir nicht schneller hätten eingreifen sollen, damals als wir …«
Sein Fuß blieb an einer Wurzel hängen, er taumelte nach vorn. Das Handy rutschte ihm aus der Hand und landete auf der Erde. Fluchend bückte er sich, um es aufzuheben. »Herr Niehaus, ich melde mich später bei Ihnen. Bleiben Sie achtsam!«
Er streckte die Beine wieder durch und belastete den rechten Fuß. Auch das noch! Das gestauchte Gelenk tat höllisch
weh. Verwünschungen ausstoßend, humpelte er weiter durch das Dickicht. Kurz vor dem Waldweg explodierte auf einmal an seinem Hinterkopf ein Schmerz, der wie aus dem Nichts kam. Die Beine knickten ihm weg, und er sah den Waldboden auf sich zukommen. Wie durch Watte konnte er das Zwitschern der Vögel hören – und Atemgeräusche. Dann folgte noch ein Schlag, und er nahm gar nichts mehr wahr.
In der Hoffnung, die nötige Vorsicht walten zu lassen, betrat Hannes den Wohnblock aus den Sechzigerjahren, der nicht nur von außen schmucklos war. Auch das muffig riechende Treppenhaus machte einen verwahrlosten Eindruck. Ein letztes Mal blickte er den Bürgersteig entlang, dann drückte er die Tür ins Schloss. Den roten Roller hatte er seit Samstag nicht mehr gesehen, aber man konnte ihn auch auf andere Weise beschatten. War es fahrlässig, dass er Anna aufsuchte?
Während er die Stufen bis ins vierte Obergeschoss hinauflief, wurde er immer nervöser. Als er unter sich die Tür erneut ins Schloss fallen hörte, spähte er durch den Schacht in der Mitte nach unten. Erleichtert erkannte er eine ältere Frau, die einen Einkaufstrolley hinter sich herzog und dann den Fahrstuhlknopf drückte. Langsamer setzte er seinen Weg fort. Er durfte nicht in Panik verfallen. Außerdem, was wäre die Alternative? Dass er Anna so lange nicht traf, bis der Gefährder festgenommen war? Selbst wenn er sich zu einer solchen Zurückhaltung durchringen könnte, wäre seine Freundin ja nicht unsichtbar. Es blieb ein Restrisiko, egal wo er sie unterbrachte.
Als sie ihm die Tür öffnete, schloss er sie sofort in die Arme und drückte sie fest an sich. Behutsam löste sie sich nach einer Weile und sah ihn an.
»Alles okay mit dir?«
»Jetzt ja. Aber ich komme mit dem Gedanken nicht klar, dass du wegen mir in Gefahr bist. Wie geht es dir? Bist du heute überhaupt mal draußen gewesen?«
»Nein … ich …« Sie senkte den Blick. »Ich hab mich nicht getraut«, gab sie dann zu. »War schon auf dem Weg nach unten, aber an der Haustür bin ich wieder umgekehrt. Stattdessen hab ich mir den ganzen Tag Privatfernsehen angetan. Wollte eigentlich für die Führerscheinprüfung büffeln, konnte mich aber nicht darauf konzentrieren.«
Hannes nickte. Die anstehende Prüfung zum Erwerb des Sportbootführerscheins war momentan von geringster Dringlichkeit. Zumal der Zustand der Lena
eine baldige Ausfahrt nicht wahrscheinlich machte. Er trat in den Flur und warf die Tür zu, nachdem er das Schloss kritisch gemustert hatte. Es erleichterte ihn, dass Anna zur Stubenhockerin mutiert war. Zugleich ahnte er, dass dieser Zustand nicht lange andauern würde.
»Hat Elke nicht ein Abo von so einem Streamingportal? Wo ist sie überhaupt?«
Anna folgte ihm ins Wohnzimmer. »Wahrscheinlich noch in der Krippe.«
»Jetzt noch? Es ist schon sieben Uhr, schließen die nicht um fünf?«
»Vielleicht ist sie einkaufen. Was machst du da?«
Hannes hörte auf, an der Balkontür zu rütteln. »Was? Ach nichts.«
»An der Hausfassade wird kaum jemand hochklettern können. Wie kommen deine Kollegen vorwärts?«
Hannes setzte sich neben sie. »Laut Isabell haben sie einen Verdacht, wo dieser Autonome untergekrochen ist. Heute Nacht soll der Zugriff erfolgen.«
»Du klingst nicht überzeugt. Hältst du ihn für unschuldig?«
»Nein, das nicht. Ein Telefonat wurde abgehört, das klang alles andere als unschuldig. Ich befürchte nur, dass er nicht der Kern des Übels ist, sondern sozusagen bloß das ausführende Organ.«
»Ihn aus dem Verkehr zu ziehen, wäre dann trotzdem ein Fortschritt.«
»Das ist wahr. Und sofern man ihn heute Nacht wirklich schnappt, könnte man über ihn an den eigentlichen Täter herankommen.«
»Du hast immer noch keine Vermutung, wer das sein könnte?«
»Nein. Ich kriege zwar die Möglichkeit nicht aus dem Kopf, dass es gar nicht mit meinem Job zusammenhängt, aber mir fällt nichts ein.«
Dass er auch Nina in diese Grübeleien eingebunden hatte, erwähnte er nicht. Sie hatte ihm am Nachmittag drei Nachrichten geschrieben, in denen sie sich erst für das Wiedersehen bedankt, dann ihr Mitgefühl für die aktuelle Notlage ausgesprochen und schließlich den Treffpunkt für den nächsten Tag vorgeschlagen hatte. Besonders stark gefordert schien sie in ihrem neuen Job nicht zu sein.
