KAPITEL 7
Das Erste, was Federsen wahrnahm, war diffuses Licht, das durch seine halb geöffneten Lider drang. Das Zweite waren hämmernde Kopfschmerzen, dann gesellten sich Schwindel und Übelkeit hinzu. Mühsam schluckte er, es fühlte sich an, als würde er dies seit Tagen zum ersten Mal tun. Hatte er gesoffen und lag verkatert im Bett? Laura würde ihn das ganze Frühstück über mit strafenden Blicken verfolgen! Was für ein Tag war heute überhaupt? Hoffentlich musste er nicht längst im Büro sein!
Er zwang sich, die Augen ganz zu öffnen, um zum Nachttisch zu linsen. Dort, wo normalerweise die Ziffern des Radioweckers leuchteten, sah er nur eine Wand. Regungslos blieb er liegen und starrte auf das unbekannte Mauerwerk. Sein Sichtfeld war verschwommen, auch mehrfaches Blinzeln half nicht. Mit der rechten Hand wollte er sich über die Augen fahren, doch es gelang ihm nicht. Ein metallenes Klirren erklang, und er spürte einen kühlen Druck am Handgelenk. Ein Gefühl der Unwirklichkeit breitete sich in ihm aus. Er musste träumen! Der Untergrund war weich wie eine Matratze. Wahrscheinlich lag er neben Laura, gefangen in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein.
Er bewegte die linke Hand und war erleichtert, als er sie bis zu seinem Gesicht führen konnte. Mit etwas Druck massierte er den Bereich zwischen den Augen, normalerweise half dies, um wieder zu sich zu kommen. Heute jedoch war alles anders. Der benebelte Zustand hielt sich hartnäckig, und der rechte Arm steckte irgendwo fest. Federsen drehte den Kopf nach oben und registrierte ungläubig, dass sich sein Handgelenk in einer Handschelle befand. Das andere Ende war um das Gestell eines metallenen Bettrahmens gelegt worden. Stück für Stück erkannte er weitere Details, ohne sich einen Reim darauf machen zu können.
Der Raum war groß, er konnte das andere Ende nur unscharf wahrnehmen. Der einzige beleuchtete Bereich war der, wo das Bett stand. Drei Laternen mit Kerzen leuchteten vom Boden aus, solche, die man normalerweise im Garten oder auf einem Balkon aufstellte. Die hellste Lichtquelle war eine Campinglampe, und Federsen musste den Blick schnell wieder abwenden. Es war, als hätte er ohne Schutz in die Sonne gesehen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, stöhnend schloss er die Lider.
Noch etwas war ihm aufgefallen. Die Matratze war nicht mit einem Laken bezogen, auch ein Kissen fehlte. Der Bereich direkt neben seinem Kopf war rot. Blutrot. Sein Blut? Die Finger der linken Hand tasteten zu der Stelle, wo der Schmerz saß. Die Haare waren an dieser Stelle verklebt. Was zur Hölle war nur geschehen? Als Erstes fiel ihm ein, wie er in seine Straße eingebogen war und den Krankenwagen vor dem Haus bemerkt hatte. Mühsam hangelte er sich weiter vorwärts, stieß dabei aber ständig auf Lücken in der Erinnerung.
Er sah sich mit Marcel diskutieren, ohne die Worte zu verstehen. Er beobachtete, wie er mit einer unbekannten Frau und einem Mann sprach, dann liefen Teenager an ihm vorbei. Erst als er beim Waldspaziergang angekommen war und auf das Handy in seiner Hand geblickt hatte, erinnerte er sich, weshalb er das alles getan hatte. Hannes! Er hatte ihn angerufen, um … Ja, um was genau zu sagen? Die Situation, in der sich Hannes befand, hatte er wieder glasklar vor Augen, aber mehr kam nicht. Er hatte auf eigene Faust ermittelt, so viel stand fest. Und er musste auf der richtigen Spur gewesen sein, sonst würde er sich jetzt nicht angekettet in diesem Raum befinden. Wie er allerdings hierhergekommen war, wusste er nicht.
Nach einer Weile gab er es auf, sich den Kopf zu zerbrechen. Wie es aussah, hatte ihm jemand einen heftigen Schlag versetzt. Er war lange genug im Geschäft, um die Symptome einer Gehirnerschütterung richtig zuordnen zu können. Er konnte nur hoffen, kein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen zu haben. Neben sich auf der Matratze fand er zwei Wasserflaschen und drei Müsliriegel. Hunger hatte er keinen, aber er musste sich beherrschen, um die erste Wasserflasche – nachdem er sie zwischen die Beine geklemmt und mit der freien Hand aufgeschraubt hatte – nicht in einem Zug auszutrinken. Schluckweise befeuchtete er seine trockene Kehle und sah sich dabei erneut um.
Diesmal fiel ihm die Tür auf. Sie war aus Holz, wirkte alt und leicht schief. Er konnte kein Schloss erkennen, und wenn seine Augen am Rand tatsächlich einen Spalt ausgemacht hatten, war sie sogar nur angelehnt. Ein Fenster besaß der Raum nicht, woraus Federsen schloss, dass er sich unter der Erde befand. Langsam und vorsichtig brachte er sich in eine sitzende Position und stellte die Füße auf den Boden. Als er aufstehen wollte, sank er sofort zurück. Nicht nur sein Kopf war ein Meer aus Schmerzen, das galt auch für sein Fußgelenk. Mit zusammengebissenen Zähnen betastete er die Schwellung. Dann griff er erneut zur Wasserflasche. Seine Lage war ernst, aber nicht aussichtslos. Bevor er weiter der Frage nachgehen wollte, wer ihn hierhergeschafft hatte, musste er sich den Möglichkeiten einer Flucht widmen.
