KAPITEL 9
Da gerade keine offizielle Besuchszeit war, herrschte im Besucherraum des Gefängnisses gähnende Leere. Hannes dachte daran, wie er in einem ähnlichen Raum in einer anderen Haftanstalt des Öfteren Fritz gegenübergesessen hatte. Noch immer fühlte es sich surreal an, dass er vor wenigen Stunden das Totenbett seines Freundes verlassen hatte. Der Grund, weshalb er sich abermals hinter Gefängnismauern begeben hatte, war ein ähnlicher wie früher: Er erhoffte sich Hinweise für die aktuelle Ermittlung. Die Begleitumstände unterschieden sich jedoch erheblich. Diesmal war er selbst der Gejagte, und die Person, die er gleich befragen wollte, dürfte ihm gegenüber kaum freundschaftliche Gefühle hegen.
Vor wenigen Monaten war dies noch anders gewesen. Hannes konnte sich gut daran erinnern, dass Juliane seine Nähe nicht nur gesucht hatte, um ihm Informationen zum Ermittlungsstand aus der Nase zu ziehen. Dass sich die zwanzigjährige Studentin in ihn verguckt hatte, war selbst ihm nicht entgangen, obwohl derartige Antennen bei ihm schwach ausgeprägt waren. Er hatte ihre Flirterei für seine Zwecke zu nutzen versucht, sie anfangs allerdings lediglich als Zeugin eingestuft. Erst spät hatte er seine Einschätzung dahingehend anpassen müssen, dass sie die gefährlichste Person in dem Spiel gewesen war. Hätte er es früher erkennen müssen? Niemand hatte ihm einen Vorwurf gemacht, zu nebulös hatten sich die tatsächlichen Hintergründe präsentiert. Zugleich war Juliane die erste Täterin gewesen, mit der nicht nur er, sondern sogar Federsen Mitleid gehabt hatte. Eine größere menschliche Tragödie hatte zumindest Hannes noch nie erlebt, und auch sein Vorgesetzter hatte lange über eine vergleichbare Erfahrung nachdenken müssen.
Dass er Juliane nun ohne Begleitung aufsuchte, lag in der Hoffnung begründet, dass sie sich dann offener zeigen würde – und schnelle Ermittlungsfortschritte waren überlebenswichtig. Den ersten Durchbruch hatte es noch am Nachmittag gegeben. Deshalb saß Hannes jetzt auch hier an diesem abgewetzten Tisch. Per hatte in Windeseile die Informationen beschafft, wie es Julianes Bruder nach dem Tod der Eltern ergangen war. Da Lukas noch minderjährig war, hatte sich – wie in solchen Fällen üblich – das Jugendamt eingeschaltet und zunächst eine Unterbringung in der Verwandtschaft angestrebt. Dagegen hatte sich der Siebzehnjährige vehement zur Wehr gesetzt, und offenbar war auch niemand gefunden worden, der eine ausgeprägte Bereitschaft gezeigt hatte, ihn bei sich aufzunehmen.
Das Familiengericht hatte schließlich die Vormundschaft an das Jugendamt übertragen. Anschließend war Lukas in die Obhut der Jugendschutzstelle gekommen, die eine Einrichtung namens Waldhaus in einer alten Villa betrieb. Dort lebte Lukas seit mehreren Wochen in einer betreuten Wohngruppe, was wohl auch Federsen nicht entgangen war. Dass die Funkzelle, in der sein Handy zuletzt eingewählt gewesen war, das Waldhaus abdeckte, war Per sofort ins Auge gesprungen. Der Kontakt mit der Einrichtungsleitung hatte die Vermutung bestätigt, dass sich der Kriminalhauptkommissar vor Ort einen Eindruck hatte verschaffen wollen.
An der Richtigkeit von Hannes’ Verdacht hatte anschließend keiner der Polizisten mehr gezweifelt. Zumal auch noch bestätigt wurde, dass Lukas tatsächlich einen Motorroller besaß: einen Kreidler Flory 50 Classic. Üblicherweise hatte er diesen bei den Fahrradständern geparkt, dort war das Gefährt allerdings nicht aufzufinden, wie auch nicht auf dem Rest des Geländes. Federsens Auto blieb ebenfalls verschwunden, mittlerweile war es zur Fahndung ausgeschrieben worden.
Nach der Zeugenaussage zweier Teenager hatte Isabell den nächsten Treffer beigesteuert. Die beiden hatten ihr erzählt, einen kleinen, dicken Mann zur entsprechenden Uhrzeit zur Straße gehen und kurz an einem silbergrauen Mittelklassewagen stehen gesehen zu haben. Sie selbst hatten auf den Bus gewartet, um zum Kino zu fahren. Der Mann sei aber nicht eingestiegen, sondern die Straße entlanggegangen und in einem Waldweg verschwunden. Die Umgebung war sofort abgesucht worden – immerhin mit einem Teilerfolg.
Zwar war Federsen nicht gefunden worden, dafür hatte die Spurensicherung im Wald frische Reifenspuren entdeckt, die in einer Kurve endeten, von der ein schmaler Pfad abging. Den Spuren nach zu urteilen hatte das Auto an dieser Stelle gewendet und war wieder zur Straße zurückgefahren. Die Vorstellung, dass sich darin ein außer Gefecht gesetzter Kriminalhauptkommissar befunden hatte, setzte keine große Fantasie voraus. War es aber auch sein eigener Wagen gewesen? Hatte Lukas ihn niedergeschlagen, dann den Autoschlüssel an sich genommen, den Wagen geholt und Federsen damit abtransportiert? Entsprechende Beobachtungen von Zeugen gab es nicht, unwahrscheinlich erschien diese Theorie dennoch nicht. Sie würde zugleich erklären, wie es dem schmächtigen jungen Mann gelungen war, den schweren Körper außer Reichweite zu bringen.
Zu guter Letzt waren dem Zeugen der Brandnacht, Markus Waldner, Fotos von Lukas gezeigt worden. Der Mann wollte sich zwar nicht hundertprozentig festlegen, war sich aber so gut wie sicher, dass dies die Person war, die er nachts auf dem Bürgersteig gesehen hatte und die anschließend die Molotow-Cocktails geworfen sowie ihn krankenhausreif geschlagen hatte. Die Tatsache, dass dazu ein Siebzehnjähriger in der Lage gewesen war, schien ihm zuzusetzen. Der gehässige Kommentar seiner Frau, dass er eben zuvor sein Testosteron nicht an anderer Stelle hätte verpulvern sollen, hatte erahnen lassen, was hinter seinem nächtlichen Spaziergang gesteckt haben dürfte. Eine Aussage dazu hatte er strikt verweigert, und auch seine Frau schien kein Interesse zu haben, der vermutlich delikaten Geschichte weitere Mitwisser zuzuführen.