»Geht mir genauso«, riss Anna ihn aus den Gedanken.
»Was geht dir genauso?«
»Clarissa war heute bei mir. Sie hat den Verdacht geäußert, dass eigentlich ich der Grund für die Angriffe bin.«
»Ist Clarissa übergeschnappt? Wie kommt sie dazu?«
»Sie meinte ja nicht, dass ich dafür verantwortlich bin«, bremste Anna ihn. »Sie vermutet eher so was wie einen eifersüchtigen Ex.« Sie erläuterte ihm den Hintergrund von Clarissas Überlegungen.
»Und?«, fragte Hannes. »Könnte da was dran sein?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Ich hab ihr die Namen meiner Exfreunde gegeben, aber ich hab zu keinem mehr Kontakt. Der Einzige …«
»Was wolltest du sagen?«, hakte Hannes nach, als sie verstummte.
»Der Einzige, der mir einfällt, ist Manu. Auch Clarissa hat nach ihm gefragt.«
Jetzt war es Hannes, der schwieg. Ihm waren die Verwicklungen noch äußerst präsent, als er sich in Schweden aufgehalten hatte und tagelang keinen Kontakt zu Anna hatte herstellen können. Erst später hatte er erfahren, dass sie in dieser Zeit eine Fehlgeburt gehabt und mit einem jungen Studenten umhergezogen war, der zu allem Überfluss auch noch eine Rolle in seiner Mordermittlung gespielt hatte.
»Marius Beer«, stieß er durch die zusammengepressten Zähne hervor. »Wieso nennst du ihn immer noch Manu?«
»Weil alle ihn so nennen. Ist doch auch völlig egal.«
»Mir ist zumindest nicht egal, dass er sich an dich herangemacht hat. Und wenn ich an sein Verhalten und seine Vergangenheit denke, finde ich Clarissas Verdacht gar nicht so abwegig.«
Anna zog die Beine an und nickte. »Vielleicht hätte ich … also kann sein, dass ich einen Fehler gemacht habe.«
Alarmiert sah Hannes sie an. »Was meinst du? Hast du etwa noch Kontakt zu ihm?«
»Nicht wirklich. Das heißt … er schrieb mir mal vor zwei oder drei Wochen, dass er gern an unsere Zeit zurückdenkt.«
»Was soll das heißen? Klingt ja, als ob ihr doch eine Affäre hattet.«
»Hannes!« Bittend sah sie ihn an. »Das Thema haben wir längst ausdiskutiert. Da war nichts, und da ist nichts. Nur … er steckte gerade in einem depressiven Loch, als er mir schrieb. Erst wollte ich nicht antworten, dann tat er mir leid. Wir haben
ein paar SMS ausgetauscht, dann hab ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Das war alles?«
Tief holte sie Luft. »Nicht ganz. Ich hab auch erwähnt, dass wir gerade unsere Hochzeit planen. Das war in der letzten SMS, dann brach der Kontakt ab.«
Hannes stöhnte. »Wieso musstest du ihm das auf die Nase binden?«
»Weil ich für klare Fronten sorgen wollte. Auch in deinem Interesse.«
»Schon gut.« Er zog sie an sich. »Weiß Clarissa davon?«
Er spürte ihr Nicken an seinem Brustkorb. »Er soll überprüft werden. Keine Ahnung, ob das schon geschehen ist.«
Eine Weile schwiegen sie und lauschten den Geräuschen aus den Nachbarwohnungen. Hannes ließ seine Finger durch Annas Haar wandern und versuchte, wenigstens für wenige Minuten alles zu vergessen und nur das Beisammensein zu genießen. Dass ihm dies genauso schwerfiel wie ihr, erkannte er an ihrer verspannten Körperhaltung. Schließlich richtete sie sich auf und leerte ein Wasserglas.