Er durchwühlte seine Taschen, fand aber weder sein Handy noch einen Gegenstand, mit dem er das Schloss der Handschelle hätte öffnen können. Auch der Autoschlüssel war weg, genauso sein Portemonnaie. Sogar die Uhr hatte man ihm abgenommen. Geistesabwesend drehte er seinen Ehering und dachte an Laura. Ob sie sich Sorgen machte oder nur davon ausging, dass er mal wieder von der Arbeit verschluckt worden war? Allerdings ließ er sie in solchen Fällen nie im Ungewissen, sondern meldete sich zuverlässig, sobald er nicht pünktlich zum Abendessen erscheinen konnte. Die Frage, ob es überhaupt schon Abendessenszeit war, konnte er allerdings nicht beantworten.
Um die Schmerzen zu verdrängen, konzentrierte sich Federsen auf seine anderen Sinnesorgane. Er zog die Luft ein, konnte aber keinen Geruch feststellen. Zu hören war auch nichts, außer einem gleichmäßigen Rauschen, das aber in seinem Kopf zu entstehen schien. Er wusste, dass bei einer Gehirnerschütterung Geruchs- und Geschmacksinn beeinträchtigt sein konnten, die Summe aller Symptome sprach dafür, dass er ordentlich was abbekommen hatte. Umso stärker wurde das Verlangen, diesen Ort wieder zu verlassen, bevor jemand auftauchte.
Erneut stand er auf, diesmal blieb er stehen und stützte sich mit der freien Hand am Bettrahmen ab. Prüfend rüttelte er am Bettgestell, es gab nach. Federsen bückte sich und stellte die Campinglampe auf die Matratze. Jetzt konnte er den roten Fleck eindeutig als eingetrocknetes Blut identifizieren. Langsam, um sich nicht zu überfordern und um keine verräterischen Geräusche zu produzieren, schob er das Bett in Richtung Tür. Dennoch ertönte ein schabender Ton, als das Metall über die unebenen Steinfliesen glitt. Immer wieder verhakten sich die Bettpfosten, und als er die Tür erreicht hatte, musste er sich erst einmal setzen.
Seine Finger berührten das Holz der Tür; wie erhofft, war sie nur angelehnt. Sie knarzte, als Federsen sie aufzog, dann musste er aufstehen und das Bett neu positionieren, um sie vollends zu öffnen. Das Licht der Campinglampe leuchtete in einen leeren Gang, an dessen Ende er eine Treppe zu erkennen glaubte. Stöhnend streckte er sein Kreuz durch. Das Bett die Stufen hinauf zu bugsieren, dürfte seine Kräfte übersteigen. Versuchen wollte er es trotzdem.
Das Gestell passte gerade so durch den Türrahmen, und im Gang war der Boden ebener, sodass er schneller vorwärtskam. Die Ernüchterung folgte, als er an der Treppe angekommen war. Dass es steil nach oben ging, war das eine. Das entscheidende Problem war jedoch, dass es zu eng war. Erbärmliche fünf Zentimeter fehlten. So laut er konnte, schrie Federsen seinen Frust hinaus. Dann entdeckte er zumindest einen Gegenstand, der ihm von Nutzen sein könnte. Am Fuß der ersten Stufe lag ein Stein von der Größe einer Walnuss. Scharfkantig. Da ertönte über ihm ein Geräusch. Jemand war dabei, die Stahltür zu öffnen. Sein Puls beschleunigte sich. Rasch bückte er sich, um den Stein aufzuheben und in der Hosentasche verschwinden zu lassen.
Die Sonnenstrahlen fielen auf das Gästesofa und brachten Hannes dazu, den Kopf zur Seite zu drehen. Der Prozess des Aufwachens war dennoch eingeleitet worden, sosehr er sich auch am Schlaf festzuklammern versuchte. Er näherte sich dem Moment, in dem alles gut ist: Das kurze Zeitfenster, in dem man vom Schlaf wieder an die Oberfläche gleitet und noch nicht zum Nachdenken oder Erinnern fähig ist. Ein Zustand der Leichtigkeit und des Friedens. Dann schlug Hannes die Augen auf, und der kostbare Augenblick löste sich auf. Bevor die Realität allzu erbarmungslos auf ihn einprügeln konnte, schwang er auch schon die Beine auf den Boden und stand auf.
Als er zum Bad ging, versuchte er, den verwaisten Hundekorb zu ignorieren, er konnte aber dennoch den Gedanken an Socke nicht verdrängen. Von Ben war noch nichts zu hören. Bevor er unter die Dusche stieg, schaltete Hannes das Radio ein. Die Sieben-Uhr-Nachrichten waren gerade zu Ende, und die Wettervorhersage versprach wieder einen heißen Tag. In Zehn-Sekunden-Abständen reduzierte Hannes die Wassertemperatur, bis sie auf Ostsee-Niveau gesunken war. Anschließend stand er mit tropfenden Haaren eine Weile vor dem Spiegel und sah sich selbst in die Augen. Was soll ich bloß tun? Dieser Gedanke, der auf so viele seiner Probleme zutraf, war auch durch das kalte Wasser nicht zu vertreiben gewesen.