Die Tür zum Besucherraum wurde geöffnet. Ein Justizangestellter führte Juliane herein. Aufmerksam sah Hannes der Frau entgegen. Ihr rechtes Augenlid zuckte, diese Besonderheit hatte er vergessen. Juliane schien die Begegnung also unangenehm zu sein, und als sie – kaum dass sie ihm gegenüber Platz genommen hatte – an einem Fingernagel zu knabbern begann, verstärkte dies ihre nervöse Ausstrahlung noch. Ansonsten war ihr Gesicht jedoch ausdruckslos, das galt vor allem für ihre dunklen Augen. Das Lippenpiercing hatte sie herausgenommen, die Stelle, an der es sich befunden hatte, war noch deutlich zu erkennen.
Hannes schwieg weiter und musterte sie. Die Haare waren strähnig, die Haut schimmerte blass, die Schultern hingen kraftlos nach unten. Juliane, die als Maja Krontal geboren, aber kurz nach der Geburt aus dem Kinderwagen gerissen und in eine fremde Umgebung verschleppt worden war, hielt den Blick gesenkt. Sie erhielt psychologische Betreuung, aber es war offensichtlich, dass sie immer noch unter seelischen Qualen litt. Vielleicht sogar stärker als an jenem schicksalhaften Tag auf der Klippe über der Ostsee.
Hannes nickte dem Justizangestellten zu, der sich daraufhin zur Tür bewegte und daneben Stellung bezog. Juliane nahm den Nagel des Zeigefingers aus dem Mund und legte die Hände ineinander verschränkt auf den Tisch. Dem Zustand der Nagelbette entnahm Hannes, dass sie ihrer schlechten Angewohnheit nicht nur in seiner Anwesenheit nachging. Als sie die Stille durchbrach, bewegten sich ihre Lippen kaum.
»Hätte nicht gedacht, dich noch mal wiederzusehen.«
»Wie geht es dir?«
»Wie wohl?« Die Monotonie wich nicht aus der leisen Stimme. »Ich hab meine Eltern getötet.«
»Weil du von falschen Rahmenbedingungen ausgegangen bist.«
»Tot sind sie trotzdem, und mein Leben ist im Arsch.« Langsam bewegten sich ihre Augen nach oben, bis sie ihn direkt ansahen. »Hättest du mich nicht früher stoppen können?«
Hannes stockte der Atem. War die ursprüngliche Vermutung doch zutreffend, und sie schob ihm die Schuld zu? Wie war es ihr dann gelungen, ihren Bruder für ihre Zwecke einzuspannen? Aber es loderte kein Zorn in ihrem Blick, Hannes konnte darin nur Traurigkeit entdecken. Und Einsamkeit.
»Mir wäre das auch lieber gewesen«, erwiderte er. »Die wahren Zusammenhänge zu erkennen, war aber nicht ganz einfach.«
»Ich weiß. Die Hauptschuldige ist meine … dieser abartige Mensch, der mir und meinen Eltern das angetan hat. Sie ist es, die unser Leben zerstört hat, und irgendwann wird sie dafür bezahlen!« Erstmals kamen Emotionen ins Spiel, wie Hannes mit Genugtuung feststellte. Diese Drohung hatte sie schon nach ihrer Verhaftung ausgestoßen, und Hannes war sich bereits damals sicher gewesen, dass sie an einem neuen Racheplan arbeitete. Mit einem Mal hielt er es wieder für völlig ausgeschlossen, dass sie sich stattdessen mit ihm und Federsen ein anderes Ziel gesucht hatte.
»Wie geht es deinem Bruder?«, wechselte er abrupt die Stoßrichtung.
»Weiß ich nicht. Er will keinen Kontakt. Kann ich verstehen.« Ihr Blick richtete sich wieder auf ihre Hände, die Erregung in ihrer Stimme war verflogen. »Ich bin mir sicher, dass er mich abgrundtief hasst. Würde ich an seiner Stelle jedenfalls tun.«
»Du weißt, weshalb ich hier bin?«
»Ja, deine Kollegin war schon mal hier. Tut mir leid für dich.«
»Das ist alles?«
Fragend sah sie ihn an. »Was soll ich sagen?«
»Zum Beispiel, dass du damit nichts zu tun hast.«
»Habe ich nicht, ist das nicht logisch? Was sollte ich gegen dich haben?«
»Dein Bruder scheint das anders zu sehen.«
»Versteh ich nicht.«
»Konkret gehen wir davon aus, dass er Dinge zerstört, die mir gehören, dass er meinen Vorgesetzten ermorden will und einen Hund getötet hat. Dachte wohl, dass es meiner war.«
»Er hat einen Hund getötet?«
Hannes verdrehte innerlich die Augen. Es passte zu Juliane, dass sie dieses Verbrechen am meisten schockierte. Ihre Tierliebe schien allerdings nicht in der Familie zu liegen, wenn man daran dachte, womit ihre leiblichen Eltern ihr Geld verdient hatten.