»Hoffentlich hat das alles bald ein Ende. Ich … manchmal überlege ich, wie es wäre, wenn ich immer noch schwanger wäre.«
»Anna, das …«
»Nein, unterbrich mich nicht. Ich finde die Situation so schon belastend genug, aber wenn jetzt noch die Sorge um ein Kind dazukäme! Was, wenn so was irgendwann wieder passiert? Wenn dann deine Tochter oder dein Sohn in Gefahr ist? Wenn ihnen sogar etwas zustößt?«
»Ist ja nicht so, dass man als Mordermittler ständig selbst zum Verfolgten wird.«
»Aber die Gefahr besteht. Und jetzt … wo wir das tatsächlich durchmachen müssen … es wird uns immer im
Nacken sitzen! Ich weiß nicht, ob sich das mit unserer weiteren Lebensplanung verträgt.«
Mit den Zähnen bearbeitete Hannes seine Unterlippe. Ihm waren ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Nur war es nach seiner Meinung der falsche Zeitpunkt, um über grundlegendere Fragen nachzudenken. Angst war nie ein guter Ratgeber, und er hatte gerade keine Kraft, sich jetzt auch noch den Zukunftsfragen zu widmen. Am Nachmittag hatte er mit ihrem Vermieter und der Versicherung telefonieren müssen, in wenigen Stunden würde er auf Ben treffen, Fritz lag im Sterben, weitere Hochzeitsplanungen standen an, genauso wie Annas Geburtstag, die Olympischen Spiele rückten näher, die Lena
musste geborgen und instand gesetzt werden – es wirbelte gerade so viel durch seinen Kopf, dass er ermattet zur Seite kippte.
Anna griff nach einem seiner Füße und massierte ihm die Sohle. »Sorry, wir haben jetzt andere Sorgen, oder? Ich wollte dir nur sagen, dass mich das beschäftigt.«
»Ist völlig in Ordnung, geht mir ähnlich. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich immer wieder an meinem Job gezweifelt habe.«
»Ich hab dich bis jetzt doch immer verstanden.«
»Hast es aber relativiert – völlig zu Recht. Deshalb hatte ich mich auch endlich entschieden, weiter in der Mordkommission zu bleiben. Nur … spielen diese Argumente nicht wirklich eine Rolle. Das sehe ich jetzt ganz klar.«
»Ich versteh dich nicht ganz.«
Hannes zog seinen Fuß zurück und setzte sich auf. Düster erwiderte er ihren Blick. »All die Morde, das Dunkle, die Gewalt und der Irrsinn. Und immer die Frage, wie ein Mensch in der Lage sein kann, so schreckliche Dinge zu tun. Ich kämpfe seit Monaten gegen etwas, das ich eigentlich gar nicht begreifen kann. Denkst du, das macht nichts mit einem? Fritz sagt mir immer: Versetz dich in die Täter hinein, nicht in die Opfer. Das ist
die Voraussetzung, um ein guter Ermittler zu sein.
Aber ich kann es nicht, Anna! Sosehr ich mich auch bemühe, ich schaff es einfach nicht. Nach den Erfahrungen jetzt sicher noch weniger.«
»Vielleicht ist das auch gut so.«
»Was soll daran gut sein?«
Sie lächelte und strich ihm über den Rücken. »Weil du sonst nicht du wärst.«
»Hm.« Hannes dachte nach und fühlte sich mit einem Mal besser. Sein Problem löste sich dadurch aber nicht. Aus dem Flur erklang das Geräusch einer sich öffnenden Tür. Kurz darauf trat Elke ins Zimmer. Sie sah abgespannt aus und ließ sich zwischen Anna und Hannes auf das Sofa plumpsen.
»Langer Tag?«, fragte Hannes.
»Sieht man mir das an?« Sie streifte sich die Schuhe ab. »Stört mich aber eigentlich gar nicht, weil mir die neue Aufgabe als Krippenleiterin echt Spaß macht. Und ich möchte mich nicht loben, aber man merkt, dass sich die Stimmung verbessert hat. Ich war ja nicht die Einzige, die mit meiner Vorgängerin Probleme hatte. Ständig kommt jemand mit Ideen und Vorschlägen, und ich selbst hab auch einiges vor. Führt aber dazu, dass ich mich im Moment nicht pünktlich vom Acker machen kann. Tut mir leid, Anna, ich hoffe, der Tag war nicht zu zäh für dich!«
»Nein, nein. Mach dir keine Gedanken!«
»Allerdings braucht sie ein besseres Unterhaltungsprogramm«, warf Hannes ein. »Wenn sie jetzt jeden Tag das Fernsehprogramm konsumiert, heirate ich im September eine Analphabetin.«
»Heißt das, du bist gar nicht rausgegangen?« Elke fasste Anna an den Schultern. »Mensch, du darfst dich jetzt nicht verkriechen! Es ist Sommer, schon gemerkt?«
»Und wir werden gejagt, schon mitbekommen?«, konterte Hannes.