Am Badfenster bewegte sich ein Schatten vorbei, um halb acht wurde die Nachtwache von Kollegen abgelöst. Hannes verzichtete auf den Föhn und rubbelte sich die Haare mit dem Handtuch halb trocken. Dann stieg er in eine kurze Hose, zog sich ein T-Shirt über und ging in die Küche. Anna hatte am Samstag noch dafür gesorgt, dass genügend Verpflegung im Haus war, denn als Vorratsmeister konnte man Ben nicht bezeichnen. Noch immer war nichts von ihm zu sehen, sodass Hannes einen Blick ins Schlafzimmer warf. Ben trug noch dieselbe Kleidung wie am Vorabend und lag quer über dem Bett. Der Kopf war unter einem Kissen verborgen, nur eine Strähne der Dreadlocks ragte heraus.
Es roch nicht gut, und Hannes ging zum Fenster, um es zu kippen. Der Garten war in mildes Licht getaucht, das Zwitschern einer Amsel drang herein. Da von Ben weiter keine Regung kam, setzte sich Hannes mit einer Müslischüssel allein auf die Terrasse. Vom Gartentor näherte sich die Ablösung für den Personenschutz. Ein kräftiger Mann und eine Frau, die so unauffällig aussah, dass sie für diesen Job bestens geeignet war. Nachdem Isabell ihm von der Verhaftung Kristian Schmelzers und der eher mageren Verbesserung seiner Lage berichtet hatte, war Hannes schließlich dazu zu bewegen gewesen, auch tagsüber jemanden in seiner Nähe zu akzeptieren. Sich an einen sicheren Ort zu begeben, lehnte er weiter entschieden ab.
Nachdem er die Müslischale abgespült hatte und Ben immer noch schlafend vorfand, machte er sich auf den Weg zum Trainingsgelände. Es tat ihm gut, zumindest die morgendliche Routine beizubehalten. Dass er anschließend mit Nina erneut zum Mittagessen verabredet war, passte ihm weniger ins Konzept. Eigentlich hätte er sich lieber mit Anna getroffen. Stattdessen telefonierte er mit ihr während der Autofahrt und ließ sich von den weiteren Fortschritten bei der Hochzeitsplanung berichten. Hannes hörte nur mit halbem Ohr zu, legte aber doch an einer Stelle ein Veto ein. Die Vorstellung, seine Schwester als Trauzeugin einzusetzen, behagte ihm nicht.
»Sie würde die Vorbereitungen sofort umkrempeln, auf diese Diskussionen hab ich keine Lust.«
»Du musst dich aber mal entscheiden, wer für dich unterschreiben soll.«
»Ben kann das machen.«
»Dann frag ihn endlich.« Auch Anna musste aber zugeben, dass es gerade kein günstiger Zeitpunkt dafür war. »Irgendwie liegt über unserer Hochzeit ein Schatten«, seufzte sie. »Sollen wir sie nicht besser verschieben? Und erst mal abwarten, bis alles wieder normal ist?«
»Auf keinen Fall! Bis September wird alles wieder normal sein, das versprech ich dir!« So vehement Hannes diese Aussage traf, so unsicher war er sich ob ihres Wahrheitsgehaltes. Auf jeden Fall war es wichtig, dass Anna eine Aufgabe hatte, der sie sich widmen konnte und die für Ablenkung sorgte. Dass sie darüber hinaus eigentlich auch an ihren Bewerbungen arbeiten sollte, schien beiden gerade weniger präsent zu sein.
Am Trainingsgelände angekommen, trat Hannes zu den beiden Beamten, die ihm in einem zivilen Fahrzeug gefolgt waren.
»Wollt ihr aufpassen, dass ich nicht absaufe, oder lieber irgendwo gemütlich frühstücken? Um die Ecke gibt es ein Café.«
»Wir bleiben.« Die Frau öffnete die Fahrertür. »Ganz oder gar nicht. Du musst dich schon auf uns einlassen, wenn es Sinn machen soll.«
»Von mir aus.« Hannes ging zu seinem Wagen zurück, klappte den Kofferraum auf und holte seine Sporttasche hervor. »Glaub nur nicht, dass ich ausgerechnet hier in Gefahr bin.«
Diese Annahme musste er nur wenige Minuten später revidieren. Er war spät dran und verließ den Umkleideraum als Letzter. Als er sich dem Bootsschuppen näherte, hatten sich sämtliche Vereinskameraden darin versammelt und blickten auf den Boden. Dorthin, wo er sein Kanu auf einem Holzgestell lagerte.
»Was ist los?«, fragte Hannes.
»Das ist los.« Sein Trainer trat zur Seite und gab den Blick frei.
Hannes keuchte auf und stürzte nach vorn. Von seinem pechschwarzen Kanu war nicht mehr viel übrig. Abgesplitterte Teile lagen auf dem Boden verstreut, auf den ersten Blick war erkennbar, dass es nie mehr übers Wasser gleiten würde. Seit vielen Jahren hatte Hannes darin sein Training und die Wettkämpfe bestritten, es gepflegt und wie ein rohes Ei behandelt. Er ging in die Knie und berührte den Einer-Canadier, der ihm so vertraut war wie wenig anderes. Fassungslosigkeit wich Wut, als er die Spuren begutachtete, die offenbar von einer Axt herrührten.