»Aber warum sollte er das tun?«, fragte sie. »Wenn er sich an mir rächen wollte, würde das ja Sinn ergeben, aber an dir?«
»Und an meinem Chef.«
»Der ist ein Ekelpaket, aber trotzdem ergibt es keinen Sinn. Ihr müsst euch täuschen.«
Hannes verlor die Geduld und schlug auf den Tisch. »Die Indizien sprechen eine andere Sprache. Hast du ihm irgendeinen Blödsinn erzählt, um dich reinzuwaschen? Uns die Schuld gegeben oder es zumindest versucht?«
Ihr Augenlid zuckte wieder. »Wir haben keinen Kontakt. Allerdings … ich hab ihm mehrmals geschrieben. Wollte mich rechtfertigen und erklären, warum ich das getan habe.«
»Wann zuletzt?«
»Vielleicht vor drei Wochen. Ich hab damit aufgehört, weil nie was zurückkam. Mir fällt nichts mehr ein, was ich ihm noch sagen soll.«
»Und was hast du bisher gesagt? Irgendetwas über Federsen und mich?«
»Ja … schon. Also vor allem über dich, weil … weil du am ehesten in der Lage gewesen wärst, mich zu überführen. Wir verstanden uns ja gut und haben uns regelmäßig getroffen.«
Hannes schluckte. »Das hast du ihm geschrieben?«
»Warum nicht? Ich fand, dass er ein Recht darauf hatte. Zu erfahren, wie alles abgelaufen ist.«
»Juliane, er war traumatisiert! Ist es wahrscheinlich immer noch. Hältst du es für eine kluge Idee, ihm auch noch Details zu schildern?«
»Aber ich habe ihm genauso von Marianne … meiner Stiefmutter erzählt. Er muss doch begriffen haben, dass sie die Hauptschuld trägt. Neben mir. Aber doch sonst niemand!«
Hannes schwieg. Wer wusste schon, was Julianes Ausführungen in einem Jugendlichen auslösten, der hatte zusehen müssen, wie seine Eltern von der eigenen – ihm bis vor Kurzem unbekannten – Schwester ermordet wurden? Von der Schwester, die ihn darüber hinaus zuvor auch noch entführt hatte! Die Betreuer des Waldhauses hatten berichtet, dass er sich noch immer strikt weigerte, über das Geschehen zu sprechen. Anfangs hatte er über Wochen sogar gar kein Wort gesprochen. Hannes konnte sich gut vorstellen, dass er sich seine eigene Wahrheit zusammengebastelt hatte. Und in dieser Fantasiewelt trug nicht nur seine Schwester Schuld. Dazu kam, dass sie als Inhaftierte für ihn nicht erreichbar war. Genauso wie Julianes Stiefmutter, die ebenfalls verurteilt worden war. Wer blieb dann noch? Die vermeintlich unfähigen Polizisten, die nicht rechtzeitig eingeschritten waren!
Lukas’ Mitbewohner wurden momentan ebenfalls befragt, bislang hatte Hannes keine Mitteilung erreicht, ob man dabei auf nützliche Informationen gestoßen war. In seinem Zimmer war schon mal nichts Verwertbares gefunden worden, was Hannes nicht überraschte. Lukas war ein hochintelligenter Junge, und dass er sein Abitur um ein Jahr hatte verschieben müssen, lag nicht an mangelnder Begabung. Er dürfte wochenlang an einem Plan gefeilt haben, wie er vorgehen und sein Ziel erreichen konnte. Dafür sprach auch der clevere Schachzug, die autonome Szene gegen Hannes aufzubringen, mit der Lukas eigentlich überhaupt keine Berührungspunkte hatte. In Hamburg war sein Foto herumgezeigt worden, und mehrere Leute hatten bestätigt, dass sich ein Junge seines Aussehens dort herumgedrückt habe. Beim Auslegen der Flugblätter war er zwar nicht beobachtet worden, aber dass er es gewesen war, stellte eine logische Schlussfolgerung dar. Hannes dachte an die Vielfalt der Informationen, über die Lukas verfügte, und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Juliane, die nun erschüttert und verstört wirkte.
»Was hast du ihm alles über mich geschrieben? Auch persönliche Dinge?«
»Eigentlich nicht … so viel weiß ich doch selbst nicht über dich. Das mit dem Sport, deinen Augen und diesem Kutter, von dem du mir mal erzählt hast. Und dass du eine Freundin hast. Aber mehr nebenbei. Du bist dir wirklich sicher, dass er … er ist noch fast ein Kind!«
Hannes winkte ab. »Gerade mal drei Jahre jünger als du. Und über deine … Fähigkeiten müssen wir wohl nicht diskutieren.«
»Wenn ihr euch so sicher seid, wieso verhaftet ihr ihn dann nicht?«
»Weil wir nicht wissen, wo er sich aufhält. Seinen Betreuern tischte er auf, dass er seine Tante besucht und drei Nächte bei ihr bleibt. Deshalb wurde er nicht als vermisst gemeldet.«
»Das haben die ihm einfach so geglaubt?«
»Nee, natürlich haben sie es überprüft. Die Tante bestätigte, dass er sich telefonisch angemeldet hat. War wohl selbst überrascht, dass er sie sehen wollte. Hinterfragt wurde es aber erst von uns. Als wir diese Tante jetzt kontaktierten, erfuhren wir, dass er seinen Besuch wegen einer angeblichen Krankheit wieder abgesagt hat. Dein Bruder ist nicht dumm, er geht sehr überlegt vor. Selbst sein Handy scheint er weggeworfen zu haben, es ist nicht zu orten.«
»Wie gesagt, tut mir leid, wenn ich da irgendwas ausgelöst haben sollte.« Sie senkte den Kopf. »Was ich auch anpacke, geht schief. Ich hatte Mitleid mit ihm, Schuldgefühle und … ich schrieb und schrieb, viele Seiten voll, um ihm … keine Ahnung.«
»Um seine Absolution zu erhalten«, vermutete Hannes. Das Mitleid, das er früher für sie empfunden hatte, war verschwunden. Zu ernst war seine eigene Notlage, und er war wütend, dass es letztlich Julianes Schuld war. Egal ob durch ihre Briefe oder durch die Morde – sie war es, die Lukas ins Verderben geschickt hatte. Ob sie zumindest Schadensbegrenzung betreiben konnte? Seine Hoffnung war gering und am Ende auch vergeblich.