»Woher soll denn jemand wissen, dass Anna hier ist? Zieh dir eine Mütze über, setz eine Sonnenbrille auf und geh meinetwegen durch die Tiefgarage raus. Und du, Hannes, löse endlich das Problem!«
Hannes schnaufte. »Endlich? Der Albtraum dauert gerade mal drei Tage. Ich liege auch nicht entspannt in der Sonne, falls du das vermutest. Heute Mittag habe ich mit der Exfreundin eines Cloud-Palace
-Musikers gesprochen. Könnte ja sein, dass mir da jemand das Auseinanderbrechen der Band vorwirft.«
»Konnte sie dir helfen?«
»Nein, sie hat zu niemandem mehr Kontakt. Zur Fan-Szene sowieso nicht, da hat sie sich immer rausgehalten. Wollte so normal wie möglich leben.«
»Was man von ihrem Exfreund nicht behaupten kann. Habt ihr Hunger? Ich hab Tiefkühlpizza mitgebracht.«
Elkes Auftreten bestätigte Hannes darin, dass sie die bestmögliche Gastgeberin für Anna war. Im Folgenden sorgte sie dafür, dass das alles beherrschende Thema konsequent ausgespart wurde. Als sie am Tisch saßen und die Pizzastücke verteilten, lenkte sie das Gespräch auf die Hochzeit und brachte sich in die Planungen so intensiv ein, dass Hannes schließlich das Gefühl für die Zeit verlor. Erschrocken sprang er plötzlich auf.
»Ich muss sofort los!«
»Weshalb? Sollen wir das Hochzeitsdessert allein aussuchen?«, fragte Elke.
»Von mir aus. Ben ist seit einer halben Stunde zurück.«
Er küsste Anna und umarmte Elke, die gerade die zweite Weinflasche entkorkte. Unauffällig nickte sie ihm zu, sodass er sicher sein konnte, dass an diesem Abend kein Trübsal in ihrer Wohnung geblasen werden würde. Als er das Treppenhaus herunterrannte, zog er das Handy hervor, um Ben anzurufen. Überrascht blieb er stehen. Ein verpasster Anruf von Federsen und eine Sprachnachricht. Meldete sich der alte Griesgram
also doch noch. Er drückte auf den Button, um seine Mailbox abzuhören.
Dunkelheit hatte sich über das Gelände gelegt, als Isabell sich dem Wagen der Einsatzleitung näherte. Viel musste nicht mehr besprochen werden, die Vorbereitungen waren schon am Nachmittag detailliert und zügig vonstatten gegangen. Marcel hatte dafür gesorgt, dass ein erfahrenes Team das Gebiet durchkämmte, das als Versteck von Kristian Schmelzer infrage kam. Die Einsatzkräfte hatten ringförmig um das eingezäunte Dschungelcamp
Stellung bezogen und warteten auf den Befehl zum Zugriff.
Marcel blickte auf, als Isabell neben ihn trat. An den getrockneten roten Spuren über seiner Oberlippe erkannte sie, dass er vor Kurzem wieder von einer Nasenblutattacke überrollt worden sein musste. Auch sie selbst verspürte große Nervosität, obwohl sie sich im Hintergrund halten würde. Ging der Einsatz aber schief oder verlief erfolglos, würde sich die Situation für Hannes weiter zuspitzen. Kristian Schmelzer wäre dann endgültig gewarnt und könnte schneller zum Gegenschlag ausholen, als man ohnehin befürchtete.
Immerhin sicherten in dieser Nacht erneut Personenschützer Bens Haus, aber auch tagsüber würde man Hannes dann nicht mehr ohne Begleitung auf die Straße lassen können. Marcel deutete auf eine eingekreiste Fläche auf der Karte.
»Hier sollen sich immer wieder Junkies rumtreiben, dort wird Kristian eher nicht sein.«
»Warum?«
»Weil es öfter Razzien gibt. So gesehen erstaunt es mich sowieso, dass er sich hier sicher fühlt. Hoffentlich hatte Per den richtigen Riecher. Wenn Kristian auf einen echten Dschungel anspielte, könnte er jetzt schon im Flugzeug sitzen.«
»Was für Hannes ja auch nicht schlecht wäre. Ich glaube es aber nicht, wir haben bei allen Flughäfen in erreichbarer Nähe nachgefragt.«
»Du warst schon mal hier, was denkst du, wo ein gutes Versteck wäre?«
Innerlich rollte Isabell mit den Augen. Diese Frage hatte sie am Nachmittag schon wiederholt mit ihm und dem Einsatzleiter diskutiert. Es war länger her, dass sie hier durch den Kletterwald gehangelt war, und sie hatte nicht damit gerechnet, jemals im Zuge eines nächtlichen Einsatzes wiederzukommen.
»Es gibt einige Gebäude«, wiederholte sie ihren Kenntnisstand. »Damals standen auch ein paar Tipis um einen Lagerfeuerplatz herum, aber ein richtig gutes Versteck ist das alles nicht. Wenn ich er wäre, würde ich mich im hinteren Bereich aufhalten. Sie tippte auf die Karte. Weit genug von den Junkies entfernt und mitten im Dickicht.«
»Dann sollten ihn die Hunde aufstöbern«, war Marcels Hoffnung.
Man hatte sich Zugang zur Wohnung des Verdächtigen verschafft, sodass man den Tieren eine Geruchsprobe hatte geben können. Generell war es jedoch ihre Aufgabe, jedes menschliche Wesen auf dem Gelände aufzustöbern. Vorsorglich waren drei Gefangenentransporter aufgefahren worden, zwischen denen Per gerade auf Isabell und Marcel zueilte.