»Das hier steckte am Bug.«
Wie in Trance nahm Hannes das Papier aus den Händen des Trainers. Der Spaß ist zu Ende. Letzte Zweifel, wer ihm sein Kanu zerstört hatte, waren verflogen. Die beiden Personenschützer standen unschlüssig hinter ihm, dies war nicht ihr Fachgebiet.
»Ruft die Spurensicherung!«, forderte Hannes sie auf. »Vielleicht hat sie diesmal mehr Glück.«
»Diesmal?« Sein Trainer musterte Hannes’ Begleitung. »Was ist hier eigentlich los?«
»Irgendjemand hat eine Mordswut auf mich. Hat schon meinen Reifen angeritzt, die Wohnung abgebrannt, meinen Kutter versenkt, den Hund eines Freundes getötet – und jetzt das hier.«
»Wieso hast du nichts davon erzählt?«
»Weil ich … die Sache nicht größer machen wollte, als sie ist. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Hier geht es nur um mich, für euch besteht keine Gefahr. Hat irgendjemand etwas beobachtet?«
»Nein, wer auch? Wir waren heute Morgen die Ersten. Das Schloss war aufgebrochen und … tja.«
»Fasst hier nichts mehr an.« Hannes erhob sich. »Auch vorn an der Tür nicht. Lasst uns endlich mit dem Training anfangen.«
»Du willst … kannst du jetzt wirklich …?«, stammelte der Trainer.
»Was soll ich sonst tun? Losheulen?«
Am liebsten hätte Hannes das tatsächlich getan. Der Canadier war nicht einfach nur ein Boot. Er war beladen mit Erinnerungen, mit Schweiß, Enttäuschungen und großen Momenten. Nicht ohne Grund hatte er sich immer gegen ein moderneres Exemplar entschieden. Nach dem letzten Wettkampf hatte er es an eine Zimmerdecke hängen wollen – davon wusste Anna allerdings noch nichts.
Er zog ein Trainingsboot des Vereins aus einem Gestell und trug es ins Freie. Dann schloss er sich den anderen Athleten an, die mit einer Joggingrunde das Aufwärmprogramm begannen. Größtenteils herrschte Schweigen, nur dann und wann nahm Hannes Getuschel wahr. Es intensivierte sich, als die Spurensicherung in Begleitung von Clarissa und Marcel auftauchte. Hannes gesellte sich nur kurz zu ihnen, dann schloss er sich seiner Gruppe wieder an. Dass die Konzentration der Sportler an diesem Tag nicht mehr zu retten war, sah schließlich auch der Trainer ein. Er beendete das Programm eine halbe Stunde früher als üblich, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass der nächste Vormittag dafür umso anstrengender werden würde.
Bis auf Hannes und Ralf schlenderten alle zu den Umkleiden zurück. Hannes wollte sich mit Clarissa und Marcel austauschen, während Ralf noch den Kraftraum aufsuchen würde. Die beiden waren die Einzigen aus der Trainingsgruppe, die sich für die Olympischen Spiele qualifiziert hatten, entsprechend stärker war ihr Ehrgeiz. Auch Hannes fühlte sich nicht wohl dabei, das Training abzubrechen. Er musste sich auf die Zunge beißen, um Ralf nicht irgendeine Bosheit hinterherzurufen, denn immerhin hatte sich sein Erzrivale den ganzen Vormittag erstaunlich rücksichtsvoll verhalten.
»Ausgeschwitzt?« Marcel musterte ihn mit sorgenvoller Miene, als Hannes das Ersatzkanu im Bootsschuppen abstellte.
»Geht so. Was habt ihr rausgefunden?«
»Es war wieder eine Axt, von der jede Spur fehlt. Fingerabdrücke an deinem Kanu und dem Tor wurden jede Menge gefunden. Ob die des Täters dabei sind, müssen wir herausfinden. Ein paar Kollegen nehmen allen Sportlern die Fingerabdrücke ab.«
»Da müsst ihr den ganzen Verein abklappern, wir sind ja nicht die einzige Gruppe, die hier trainiert. Sieht also wieder nach einem Fehlschlag aus.«
»Nicht ganz«, widersprach Clarissa. »Schau dir das Papier an.« Sie hielt es gegen das Licht. Am oberen Rand waren Vertiefungen zu erkennen. »In dieses Blatt hat sich was reingedrückt. So wie es aussieht, ein Schlüssel.«
»Und wie soll uns das helfen?«
»Ist besser als nichts. Außerdem wurden in deinem Kahn nicht nur Fingerabdrücke gefunden, sondern auch Blut.«
»Blut?«
»Ja, kleinste Mengen. Reicht aber für eine Analyse.«
»Dein Personenschutz bleibt auf jeden Fall bestehen«, stellte Marcel klar. »Zusätzlich möchte ich ihn auf Anna ausweiten. Genauso auf deine Eltern.«
»Einverstanden. An meine Schwester und ihren Sohn solltet ihr auch noch denken.« Hannes seufzte. »Wenigstens für meinen Neffen wird das wohl ein Abenteuer werden.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Duschen, mich umziehen, und dann treff ich eine alte Freundin. Ist das okay?«
»Solange du die beiden nicht abhängst.« Marcel deutete auf Hannes’ Begleitung.