»Ich kann dir leider nicht helfen«, erklärte sie. »Ich weiß nichts von ihm. Kannte nur das Haus seiner … unserer Eltern, wusste, wo er Hockey spielt und was er für ein Fahrrad fährt.«
»Als du ihn gefangen gehalten hast, werdet ihr doch mal gesprochen haben?«
»Ja, aber nur wenig und nicht über ihn. Er interessierte mich damals nicht, verstehst du? Wobei so ganz stimmt das nicht. Eigentlich hasste ich ihn für das, was er hatte und was man mir vorenthielt.«
»Tja, so ist das mit Hass.« Hannes stand auf. »Einmal in die Welt gesät, lässt er sich nur schwer wieder einfangen.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Keine Ahnung. Ihn suchen. Aber wie es aussieht, bestimmt zurzeit er die Spielregeln. Er will, dass ich mich ihm noch heute Abend ausliefere.«
»Tu das nicht!«
»Und dann? Er droht damit, meinen Chef umzubringen. Der mag ein Ekelpaket sein, aber seinen Tod will ich trotzdem nicht verschulden.«
»Es wäre nicht deine Schuld, sondern meine.«
»Denkst du, das hilft mir jetzt weiter?«, fuhr er sie an. »Außerdem wäre es dann doch auch noch nicht zu Ende. Lukas hat sich da reingesteigert, er will mich zur Strecke bringen! Daran besteht kein Zweifel. Scheint in euren Genen zu liegen. Wenn ihr euch was vorgenommen habt, zieht ihr es gnadenlos und eiskalt durch.«
»Ich … ich bin nicht eiskalt. Wie kannst du das sagen?«
Hannes winkte ab. »Ich hatte Mitleid mit dir, und ich wünsche dir auch jetzt nichts Schlechtes. Trotzdem wär ich froh, wenn wir uns nie begegnet wären.«
Damit stand er auf, gab dem Justizangestellten ein Zeichen und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vor ihm lagen noch drei Stunden, in denen entschieden werden musste, ob er Lukas’ Forderung nachgeben sollte oder nicht. Drei Stunden, die entscheidend für seine Zukunft, wenn nicht gar fürs Überleben waren. Es kam ihm vor, als handele es sich eher um drei Minuten.
Der Plan ging nicht auf, wie Federsen ernüchtert feststellte. Er verfluchte sich dafür, dass er das Bett vor einer gefühlten Ewigkeit durch den Gang zur Treppe geschoben hatte und damit seinen Entführer nachhaltig verschreckt zu haben schien. Wie alt war dieser Kerl doch gleich gewesen? Sechzehn oder siebzehn? Federsen fiel es immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Allerdings – dass der Junge bisher erstaunlich abgebrüht gehandelt hatte, erkannte er. Nur hatte es sich dabei eben nie um einen direkten Kontakt gehandelt, sondern um Aktionen aus dem Hinterhalt.
So gesehen war es wiederum gut, dass Lukas sich nicht mehr herzutrauen schien. Hätte er Federsen schlafend vorgefunden, wer weiß, zu welcher Tat er sich als Nächstes hätte hinreißen lassen. Dass er gar nicht mehr auftauchte, war allerdings auch nicht erstrebenswert. Auf Nahrung konnte Federsen zur Not eine Weile verzichten, schließlich trug er genügend Reserven mit sich herum, wie er in einem kurzen Anfall von Selbstironie dachte. Die Sehnsucht nach einem randvollen Glas Wasser brachte ihn aber an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung.
Um sich abzulenken, dachte er darüber nach, welche Fährten seine Kollegen wohl gerade verfolgen mochten. Hätte er sich gegenüber Marcel nur weniger zugeknöpft gegeben! Ob Hannes in der Lage war, die Sprachnachricht richtig zu deuten? Hatten sie Lukas vielleicht sogar schon geschnappt, sodass der gar nicht mehr zurückkommen konnte? Federsen bekam eine Gänsehaut. Er selbst hätte die Information, wo sich dieses Versteck befand, notfalls aus dem Kerl herausgeprügelt. Marcel dagegen würde sich an die Spielregeln halten, das war klar. Wenn Lukas lange genug den Mund hielt, sah es zappenduster für ihn aus.
Widerwillig griff er nach der leeren Wasserflasche und öffnete die Hose. Nur gut, dass ihn hier unten niemand sah! Wobei, viel sehen konnte man eh nicht. Die Campinglaterne war ausgegangen, und von den Kerzen verfügte nur noch eine über etwas Brenndauer. Gern hätte er sie gelöscht und nur ab und zu angezündet, aber er besaß kein Feuerzeug, obwohl er normalerweise immer eins in Reichweite hatte. Seine Taschen waren gründlich geleert worden, was ein weiteres Problem mit sich brachte, das nur Abstinenzler als Kleinigkeit abtun würden: Nikotinentzug.
Ersatzweise lutschte Federsen immer wieder auf dem scharfkantigen Stein herum, nun nahm er ihn aus dem Mund und setzte die Flasche an die Lippen. Gerade noch rechtzeitig hatte er damit aufgehört, seine Blase auf dem Boden zu entleeren. Flüssigkeit war Flüssigkeit, und bevor er verdurstete, kippte er lieber mit geschlossenen Augen seinen eigenen Urin hinunter. Mit jedem Schluck schwor er sich, seinem Entführer einen Knochen nach dem anderen zu brechen. Verzweiflung und Trauma hin oder her, was dieser Mistkerl abzog, war mit nichts zu entschuldigen!
So rasch sie gekommen war, verflog die Wut auch wieder. Er versuchte gegen die Verzagtheit anzukämpfen, die mehr und mehr Besitz von ihm zu ergreifen drohte. Er schämte sich nicht für seine Angst, befürchtete aber, dass sie ihn in seinen Handlungen einschränkte. Sollte Lukas diesen Raum noch mal betreten, war dies vielleicht der letzte Moment, in dem er sich heil aus dieser Sache herauswinden konnte. Das war es, worauf er seine nachlassenden Kräfte konzentrieren musste. Wenn schon nicht für sich selbst, dann zumindest Laura zuliebe. Die Kopfschmerzen wurden wieder stärker, als er an seine Frau dachte.
Konnte der nächste Schub ihrer Krankheit durch Stress ausgelöst werden? Aus Sorge um den verschwundenen Ehemann? Wer würde sich um seine Frau kümmern, wer würde die Rechnungen bezahlen, um ihr mehr als das Existenzminimum zu ermöglichen? Nicht mal richtig verabschieden hatten sie sich können, überhastet war Federsen ins Präsidium aufgebrochen, nachdem er sie zu Hause abgesetzt hatte. Wie es wohl ihrem Arm ging? Dieser verfluchte Job! Und Lauras verfluchter Bruder, wegen dem er außerstande gewesen war, sich rechtzeitig in den Vorruhestand abzusetzen!
Zum ersten Mal seit langer Zeit ließ Federsen seinem Frust und seiner Enttäuschung über das Leben in Form von Tränen freien Lauf. Wenn er hier lebendig herauskam, musste er einiges ändern, das schwor er bei allem, was ihm wichtig war. Er stützte die freie Hand auf sein Knie und fokussierte die flackernde Flamme der Kerze. Unter dem Docht befand sich nur noch fingerdick Wachs. Diese dünne Schicht schien ihm mit etwas zu drohen, wovor er sich schon immer am meisten gefürchtet hatte: Dunkelheit.