»Ich hatte recht!«, rief er ihnen atemlos zu. »Kristian hat vor wenigen Minuten sein Handy benutzt. Der Funkmast, mit dem er verbunden war, befindet sich ganz in der Nähe.«
»Mit wem hat er telefoniert?«
»Mit einem Italiener in Bologna. Ich hab schon eine Übersetzung des Gesprächs angefordert.«
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren!« Marcel hastete zum Einsatzleiter, der kurz darauf ins Funkgerät sprach.
Seitlich von Isabell und Per setzten sich schwarz gekleidete Personen in Bewegung, der Einsatz hatte begonnen.
»Jetzt können wir nur noch warten.« Clarissa wollte das Geschehen ebenfalls vor Ort verfolgen und gesellte sich zu ihren Kollegen.
»Fehlt nur noch Federsen in dieser fröhlichen Runde«, meinte Isabell.
»In der Tat.« Marcel klang angefressen. »Nach unserem Gespräch heute Nachmittag hatte ich eigentlich auf sein Einlenken gehofft. Stattdessen ignoriert er meine Versuche, ihn zu erreichen.«
»Ist vielleicht besser so«, erwiderte Clarissa. »Er wäre nur einer mehr, der hier im Weg rumsteht.«
»Gegen Abend hat er Hannes auf die Mailbox gesprochen«, sagte Isabell. »Hannes kann sich keinen richtigen Reim auf die Nachricht machen. Klang aber so, als ob Federsen an einer noch vielversprechenderen Spur dran ist.«
»Umso sinnvoller wäre es, wenn er uns informieren und sich mit uns abstimmen würde.« Marcel schüttelte den Kopf. »Bei allem Verständnis für seine Enttäuschung, dass er aufs Abstellgleis gerutscht ist: Wenn er nicht schnell zur Vernunft kommt, muss ich Lauer auf ihn hetzen.«
Schweigend standen sie beisammen und warfen immer wieder einen Blick zum Wagen der Einsatzleitung. Anstatt das Gelände in Überfallmanier zu stürmen, hatte man sich für eine unauffällige und vor allem leise Vorgehensweise entschieden. Der Personalbedarf wäre ansonsten um ein Vielfaches größer, aufgrund eines als Hochrisikospiel eingeschätzten Fußballderbys aber nicht zu decken gewesen.
Eine Viertelstunde nachdem der Einsatz begonnen hatte, wurde die Geräuschkulisse plötzlich lauter. Wie Marcels Team erfuhr, war man auf eine Gruppe Jugendlicher und auf Drogenkonsumenten gestoßen. Dass sich einige von ihnen
heftig gegen die Polizisten zur Wehr setzten, konnte man beobachten, als sie wenig später zu den Gefangenentransportern geführt wurden. Der Großteil würde vermutlich noch in derselben Nacht wieder freigelassen werden, der Rest dann am nächsten Morgen.
Als die Wagen abfuhren, kehrte wieder Ruhe ein. Mittlerweile hatten sich alle um den Einsatzleiter geschart und verfolgten dessen Kommunikation mit seinem Team. Schließlich kam das ernüchternde Fazit.
»Es befindet sich niemand mehr auf dem Gelände.«
»Das kann nicht sein!«, platzte es aus Per heraus. »Kann Kristian ungesehen durchgebrochen sein?«
»Ausgeschlossen.« Der Einsatzleiter deutete auf der Karte auf den Bereich, den Isabell als wahrscheinlichsten Aufenthaltsort vermutet hatte. »Ich habe angeordnet, dass hier noch mal genauer gesucht wird. Die Hunde sind dort unruhig. Vielleicht hat er sich eingebuddelt.«
»Ich hab keine Lust, hier länger rumzustehen. Kommt jemand mit?« Clarissa ging in Richtung Zaun.
»Was soll das?«, raunzte der Einsatzleiter Marcel an. »Meine Leute sind Profis.«
»Wir halten uns im Hintergrund«, entgegnete Marcel ungerührt. »Informieren Sie die Kollegen, dass wir dazukommen.«
Isabell hielt diese Einmischung zwar für keine gute Idee, wollte aber auch nicht mit dem fluchenden Einsatzleiter allein zurückbleiben. Rasch schloss sie sich ihren Kollegen an und lief durch den ehemaligen Eingang des Dschungelcamps
. Zunächst folgten sie einem gepflasterten Hauptweg, dann schwenkte Clarissa in die Richtung ab, aus der Hundegebell erklang. An einigen Bäumen konnte man noch die Plattformen des Kletterwaldes erkennen, und Isabell tippte Marcel von hinten auf die Schulter.