»Keine Sorge, ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Meldet euch bitte, sobald es was Neues gibt.«
Als er über die Rasenfläche zum Vereinsgebäude ging, verließen seine Kameraden gerade das Gebäude. Am Parkplatz wurden sie von Polizisten aufgehalten, die von allen Fingerabdrücke und Personalien aufnahmen. Hannes war sich sicher, dass keiner von ihnen hinter dem zerstörten Boot und erst recht nicht hinter den anderen Attacken steckte. Nichtsdestotrotz war die Maßnahme notwendig. Man ging nach dem Ausschlussverfahren vor, um so am Ende vielleicht auf Abdrücke an Boot oder Tor zu stoßen, die nicht zuzuordnen waren.
An der Eingangstür angekommen, wandte sich Hannes den beiden Personenschützern zu. »Duschen kann ich aber allein, wenn’s euch nicht stört.«
Die beiden zögerten, dann nickte die Frau. »Wir warten hier an der Tür.«
»Danke.« Er verschwand im Inneren. Als er die Umkleidekabine betrat, blieb er wie angewurzelt stehen. Fassungslos verfolgte er, wie Ralf sich über seine Tasche beugte. »Wieso wühlst du in meinen Sachen rum?«
Ralf zuckte zusammen und drehte sich um. In der Hand hielt er eine Flasche, die Hannes als seine eigene erkannte. »Reg dich ab. Ich hatte nichts mehr zu trinken, da hab ich nachgesehen, ob du was dabeihast.«
»Wie wär’s mit vorher fragen?«
»Du warst ja nicht da, und ich muss gleich weg.«
»Scheißegal, lass deine Finger von meinem Zeug!« Hannes zog sich das T-Shirt aus und pfefferte es auf den Boden. »Hast du dich mit deinen Pfoten etwa auch an meinem Kanu zu schaffen gemacht?«
»Spinnst du?« Ralf stopfte die Flasche in Hannes’ Tasche zurück.
Trotz des empörten Tonfalls blieb Hannes misstrauisch. Ralf wirkte nervös und fahrig. Anders als noch vorhin beim Training. Hannes setzte sich auf die Bank und löste die Schnürsenkel.
»Ist irgendwas los?«, fragte er.
»Was soll sein?«
»Du bist so komisch drauf.«
»Du bist komisch drauf! Beschuldigst mich, ich hätte dein Boot zerhackt!« Mit einem Ruck zog Ralf den Reißverschluss seiner eigenen Tasche zu und warf sie sich über die Schulter. »Fick dich, Mann!«
Hannes sah ihm hinterher. Als Ralf seine Tasche zugezogen hatte, hatte er noch einen Blick hineinwerfen können. Ohne Zweifel hatte sich darin eine Flasche Apfelschorle befunden – die definitiv nicht leer gewesen war. Hannes bückte sich und zog sein eigenes Getränk hervor. Er hielt die Flasche gegen das Licht. Anders als Ralf bevorzugte er beim Training reines Wasser. Täuschte er sich oder waren darin Schlieren zu sehen? Er drehte den Verschluss auf und roch, ohne dass er einen auffälligen Geruch bemerkte hätte. Obwohl er durstig war, drehte er die Flasche wieder zu. Vielleicht war er paranoid, aber vorsichtshalber wollte er den Inhalt von der Spurensicherung untersuchen lassen. War ihm der Feind doch bekannter als gedacht?
Als Clarissa und Marcel wieder im Präsidium eintrafen, stießen sie in Isabells Büro auf eine sichtlich verstörte Kollegin. Sie legte gerade den Hörer auf und runzelte die Stirn. Auch Per war anwesend, er hatte das Telefonat mitgehört und wirkte blasser als sonst.
»Hab ich das eben richtig verstanden?«
Isabell nickte und wandte sich an Marcel. »Jetzt scheint es größere Kreise zu ziehen.«
»Was?«
»Das war Federsens Frau. Sie möchte ihren Mann als vermisst melden.«
Marcel sah sie stumm an.
»Sie hat ihn zuletzt gestern gesehen«, fügte Isabell hinzu. »Als er sie vom Krankenhaus abholte. Wegen eines Armbruchs musste sie dort die Nacht verbringen.«
»Weshalb meldet sie sich erst jetzt?«
»Weil sie es jetzt erst bemerkt hat. Gestern schrieb sie ihm eine SMS, dass sie bei einer Freundin übernachten wird. Er antwortete: Alles klar, ich muss sowieso noch arbeiten. Und … ähm … ich liebe dich. «
Clarissa war die Einzige, die bei diesen Worten anzüglich grinste, vielleicht war es auch eher gehässig.
»Wann war das?«, fragte Marcel.