Die Vernehmungen der Waldhaus- Bewohner waren abgeschlossen, hatten aber nicht zu Resultaten geführt, die Isabell und Per zu Jubelschreien verleitet hätten. Man hatte gar nicht erwartet, dass Lukas sich einem der anderen Jugendlichen anvertraut hatte, aber zumindest gehofft, dass ihnen im Nachhinein merkwürdige Äußerungen oder Beobachtungen einfielen. Doch wie es von den Betreuern bereits angedeutet worden war, hatte sich Lukas abgekapselt und kaum ein Wort mit den anderen gewechselt. Manche meinten, dass er sich für etwas Besseres hielt, da der Großteil der Teenager aus problematischen Verhältnissen stammte.
Das erschien Isabell angesichts seiner Herkunft denkbar, zugleich zweifelte sie daran, dass dies der einzige Grund für seine Zurückgezogenheit gewesen war. Anfangs hatten ihn wahrscheinlich tatsächlich Verzweiflung und Traurigkeit davon abgehalten, Kontakt mit seinen Mitbewohnern aufzunehmen, später hatte er vermutlich nicht riskieren wollen, dass sie etwas von seinen Plänen mitbekamen. Zudem war er auch schon früher kein besonders zugänglicher Typ gewesen und hatte Schwierigkeiten gehabt, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Er galt als hochbegabt, und bei solchen Menschen stellte ein introvertierter Zug keine Seltenheit dar.
Einigen der Waldhaus -Bewohner war zumindest aufgefallen, dass er viel unterwegs gewesen war, angeblich hatte er sich immer wieder nachts weggeschlichen. So auch in der Nacht, als die Lena versenkt worden war. Gleich drei Teilnehmer einer Geburtstagsfeier hatten ihn dabei beobachtet, wie er mit einem Rucksack das Gelände verlassen hatte. Seinen Roller habe er bis zur Straße geschoben und erst dann den Motor gestartet.
Eine weitere Bestätigung, dass man sich zu Recht auf Lukas fokussierte, hatten sie in dem Zimmer einer Sechzehnjährigen erhalten. Das Mädchen blickte auf eine kriminelle Laufbahn zurück, die man nur mühsam mit ihrem noch immer kindhaften Aussehen in Verbindung bringen konnte. Dass sie auch über eine weiche Seite verfügen musste, zeigte ihr liebevoller Umgang mit zwei Jack Russell Terriern, die sie in das Waldhaus hatte mitbringen dürfen. Andernfalls wäre sie schon in der ersten Nacht getürmt, wie sie glaubhaft versicherte. Von Lukas hielt sie wenig, er war nach ihrer Meinung ein verwöhntes Weichei, das noch in dreißig Jahren seiner Mutter nachheulen würde. Vor allem nahm sie ihm übel, dass er vor Hunden nicht nur Angst hatte, sondern sie regelrecht verabscheute. Einmal habe er ihr gedroht, die Terrier zu vergiften, wenn sie die Tiere nicht auf Abstand hielt. Den beiden war bisher nichts passiert, stattdessen hatte Lukas seine Aversion dann wohl an Bens Hund ausgelebt.
Dass er im Gegensatz zu seiner Schwester generell kein Tiernarr war, erfuhren Isabell und Per eine halbe Stunde später von einer weiteren Person. Hannes hatte sich an eine enge Freundin von Lukas erinnert, die nach dessen Entführung ausführlich befragt worden war. Die beiden hatten ein derart enges Verhältnis, dass sie sich Bruder und Schwester nannten. Mittlerweile hatten sie sich allerdings entfremdet, wie die Siebzehnjährige berichtete. Sie saß auf dem Sofa ihrer Eltern und hatte angefangen zu weinen, als man ihr den Grund der Befragung mitgeteilt hatte. Inzwischen hatte sie sich wieder gefangen, war aber noch bleich im Gesicht.
»Ich habe versucht, für ihn da zu sein, als das mit seinen Eltern passierte. Zuerst wollte er gar nicht mit mir reden und mich nicht mal sehen. Dann stand er auf einmal vor der Tür. Auch da hat er kaum was gesagt. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen.« Sie deutete auf Per. »Als wir erfuhren, dass er einen gesetzlichen Vormund braucht, aber nicht zu Verwandten will, haben ihm meine Eltern angeboten, die Vormundschaft zu übernehmen. Er hat sich immer gut mit ihnen verstanden, wir hingen schon als Kinder ständig zusammen. Lukas hat sie aber nur angesehen, ist aufgestanden und rausgegangen.«
»Wie ging es weiter?«
»Eigentlich ging es gar nicht weiter. Ich habe ihm SMS und WhatsApps geschickt, ihn angerufen und bin zweimal zum Waldhaus gefahren, aber er weigerte sich, mich zu sehen. Ich dachte mir, dass er schon irgendwann wieder zu sich kommen wird. Ist ja auch krass, was ihm passiert ist. Außerdem war es schon früher so, dass er fast alles mit sich selbst ausmachte. Er sprach selten über Gefühle. Nicht mal mit mir, obwohl ich ihn von allen am längsten und besten kannte. Vor zwei Wochen hab ich entschieden, ihn jetzt erst mal in Ruhe zu lassen.«
»Er hat nie davon gesprochen, dass er der Polizei eine Schuld gibt?«
»Wie gesagt, wir haben uns nur einmal gesehen. Über seine Eltern und alles, was damit zusammenhängt, wollte er nicht reden. Ich kann nicht glauben, dass er zu … so was fähig ist!«
»Vorhin haben Sie aber gesagt, dass er als Kind Tiere gequält habe.«
»Ja … nein. Also er hat das nicht ständig gemacht. Es gab mal eine komische Phase, als er sechs war, das stimmt. Aber danach ist mir so was nicht mehr aufgefallen. Ich weiß nur, dass er dünnhäutig reagierte, wenn ihn jemand anmachte, dass in den Mastbetrieben seiner Eltern Tiere gequält werden. Dass er sich besonders dafür interessierte, wie es den Viechern dort geht, kann ich aber nicht sagen. Er kann mit Tieren nicht viel anfangen, das ist alles.«