»Kein Wunder, dass er nicht gefunden wurde. Ich würde mich nicht eingraben oder verstecken, sondern auf einen Baum klettern. Die angebauten Plattformen sind ziemlich breit, weil ja mehrere Personen draufpassen mussten.«
»Das hätte den Kollegen eigentlich selbst einfallen müssen.« Marcel sprach ins Funkgerät und erhielt sofort eine Antwort.
»Wir sind ja nicht bescheuert, natürlich haben wir das überprüft. Da oben ist niemand.«
»Aber vielleicht dort drüben!« Isabell blieb abrupt stehen und deutete nach oben in den Wald. Das Hundegebell war schon sehr nah.
Marcel trat neben sie. »Ich sehe nichts.«
Sie stellte sich hinter ihn und streckte den Arm über seine Schulter. »Sieh an meinem Finger entlang. Es ist schwer zu erkennen, aber da hängt was.«
»Oder jemand.« Marcel griff erneut zum Funkgerät und gab die Position durch.
Sekunden später flammten Scheinwerfer auf und näherten sich. Als ihr Licht durch die Baumwipfel streifte, klopfte Marcel Isabell auf die Schulter. »Deine Augen möchte ich haben, da braucht man keine Wärmekamera. Was ist das, was da baumelt?«
Bevor sie ihm antworten konnte, hallten Schreie des Einsatzkommandos durch den Wald, mehrere Lichter waren nun auf das paketähnliche Objekt gerichtet. Plötzlich bewegte es sich und ein Kopf kam zum Vorschein.
»Eine Art Hängematte!«, rief Per. »Darin hat er sich wie in einen Kokon eingewickelt. Clever. Wenn das nicht Kristian ist, könnt ihr mich zur Sitte abschieben!«
Seine Euphorie war nicht verfrüht. Angesichts des Aufmarschs unter sich verzichtete der Mann im Baum auf jede unkluge Reaktion. Er hob die Hände, dann folgte er der Aufforderung, sich auf den Boden runterzulassen. Minuten später führten ihn zwei Männer mit Sturmhauben zu Marcel.
Im Licht ihrer Lampen erkannte Isabell sofort, dass sie den Richtigen erwischt hatten.
Kristian Schmelzer wirkte zerzaust, aber keinesfalls eingeschüchtert. Ein Mann wie er hatte schon öfter Begegnungen mit der Staatsmacht gehabt. Im In- wie im Ausland. Seine dunklen Augen fixierten Marcel, als dieser eine Frage nach der anderen abfeuerte. Die Gesichtszüge Schmelzers blieben unbewegt, die einzige Regung war die Handbewegung, mit der er sich eine Strähne der kinnlangen schwarzen Haare hinter ein Ohr schob. Isabell gestand sich ein, dass er über eine faszinierende Ausstrahlung verfügte. Äußerlich ähnelte er Che Guevara, besser hätte man ihn nicht als Revoluzzer herrichten können.
Doch erst eine Stunde später, als er Isabell und Marcel im Verhörzimmer des Präsidiums gegenübersaß, öffnete er den Mund. Heraus kamen keine Parolen, sondern eine fassungslose Nachfrage.
»Johannes Niehaus ist Mordermittler?«
»So ist es.« Isabell ließ sich ihre Befriedigung, dass er endlich die Sprache wiedergefunden hatte, nicht anmerken. »Wären Sie mal wieder in dem Forum unterwegs gewesen, wo Sie zur Jagd auf meinen Kollegen aufgerufen haben, wüssten Sie das auch.«
»Ihr erzählt mir doch den letzten Scheiß!«
»Keineswegs.« Marcel schob ihm einen Laptop zu. »Lesen Sie es selbst. Und wenn Sie mir immer noch nicht glauben, rufen Sie Ihre Kumpel in Hamburg an. Weshalb sollte ich Sie überhaupt anlügen? Macht eh keinen Unterschied. Sie sitzen hier und laufen mir nicht weg.«
»Dann … das versteh ich nicht!«
»Was verstehen Sie nicht? Dass man Sie benutzt hat? Wer hat Sie angestiftet?«
Kristian Schmelzer zwinkerte nervös. Die Anklagepunkte waren ihm bereits mitgeteilt worden, jetzt wirkte er nervös. »Na, niemand! Ich war damals auf der Demo gegen den
Wirtschaftsgipfel dabei. Hab selbst erlebt, wie eure Leute da vorgegangen sind. Als ich dann die Flugblätter fand …«
»Erzählen Sie keinen Mist, die haben Sie selbst ausgelegt!«