»Abends um kurz vor sechs. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört, und sie erreicht ihn nicht. Eben kam sie wieder nach Hause, das Bett war unberührt.«
Per legte sein Handy auf den Tisch. »Hab’s gerade bei ihm versucht, es geht sofort die Mailbox an.«
»Hat irgendjemand eine Idee, wo er sein kann oder was er vorhatte?«
»Nein, aber er ist einer Spur gefolgt«, antwortete Isabell. »Zumindest klang so die Nachricht, die er Hannes draufgesprochen hat.«
»Und wann war das?«
»Auch kurz vor sechs. Wie es aussieht, gibt es seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand«, stöhnte Marcel. »Und ich habe ihn für einen dickköpfigen … dabei … vielleicht ist er neben Hannes die zweite Zielperson. Was das bedeutet, muss ich euch nicht sagen.«
»Auch wir könnten ins Visier geraten«, sprach Clarissa es an seiner Stelle aus. »Zum Glück habe ich nicht bei jedem Fall mit den beiden zusammengearbeitet.«
»Clarissa!«
»Schon gut. Ich werde mich natürlich trotzdem weiter mit aller Kraft einsetzen, um das Arschloch zu suchen. Isabell, habt ihr Manu überprüft?«
»Ja, genauso alle Exfreunde von Anna. Deine Theorie scheint ins Leere zu laufen. Manu hält sich nachweislich in Schweden auf, und auch die anderen Männer haben plausible Alibis. Außerdem passt Federsens Verschwinden nicht ins Bild einer Beziehungstat.«
»Stimmt. Ihn dürfte man schwerlich verdächtigen können, dass er Anna den Kopf verdrehen will. Setzt aber voraus, dass ihm tatsächlich was passiert ist. Was ist mit den Alibis von Kristian Schmelzer?«
»Die stimmen. Damit steht fest, dass nur der angeschlitzte Reifen auf sein Konto geht.« Isabell klopfte sich gegen die Stirn. »Irgendwas übersehen wir! Alle Telefonate und die Post der verurteilten Mörder werden jetzt kontrolliert – ohne Erfolg. Wir haben zig Leute befragt – ohne Erfolg. Nicht mal der Hauch einer Spur. Selbst die Verbindung zwischen Kristian und den Tierschützern löst sich auf. Er wohnte zwar mal im selben besetzten Haus wie Carina, hatte aber nichts mit ihr zu tun. Das haben andere Bewohner bestätigt. Er kann nicht mal was mit ihrem Namen anfangen.«
»Mir gibt vor allem Federsens Verschwinden zu denken«, erklärte Per. »Riecht danach, dass er auf der richtigen Spur war. Was genau hat er zu Hannes gesagt?«
»Dass eine gequälte Seele dahintersteckt. Und ob Hannes sich daran erinnert, wie sie sich selbst gefragt haben, ob sie nicht schneller hätten eingreifen sollen.«
»Auf welchen Fall trifft das zu?«, fragte Marcel.
»Letztlich auf alle. Schließlich gab es überall Tote.«
»Ja, aber wo gab es nach der ersten Leiche weitere Tote?«
»Auch so gut wie jedes Mal.«
»Dann geht alles noch mal durch und konzentriert euch auf die Umgebung der späteren Toten. Per, du hängst dich an Federsens Spur. Überprüfe, wann er gestern das Präsidium verlassen hat, ob er mit noch jemandem gesprochen hat, ob man sein Handysignal orten kann und so weiter.«
Auf Isabells Tisch klingelte das Telefon. Sie hob den Hörer ab und führte ein kurzes Gespräch. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Markus Waldner ist aufgewacht und vernehmungsfähig«, teilte sie ihren Kollegen mit.
»Der Zeuge des Brandanschlags auf Hannes’ Wohnung.«
»Genau, und er scheint sich an den Täter erinnern zu können. Wer fährt zu ihm ins Krankenhaus?«
»Ich«, bestimmte Marcel. »Und ihr geht weiter so vor wie besprochen.«
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, saßen seine Kollegen noch kurz stumm beisammen und hingen ihren Gedanken nach. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Steffen Lauer trat ein. Der sonst so gelassene Mann hatte hektische Flecken im Gesicht.
»Wo ist Marcel?«
»Auf dem Weg ins Krankenhaus, ein Zeuge ist …«
»Sehen Sie sich das hier an.« Lauer streckte Clarissa einen Umschlag hin. »Wurde unter den Scheibenwischer eines Streifenwagens gesteckt.«
Für Johannes Niehaus , stand darauf. Clarissa öffnete ihn und zog ein Foto heraus. Ihre Augen wurden groß. Schweigend legte sie es auf den Tisch, sodass Isabell und Per es betrachten konnten. Isabell stieß einen Schrei aus, während Per wie erschossen im Stuhl hing. Auf dem Foto war ein Mann abgebildet, der ihnen nur zu bekannt war und sie oft den letzten Nerv gekostet hatte. Federsen aber in einer derartigen Lage zu sehen, hatte ihm keiner gewünscht. Er lag ausgestreckt auf einer fleckigen Matratze, das eine Handgelenk war an das Bettgestell fixiert und neben seinem Kopf befand sich ein roter Fleck.
»Ob er … lebt er noch?« Isabells Stimme war kaum zu hören.
»Wird zumindest behauptet«, sagte Clarissa. »Auf dem Zettel da.«
Sie legte ihn auf den Tisch. Wie schon bei den früheren Botschaften war auch dieser Text kurz gehalten. Und er räumte alle Zweifel daran aus, dass Federsens Nichterreichbarkeit im Zusammenhang mit der aktuellen Ermittlung stand. Ich will Johannes Niehaus treffen. Allein. Heute um 21 Uhr an der Bushaltestelle Moorsee. Kommt er nicht, stirbt Henning Federsen.