Isabell vertiefte dieses Thema nicht weiter, sondern konzentrierte sich auf das Wesentliche. »Sie kennen ihn und seine Familie, seit er ein Kind war. Wo könnte er sich verstecken? Zu seinem eigenen Besten müssen wir ihn so schnell wie möglich finden, bevor er Dinge tut, die nie mehr gutzumachen sind.«
»Im Haus seiner Eltern hat er sich immer wohlgefühlt.«
»Da waren wir natürlich schon. Genauso auf allen Höfen, die den Krontals gehört haben. Welche anderen Orte fallen Ihnen noch ein? Orte, an denen er gern war oder die aus einem anderen Grund infrage kommen.«
Sie verbarg das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. »Er war nicht besonders unternehmungslustig. Konnte sich tagelang in ein Computerspiel vertiefen. Nicht so Ballerkram, sondern anspruchsvolle Strategiespiele. Er liebte es, mehrere Züge im Voraus zu planen und alle Eventualitäten zu bedenken. Schach war auch so eine Leidenschaft von ihm. Was ist bloß in ihn gefahren? Er muss wahnsinnig geworden sein. Und ich war nicht für ihn da.«
»Sie haben es versucht, machen Sie sich keine Vorwürfe.«
»Mir fällt nur ein Ort ein, der für ihn besonders war. Aber das wird Ihnen nicht helfen.«
»Warum nicht?«
»Weil es kein Gebäude ist. Er wollte Grafikdesign studieren, konnte schon immer gut zeichnen und malen. Am liebsten zeichnete er die Natur. Weil die ständig in Bewegung und Veränderung ist. An der Ostsee gibt es einen Strandabschnitt, den er besonders mag. Vielleicht deshalb, weil wir als Kinder oft mit unseren Eltern dort waren. Es gibt da eine Stelle, an der das Wrack von einem Fischerboot liegt. Das hat er bestimmt hundertmal gemalt. Er wollte den Verfall festhalten.«
»Beschreiben Sie uns, wo es ist.«
»Ich kann es Ihnen auf einer Karte zeigen. Aber ein Haus oder eine Hütte gibt es da nicht.« Sie zog ein Tablet heran. Als sie die Klappe zurückschlug, war die YouTube-App geöffnet. Sie verharrte mitten in der Bewegung.
»Was ist los?« fragte Isabell. »Fällt Ihnen noch etwas ein?«
»Ja, aber nichts Konkretes. Lukas hat sich für lost places interessiert, sagt Ihnen das was?«
Per nickte, während Isabell den Kopf schüttelte.
»Lost places sind vergessene Orte«, erklärte Per. »Das können aufgegebene Industrieanlagen sein, ehemalige Militäranlagen, Krankenhäuser, Tunnel und so weiter. Vergnügungsparks sind derzeit der Renner.«
»Der Renner?«
»Es gibt eine Community, die sich mit solchen Orten beschäftigt. Die Leute tauschen sich im Internet dazu aus, machen Fotos und Videos. Ist ja auch faszinierend. Manchmal ist noch die Einrichtung komplett vorhanden, obwohl das Gebäude vor vielen Jahren aufgegeben wurde.«
»Lukas hat auf YouTube häufig Filme dazu angesehen«, sagte die Siebzehnjährige. »Als Kind träumte er davon, Forscher zu werden. Ging allen auf die Nerven, weil er sämtliche Details aus dem Leben bekannter Entdecker runterbeten konnte. Das war auch auf anderen Gebieten so, er ist sehr intelligent. Hat sogar eine Schulklasse übersprungen, weil er ständig unterfordert war. Die meisten hielten ihn für einen Streber, dabei ist er einfach nur schlau. Führte dazu, dass er eher ein Außenseiter und Einzelgänger war. Er hat noch nie eine Freundin gehabt, und seine Eltern mussten ihn fast zwingen, wenigstens in einen Sportverein zu gehen.«
»Was hat es mit Lukas und diesen lost places auf sich?«, führte Isabell sie zum roten Faden zurück.
»Er wollte selbst mal so ein Gebäude finden. Als Erster, vor allen anderen.«
»Und hat er das?«
»Glaub ich nicht. Zumindest nicht, als wir noch Kontakt hatten. Sonst hätte er mich sofort da hingeschleppt.«
»Hat er Sie mal zu einem anderen, schon bekannten lost place mitgenommen?«
»Nein. Ich kann damit nichts anfangen. Finde schon die Videos gruselig und … irgendwie morbide.«
Isabell blickte zu Per. »Sein Surfverhalten im Internet sollte mal ausgewertet werden.«
»Dummerweise hat er den Laptop nicht in seinem Zimmer liegen lassen. Aber vielleicht lässt sich herausfinden, ob es hier in der Gegend lost places gibt, die allgemein bekannt sind.«
Sie ließen sich noch den Strandabschnitt zeigen, an dem Lukas gezeichnet hatte. Schon beim Blick auf die Karte ahnte Isabell, dass Skepsis berechtigt war. Die nächste Ortschaft lag mehrere Kilometer entfernt, aber vielleicht gab es ja ein verfallenes Gebäude, das in Vergessenheit geraten war? Schweigend verließen sie die junge Frau, die ihnen mit Tränen in den Augen Erfolg wünschte und zugleich um eine schonende Behandlung von Lukas bat. Isabell und Per sagten dazu nichts, warfen sich nur einen vielsagenden Blick zu. Lukas’ Sandkastenliebe im Auge zu behalten, dürfte kein Fehler sein. Sollte er nachts an ihre Tür klopfen, würde sie wohl nicht als Erstes die 110 anrufen.
Diese Einschätzung teilte auch Steffen Lauer, als Isabell und Per ihm wenig später von den zurückliegenden Befragungen berichteten. Neben dem Leiter der Mordkommission hatten sich noch Marcel, Clarissa und Hannes in dem Konferenzraum im dritten Stock des Präsidiums eingefunden. Bis sich Hannes auf Lukas’ Verlangen zur Bushaltestelle Moorsee begeben sollte, blieben nur noch neunzig Minuten. Allerdings startete man mit den Vorbereitungen natürlich nicht bei null. Marcel hatte Spezialisten damit beauftragt, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Dass man Hannes ohne Absicherung losschickte, war von vornherein ausgeschlossen worden.