»Quatsch, ich hab noch nie Flugblätter gedruckt. Ist ja völlig altmodisch und … wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie erstaunlich gut über Herrn Niehaus Bescheid wussten. In Ihrem Eintrag in dem Forum waren Infos dabei, die gar nicht auf dem Flugblatt standen.«
»Weil ich mich im Internet über diesen Kerl schlaugemacht habe. Fand es gut, dass endlich mal eine Identität bekannt ist. Wir sind euch sonst immer blind ausgeliefert, aber jetzt … jetzt …«
»Jetzt konnten Sie mal zurückschlagen«, vollendete Isabell den Satz. »Dummerweise haben Sie den Falschen im Visier gehabt.«
»Wieso sollte uns jemand gegen einen Mordermittler aufhetzen?«
»Denken Sie mal nach.« Marcel zog den Laptop wieder an sich. »Weil er sich Feinde gemacht haben könnte, zum Beispiel. Feinde, die es ganz clever fanden, die autonome Szene für ihre Zwecke einzuspannen.«
»Man hat uns benutzt?« Der Mann ballte die Fäuste. »Wer auch immer das war, wird dafür bezahlen!«
»Dann helfen Sie uns! Wer kann dahinterstecken, irgendeine Idee?«
»Nein, woher? Ich bin nur selten im Hamburger Zentrum, komme mit den Leuten nicht so klar.«
»Wer hat Ihnen bei der Jagd auf Johannes Niehaus geholfen?«
»Niemand. Wie gesagt, ich bin hier gerade nicht so gut vernetzt.«
»Dann geht also alles auf Ihr Konto. Wird für eine schöne Strafe reichen.«
»Moment, Moment!« Beschwörend hob der Verdächtige die Hände. »Mehr als Sachbeschädigung hab ich nicht gemacht. Eigentlich wollte ich den Reifen ganz aufschlitzen, aber es kam grad jemand vorbei, und ich musste abhauen. War nicht meine Absicht, dass der Reifen auf der Autobahn platzt. Ich bin kein Mörder!«
»Auch kein Hundemörder?«
Seine Erregung nahm zu. »Ein Tier würde ich nie töten, ich bin Vegetarier!«
»Und die Lena
?«
»Wer ist das?«
»Das Boot meines Kollegen, das versenkt wurde.«
»Er hat ein Boot?«
»Völlig egal.« Marcel sah müde aus. »Sie bleiben dabei, nur für den manipulierten Reifen verantwortlich zu sein? Und Sie wissen nicht, wer die anderen Taten begangen oder dazu angestachelt hat?«
»So ist es. Sie können das überprüfen! Ich kann Ihnen ganz genau sagen, wann ich in den letzten Tagen wo gewesen bin. Hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich würde Ihnen ja gern helfen! Macht mich rasend, dass mich jemand für die Drecksarbeit benutzen wollte!«
»Darüber können wir morgen weiterreden.« Marcel stoppte das Aufnahmegerät und stand auf.
Auch Isabell war niedergeschlagen. Die Alibis würde man natürlich noch genau überprüfen, aber sie ging davon aus, dass er die Wahrheit sagte. Was Kristian Schmelzer nicht wusste, war, dass man das Ergebnis seiner Handyauswertung erhalten hatte, nun da man auch die Nummer seines zweiten Telefons kannte. Sofern er es in den letzten Tagen immer bei sich getragen hatte, konnte er sich weder am Hafen noch an Hannes’ Wohnung oder bei Bens Haus aufgehalten haben. Entweder hatte sich noch ein weiterer Autonomer aufhetzen lassen, oder
Hannes drohte gerade aus einer ganz anderen Richtung Gefahr. Isabell war sich nicht sicher, welche Variante ihr lieber wäre.
Anstatt im Garten zu sitzen, hatten sich Hannes und Ben ins Innere des Hauses zurückgezogen. Immer wieder glitt Bens Blick zu dem Hundekorb, in dem Socke
normalerweise gerade geschlummert hätte. Seine Augen waren glasig, was allerdings auch an dem dritten Joint liegen konnte, den er gerade ausdrückte. Hannes sparte sich einen Kommentar, derart erschüttert hatte er seinen Freund noch nie erlebt. Seit Stunden saßen sie zusammen, und er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sich allmählich nach dem Bett sehnte. Die letzten Tage hatten ihre Spuren hinterlassen, außerdem stand am nächsten Morgen Training an.
»Wenn du willst, dass ich ausziehe …«, setzte er an.