Die Aussicht im Surya war mit der des Café Seaside nicht zu vergleichen, da man weder über den Hafen noch auf eine schöne Landschaft, sondern nur auf Häuserwände blicken konnte. Immerhin linste die Sonne in den Hinterhof, und Hannes ahnte, weshalb Nina ihn ausgerechnet hierher gelotst hatte. Früher waren sie zwar nicht häufig essen gegangen, wenn das Geld aber ausgereicht hatte, waren sie meist in einem indischen Restaurant gelandet. Der gemeinsame Urlaub in Goa war bislang – von Wettkämpfen abgesehen – Hannes’ einzige Fernreise gewesen und hatte sich zumindest damals in ihren Essgewohnheiten niedergeschlagen.
Hannes hatte auf dem Weg in die Innenstadt einen Umweg eingelegt, da er sich doch nicht dazu hatte durchringen können, seine Wasserflasche der Spurensicherung zu übergeben. Zu abstrus erschien ihm der Verdacht, dass Ralf etwas Ernstes gegen ihn im Schilde führte. Stattdessen hatte er sich an die Rechtsmedizinerin Maria gewandt, die zum einen verschwiegen und vertrauenswürdig war und ihm zum anderen noch nie einen Wunsch abgeschlagen hatte. Auch diesmal enttäuschte sie ihn nicht. Das Ergebnis der Untersuchung könne er am Abend erwarten, hatte sie versprochen, und Hannes war sich so gut wie sicher, dass er sich nur lächerlich zu machen drohte.
Dafür sprach auch die Information, die ihm Isabell vor wenigen Minuten übermittelt hatte. Noch immer konnte er es nicht glauben, dass sich Federsen tatsächlich in der Gewalt eines Entführers befand und er selbst der Schlüssel zu dessen Überleben sein sollte. Wie man am Abend vorgehen sollte, würde man am Nachmittag besprechen, sobald Marcel wieder aus dem Krankenhaus zurückkam. Für Hannes stand nun wenigstens fest, dass der Hintergrund nicht im Privaten zu finden war und Ralf definitiv als Täter ausschied. Weshalb hätte er Federsen entführen sollen? Nein, alles sprach für einen Vergeltungsschlag im Zusammenhang mit einem ihrer Fälle. Nur beiläufig registrierte Hannes, dass auch Nina diese These stützte.
»Ich hab darüber nachgedacht, was du mich gefragt hast. Mir fällt immer noch niemand ein, dem du so übel mitgespielt haben könntest, dass er dir jetzt nach dem Leben trachtet.«
»War auch nur so ein Gedanke.« Hannes beobachtete, wie sie die Beine übereinanderschlug. Ihre Haut war tiefbraun – ob sie noch im Urlaub gewesen war, bevor sie die neue Stelle angetreten hatte? Sein Blick blieb auf den Stöckelschuhen haften, und er dachte, dass es wesentlich drängendere Fragen gab als die, woher Nina ihre braune Haut hatte. Immer wieder rief er sich Federsens Worte ins Gedächtnis, die dieser ihm als Sprachnachricht hinterlassen hatte. Sie deckten sich mit der Vermutung, auf die er in der vergangenen Nacht gekommen war, und die ihm jetzt gar nicht mehr so lächerlich erschien. Im Gegenteil, mittlerweile war er fest entschlossen, sie Marcel und den anderen später vorzutragen.
»Bist heute kein besonders anregender Gesprächspartner.« Nina gab ihm mit dem Fuß einen leichten Tritt.
»Sorry, das stimmt. Die Situation … hat sich weiter verschärft. Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir uns nach diesem Treffen erst mal nicht mehr sehen. Nicht, dass auch du …«
»Auch? Wen hat es denn noch getroffen? Deine Freundin?«
»Nein, und das wird auch nicht passieren, weil sie jetzt unter Polizeischutz steht. Dir möchte ich das aber ersparen.«
»Schaust du dich deshalb dauernd um, weil du Angst hast, dass dich jemand mit mir zusammen sieht?«
Hannes zuckte mit den Schultern. Dass er eigentlich nur Blicke in Richtung der Personenschützer warf, um herauszulesen, wie sie sein Treffen mit dieser attraktiven Frau einschätzten, wollte er Nina nicht verraten.
»Keine Sorge, mir macht das keine Angst.« Sie grinste ihn an. »Hast ein ganz schön aufregendes Leben jetzt. Du musst mir mehr davon erzählen, ich finde es spannend!«
»Spannend? Es ist eher verstörend. In den letzten Monaten hab ich so viel Tragik gesehen, dass es für den Rest meines Lebens reicht.«
»Wie geht Anna damit um?«
»Sie hat Angst, ist doch klar.«
»Ich würde sie gern mal kennenlernen.«
Hannes zuckte zusammen. »Äh … klar. Können wir bestimmt mal arrangieren.« Er lachte gezwungen. »Sollte sie heute auch Appetit auf indisches Essen haben, könnten wir ihr hier sogar über den Weg laufen. Elke wohnt nämlich gleich um die Ecke über der Reinigung.« Er hatte es gleich für keine gute Idee gehalten, dass Nina ausgerechnet dieses Restaurant vorgeschlagen hatte. Immerhin beruhigte ihn der Gedanke, dass Anna die indischen Gewürze nicht vertrug. Und wenn er schon mal hier war, konnte er im Anschluss auch noch kurz bei ihr vorbeischauen. Das Verlangen, sie zu sehen, wurde in diesem Augenblick fast schmerzhaft.