»Die entscheidende Frage ist natürlich, was Lukas mit dir vorhat«, schloss er eine Zusammenfassung der Maßnahmen ab, die Hannes schützen sollten. Dazu gehörten Sprechkontakt, eine schusssichere Weste, Einsatzkräfte in der Nähe und ein Peilsender. »Wenn er dich von dort weiterlotst, werden wir dir unauffällig folgen. Kann mir nicht vorstellen, dass er dich an Ort und Stelle zur Strecke bringen will.«
»Klingt wahnsinnig beruhigend.« Hannes deutete auf eine Landkarte. »Woher willst du das wissen? Diese Bushaltestelle liegt außerhalb der Stadt an einer Landstraße. Um neun Uhr wird sich da kein Schwein mehr aufhalten. Wer weiß, ob da überhaupt schon mal jemand ein- oder ausgestiegen ist.«
»Diese Buslinie nutzen vor allem Touristen«, stimmte Clarissa zu. »Es gibt dort Wanderwege und ein Vogelschutzgebiet. Wundert mich, dass Lukas ausgerechnet sie ausgesucht hat. Klar, sie liegt ab vom Schuss, ist aber auch gut einsehbar. Er kommt weder unbemerkt hin noch wieder weg.«
»Ich aber auch nicht«, merkte Hannes an. »Wahrscheinlich ist genau das der Grund, weshalb er diese Haltestelle ausgewählt hat. Freie Schussbahn.«
»Dann müsste er ein verdammt guter Schütze sein, und darauf deutet nichts hin. Außerdem hätte er dich aus dem Hinterhalt schon längst erwischen können. Nein, er sucht die direkte Konfrontation, da bin ich sicher.«
Hannes musterte sie. Clarissa wirkte kühl und entschlossen. Aber es ging ja auch nicht um ihren Kopf. »Hast du eine Idee, warum er das will? Wohl kaum nur, um mir Vorwürfe um die Ohren zu hauen.«
»Warum nicht? Vielleicht stellt er Forderungen. Mit Federsen in seiner Gewalt kann er sich sicher fühlen. Er befürchtet gar nicht erst, dass wir ihn festsetzen.«
»Dann täuscht er sich.« Lauer hob den Zeigefinger. »Damit das klar ist: Ganz egal, was er für eine Forderung stellt oder mit was er droht. Wenn es die Möglichkeit eines Zugriffs gibt, wird er überwältigt. Herr Niehaus, das schließt Sie ein. Sofern er Sie nicht mit einer Waffe bedroht, setzen Sie ihn außer Gefecht. Er dürfte Ihnen nicht mal im Ansatz gewachsen sein.«
»Von der Muskelmasse her nicht«, stimmte Isabell zu. Im Gegensatz zu ihrer Kollegin drückte ihr ganzes Gesicht Sorge und Unruhe aus. »Das weiß aber auch Lukas. Genauso wird er ahnen, dass wir uns die Gelegenheit, ihn zu schnappen, nicht entgehen lassen wollen. Seine Freundin hat erzählt, dass er ein detailverliebter Kerl ist. Einer, dessen Passion es ist, sich ausgeklügelte Strategien auszudenken und dabei keine Möglichkeit unbeachtet lässt. Er hat vermutlich keinen Killerinstinkt, aber er ist hochintelligent. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl!«
»Frag mal, wie’s mir geht«, murmelte Hannes.
»Bist du sicher, dass du da wirklich hinwillst?«
»Von wollen kann keine Rede sein, aber was hab ich für eine Wahl?«
»Wir könnten ein Double hinschicken.«
»Tolle Vorstellung. Wenn deine Vermutung stimmt, dann trifft es am Ende nur jemand anderen an meiner Stelle. Außerdem … selbst Federsen hätte nicht gezögert, wenn die Situation genau andersherum wäre. Das wisst ihr genau. Bei allem, was man ihm vorwerfen kann, aber er hätte mich nie im Stich gelassen.«
»Wenn es Sie erwischt, ist ihm aber auch nicht gedient.« Lauers Blick war wohlwollend und zugleich besorgt. »Risikominimierung hat also oberste Priorität. Sollte die Situation unkalkulierbar werden, brechen wir sofort ab. Hennings Frau haben wir übrigens unter Schutz gestellt. Die Arme ist völlig aufgelöst und benötigt psychologische Hilfe.«
»Liegt die DNA-Analyse zu dem gefundenen Blut schon vor?«, fragte Isabell.
»Nein, aber spätestens morgen früh. Wirkliche Relevanz hat das Ergebnis sowieso nicht. Würde nur bestätigen, was wir schon wissen. Lukas Krontal hat sich in Wahnvorstellungen verloren und Henning in seine Gewalt gebracht.«
»So weit würde ich nicht gehen.« Hannes klang erschöpft.
»Fangen Sie jetzt nicht wieder mit Selbstvorwürfen an. Sie haben sich damals nichts zuschulden kommen lassen.«
»Das meine ich gar nicht. Es stimmt, dass alles auf Lukas als Täter hindeutet. Aber wissen wir es wirklich? Nein, tun wir nicht.«
»Sie selbst haben uns doch erst auf seine Fährte gesetzt. Und alle Informationen, die wir seitdem gesammelt haben, bestätigen diese Theorie.«
»Trotzdem fehlt der letzte Beweis. Irgendwie hängt er drin, davon gehe ich auch aus. Ich würde nur gern wissen, ob er allein agiert. Und natürlich, was sein Ziel ist. Vielleicht hat aber nicht nur er die Autonomen instrumentalisiert, sondern wurde selbst gegen uns aufgehetzt.«
»Von wem denn? Und warum?«
Hannes schüttelte den Kopf. »Wenn ich darüber weiter nachgrüble, dreh ich irgendwann durch. Um diese Frage kreise ich seit Tagen.«
Clarissa legte ihm die Hand auf die Schulter. »Inzwischen aber wohl völlig unnötig. Ich verstehe ja, dass du alle Eventualitäten bedenken willst. Würde ich auch tun, wenn man mich gleich zu dieser Bushaltestelle schicken würde. Aber du solltest dich jetzt auf die wahrscheinlichste Option konzentrieren und nicht zehn Ecken weiterdenken.«
Die Tür öffnete sich, und herein trat der Kollege, der von Marcel mit der Leitung des nächtlichen Dramas betraut worden war. »Wir sind jetzt so weit. Das ist Herr Niehaus?« Hannes nickte nur. »Wir sollten loslegen. Es dauert bis zu zwanzig Minuten, bis wir Sie präpariert haben. Weitere Instruktionen folgen dann auf der Fahrt.«
Sprachlos legte Anna das Mobiltelefon auf den Couchtisch. Sie zuckte zusammen, als aus den Lautsprechern des Fernsehers ein Schuss ertönte, und zwang sich, nicht zum Bildschirm zu sehen. Stattdessen griff sie zur Fernbedienung und schaltete das Gerät aus. Aus der Küche klang das Klappern von Geschirr, Elke räumte die Spülmaschine ein. Dass sich Anna noch weiter in ihrer Wohnung aufhalten konnte, hätte sie vor wenigen Stunden nicht erwartet. Automatisch hatte sie angenommen, dass die rotierenden Blaulichter nur aus einem Grund die ganze Nachbarschaft in Aufruhr versetzten: Es hatte einen weiteren Anschlag gegeben, ihr Versteck war aufgeflogen.