»Spinnst du?« Ben packte ihn hart am Arm. »Wie oft soll ich das noch sagen? Ich geb dir keine Schuld! Ich weiß doch, wie sehr du an Socke
gehangen hast.«
»Okay … Aber Ben: Wenn dir das alles zu viel wird, mit Polizeischutz und so …«
»Dürfte in der Tat das erste Mal sein, dass die Polizei ein wohlwollendes und schützendes Auge auf mich wirft.« Erstmals in dieser Nacht glomm ein Funken des bekannten Ben auf. »Ich bin froh, dass du hier bist. Allein könnte ich grad nicht so gut sein.«
»Vielleicht hättest du noch ein paar Tage bei deiner Mutter bleiben sollen.«
»Nein, ist sicher besser so. Obwohl sie in den letzten Stunden vor der Abfahrt tatsächlich … wie soll ich das sagen … für ihre Verhältnisse nett mit mir umgegangen ist. Merkte wohl, was Socke
mir bedeutet hat.«
»Du wirst ihr auch viel bedeuten. Was ist zwischen euch passiert?«
Ben sah auf seine Hände. »Eigentlich wollte ich dir das ja nur erzählen, wenn du Socke
… entschuldige. Das klingt jetzt wie ein Vorwurf. Es ist gar nicht das eine
zwischen uns vorgefallen. Aber als mein Vater starb, hätte ich einfach eine andere Reaktion von ihr erwartet.«
»Welche denn?«
»Zumindest nicht, dass sie ihn ohne zu zögern gegen ihren Liebhaber austauscht. Mein Vater wusste davon, ich wusste davon, die Nachbarn wahrscheinlich auch, aber trotzdem! Davon abgesehen, davor sind wir auch schon immer aneinandergeraten. Ich hab sie mal als Nazischlampe bezeichnet.«
»Oh. Wieso das denn?«
»Weil sie entsprechende Tendenzen hat. Auch wenn sie es nicht zugibt. Ich hatte mal eine arabische Freundin, die hat sie nicht ins Haus gelassen.«
»Deshalb das arabische Gewand? Wie hat sie darauf reagiert?«
»Ach das.« Ben winkte ab. »Hab ich dann doch nicht mitgenommen, kam mir plötzlich kindisch vor.«
Hannes schmunzelte. »Nicht zu Unrecht.«
»Was ist eigentlich mit deinen Eltern?«
»Was soll mit denen sein?«
»Stehen die jetzt auch unter Polizeischutz?«
»Nein, es scheint sich ja alles nur hier abzuspielen. Es schaut aber immer mal jemand bei ihnen vorbei.«
Ben rollte einen weiteren Joint. »Was für ein Wahnsinn! Sobald ihr diesen Spinner habt, schlag ich ihn zusammen.«
»Du denkst also, dass ein Wahnsinniger dahintersteckt?«
»Wer sonst tut so was? Du musst doch verrückt sein, um … um zum Beispiel Socke
einen vergifteten Knochen hinzuwerfen.«
»Oder blind vor Hass.«
»Kommt aufs Gleiche raus. Ich sag’s ja, der Typ spinnt!«
»Neutral und nüchtern betrachtet spinnen wir doch alle. Tritt mal aus deiner Wahrnehmung heraus und beobachte dich von außen. Bei dem, was du da siehst, greifst du dir bestimmt mehrmals an den Kopf.«
»Alle Achtung, keine ganz dumme Erkenntnis. Rutschst du in eine Midlife-Crisis ab?«
Hannes griff zur Bierflasche. »Kann sein. Aber es kommt grad auch einiges zusammen. Ich latsche wie ferngesteuert durch mein Leben.«
»Das war aber schon vorher so. Ich erinnere mich an entsprechende Diskussionen.«
»Das ist ja das Problem. Ich weiß nur nicht, wie ich es ändern soll.«
»Aber ich!«
»Ach ja?«
»Ist ganz simpel: Hör auf, an den Symptomen rumzudoktern, und widme dich der Ursache.«
»Das heißt?«
Ben grinste. »Woher soll ich das wissen? Ich war nur für den klugen Spruch zuständig, sieh selbst zu, was du daraus machst.« Er stand auf. »Ich muss jetzt ins Bett, du hast mich lange genug wachgehalten. Aber wenn du die Ursachenforschung oder die Suche nach der Lösung beschleunigen willst, kannst du gern hier sitzen bleiben und dich bedienen.« Einladend deutete er auf den Tabakbeutel und die Metallschachtel mit dem Marihuana. Dann verschwand er in seinem Zimmer.
Hannes blieb sitzen und musterte die Utensilien. Plötzlich war die Müdigkeit wie fortgeweht, aber er erlag gar nicht erst der Versuchung, Bens Angebot anzunehmen. Einmal hatte er von dessen Spezialmischung gekostet und zum einen mit Übelkeit und zum anderen mit Angst vor einer Dopingkontrolle zu kämpfen gehabt. Bens Erwähnung der Ursachenforschung hatte aber etwas in ihm ausgelöst. Erneut hörte er Federsens
Sprachnachricht ab. Sein Gefühl, alle Vorfälle könnten mit Juliane zu tun haben, wurde stärker. Hatte er aber in die falsche Richtung gedacht? War es gar nicht sie, die sich an ihm rächen wollte?
Bilder aus der Osterzeit stiegen in ihm auf, als er über eine abgelegene Klippe an der Ostseeküste mit Federsen durch den Regen gerannt war. Dann war eine unfassbare Szene vor ihnen aufgetaucht. Sie hatten sich auf den Boden geworfen und auf Verstärkung gewartet. Zwar hatten sie gemeint, die Situation unter Kontrolle zu haben, doch das war eine fatale Fehleinschätzung gewesen, die letztlich nicht nur zu Toten, sondern auch zu noch mehr Opfern geführt hatte. Eines davon war zugleich die Täterin gewesen: Juliane. Doch es war das andere Opfer, das Hannes nicht mehr aus dem Kopf bekam und ihn erst eine Stunde später in den Schlaf finden ließ.