Nina wickelte eine Haarsträhne auf ihrem Finger auf. »Muss belastend für dich sein, wenn deine Freundin nicht mit deinem Job klarkommt.«
»Das hab ich gar nicht gesagt. Aber sie könnte gerade in Lebensgefahr schweben, verstehst du? Darum geht’s.«
Nina ließ das Thema fallen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter ihrer Stichelei steckte. »Was war dein heftigster Fall?«
»Jeder war heftig. Aber ich möchte nicht schon wieder die ganze Zeit von mir reden. Erzähl mir, was sich bei dir getan hat.«
Ein Kellner stellte die Teller vor ihnen ab, und Nina begann, ihm eine Zusammenfassung über ihre letzten Jahre zu geben. Hannes hörte nur mit halbem Ohr zu, während er ab und zu nickte, ein »Echt?« beisteuerte und zwischendurch den Gemüsereis mit Dip in sich hineinlöffelte. Er wurde erst wieder hellhörig, als Nina in der Gegenwart angelangt war.
»Es gab noch einen Grund, weshalb ich ausgerechnet zu dieser Firma wollte. Mir gefiel der Gedanke, dass du dann wieder in meiner Nähe bist.«
Sie verstummte und wartete ganz offensichtlich auf eine Antwort. Eine Antwort, nach der Hannes verzweifelt suchte, die er aber hinauszögerte, indem er das Glas an die Lippen setzte. Dann klingelte sein Telefon.
»Entschuldige.« Er tippte auf das Display. »Johannes Niehaus.«
»Herr Niehaus, hier spricht …« Ein Rumpeln erklang im Hintergrund, als würde ein randvoller Servierwagen vorbeigeschoben werden. Hannes meinte, die Stimme zu erkennen.
»Schwester Marianne? Verlangt Fritz mal wieder nach mir?«
»Das … hören Sie, ich … Leider muss ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Er sollte ja morgen ins Hospiz verlegt werden, aber …«
Es war, als lege sich eine Hand aus Eis um Hannes’ Herz und drücke erbarmungslos zu. Sein Sichtfeld engte sich ein, und Gänsehaut überzog seinen Körper. »Was ist passiert?« Seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren wie die eines Fremden.
»Er ist heute Mittag gestorben. Mir fiel sonst niemand ein, den ich anrufen sollte. Enge Verwandte hat er ja nicht.«
Doch, einen Onkel , dachte Hannes automatisch. Der aber im Gefängnis sitzt. Und Ursula. Der werde ich dann …
»Herr Niehaus?«
»Ja … ich …« Hannes schluckte, aber sein Hals blieb trocken. Wie festgenagelt stand Fritz’ Bild vor seinen Augen, als er ihm ein letztes Mal zugeblinzelt hatte. »Ich wusste ja, dass er … dass es nicht gut aussieht. Trotzdem kommt es jetzt überraschend.«
»Für uns ebenfalls, denn er hätte sicher noch ein paar Wochen leben können. Das ist auch ein Grund, weshalb ich zuerst Sie anrufen wollte. Auf seiner Matratze haben wir eine Spritze gefunden. Was genau darin war, wissen wir nicht. Nur, dass er eine Einstichstelle am linken Arm hat. Von uns hat er die Spritze nicht bekommen, das heißt …«
Hannes’ Hand sank mit dem Handy herab. Noch immer sickerte die Erkenntnis, dass der Alte Fritz nicht mehr am Leben war, nur langsam zu ihm durch, da folgte schon der nächste Schlag. Hatte nach Federsen nun auch Fritz für irgendetwas bezahlen müssen, das Hannes angeblich irgendjemandem angetan hatte? Der Täter kannte sich gut aus. Einem perfiden Plan folgend, nahm er sich Dinge und Personen vor, die Hannes am nächsten waren. Von Federsen mal abgesehen, aber der konnte genauso gut ein direktes Ziel sein.
»Was ist passiert? Du bist kreidebleich!«
Hannes ignorierte Ninas Frage und hob das Handy wieder ans Ohr. »Schwester Marianne, ich mach mich sofort auf den Weg! Lassen Sie niemanden in Fritz’ Zimmer rein, bis ich da bin!« Er legte auf und winkte zu einem Tisch. »Ich muss ins Krankenhaus, es ist dringend!«
Mehrere Köpfe drehten sich um, die Angesprochenen nickten. Nina griff nach seiner Hand. »Kannst du mir jetzt mal erklären, was los ist? Wer sind die beiden da drüben?«
»Meine Personenschützer.«
»Personenschützer? Sag mal …«
»Nina, ein Freund ist gerade gestorben … oder umgebracht worden. Ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen. Kannst du diesmal zahlen?«
»Klar, heute war es ja meine Einladung. Wann …«
Hannes stand schon auf. »Wie gesagt, im Moment sollten wir uns besser nicht mehr treffen. In deinem eigenen Interesse. Ich melde mich, wenn das alles vorbei ist.«
»Ach, komm schon, wer sollte mir was antun wollen?«
»Derjenige, der denkt, dass er damit mich trifft.«
»Würde er das?«
»Nina, ich muss jetzt los. Bis bald!«
Er drückte ihr den Arm und bekam ihre Antwort nur noch halb mit. »Bald klingt gut. Ich nehm dich beim Wort.«