Glücklicherweise hatte ihr Begleitschutz einen kühlen Kopf bewahrt. Anstatt mit quietschenden Reifen einen U-Turn hinzulegen und in die entgegengesetzte Richtung zu rasen, war einer der beiden ausgestiegen und hatte den wahren Hintergrund des Einsatzes herausgefunden. Anwohner hatten eine Rauchentwicklung und einen merkwürdigen Geruch bemerkt. Die Feuerwehr hatte einen Brand schnell ausschließen können und war der Ursache auf den Grund gegangen. Im Erdgeschoss des Gebäudes befand sich eine Reinigung, in der es zu einem Kurzschluss gekommen war. Bei seinen Reparaturversuchen hatte der Besitzer den Schaden weiter verschlimmert, wodurch chemische Reinigungsmittel ausgelaufen waren. Bis auf einen Sachschaden und Kopfschmerzen bei den Bewohnern des ersten Stockwerks hatte der Vorfall jedoch keine ernsten Folgen gehabt. Eine halbe Stunde später hatte die Feuerwehr das Haus wieder freigegeben.
»Fandest du den Film so schlecht?« Elke betrat mit zwei Weingläsern das Zimmer.
»Mord und Totschlag sind grad nicht das, was ich brauche. Aber das ist es gar nicht mal … Hannes hat mich eben angerufen.«
Alarmiert blieb Elke stehen. »Was ist diesmal passiert?«
»Nichts. Oder eher: noch nichts. Das könnte sich aber in einer halben Stunde ändern.«
»Willst du es mir erzählen?«
»Genaues weiß ich selbst nicht.« Anna ignorierte das Glas, das Elke vor ihr abstellte. »Er hat mir nur gesagt, dass es gleich ein Treffen mit dem Hauptverdächtigen geben soll.«
»Ein Treffen?«
»Der Kerl hat Hannes’ Chef in seiner Gewalt. Wahrscheinlich will er jetzt verhandeln oder Forderungen stellen.«
»Verhandeln klingt doch erst mal nicht ganz so schlecht.«
»Dafür klang Hannes aber ziemlich komisch. Nicht so, als hätte er ein gutes Gefühl. Mir kam es so vor, als … halt mich jetzt nicht für überdreht … als ob er befürchtet, dass wir … er hat gleich drei Mal gesagt, dass er mich liebt! Total untypisch für ihn.«
»Er ist angespannt, ist doch klar.« Elke setzte sich neben sie. »Seine Kollegen sind ja auch noch da, die werden schon nichts Unüberlegtes tun.«
Anna war nicht überzeugt. Hannes’ Gestammel in Verbindung mit seiner belegten Stimme und der überhasteten Verabschiedung machten ihr klar, dass er versucht hatte, eine bedrohliche Situation herunterzuspielen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass Sorgen durchaus angebracht waren. Das Schrillen der Türklingel ließ sie erneut zusammenzucken. Elke drückte ihre Hand und stand auf.
»Mal sehen, was deine Bodyguards wollen. Trink was, um die Nerven zu beruhigen!«
Anna hatte zwar das Gefühl, den Wein direkt wieder ausspucken zu müssen, aber vielleicht sollte sie dem Alkohol eine Chance geben, die düsteren Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben. Das Zwicken im Magen legte sich aber auch nach dem dritten Schluck nicht, verstärkte sich sogar, als Elke mit dem älteren Personenschützer das Zimmer betrat.
»Unten steht eine Bekannte Ihres Freundes und möchte Sie sprechen«, kündigte er an. »Er hätte ihr gesagt, dass Sie im Moment hier wohnen.«
»Ach ja? Wer ist es denn?«
»Eine Nina Breuer.«
»Sagt mir nichts. Aber wenn sie von Hannes kommt … Elke, ist das okay?«
»Klar, warum nicht?«
Während sie auf die Besucherin wartete, durchforstete Anna ihr Gedächtnis. Der Name blieb ihr unbekannt, genauso unbekannt wie die Frau, die wenig später hereingeführt wurde. Der Polizist nickte Anna zu, als wolle er ihr zu verstehen geben, dass von der Person keine Gefahr ausging. Dass er dennoch in Reichweite blieb, erkannte sie an dem Schatten hinter der Glastür. Anna stand auf und ging der Frau entgegen, die ungefähr in ihrem Alter war.
»Hannes hat dich geschickt?«
»Na ja, nicht direkt. Er wollte ein Kennenlerntreffen arrangieren, aber du weißt ja, wie er ist. Das kann Weihnachten werden. Aber er hat mir gesagt, dass du hier untergekommen bist, und da ich gerade in der Nähe war, hielt ich es für eine gute Idee, mal kurz Hallo zu sagen. Nina, du hast bestimmt von mir gehört.« Sie streckte die Hand aus, und überrumpelt griff Anna zu.
»Ähm … ehrlich gesagt, kann ich mich nicht erinnern, dass er von dir gesprochen hat. Allerdings bin ich gerade … steh ich im Moment etwas neben mir. Setz dich, willst du ein Glas Wein?«
Anna konnte zwar weder die Situation noch Nina richtig einschätzen, war aber dankbar für die unerwartete Ablenkung. Überdies war sie neugierig auf die Besucherin. Wenn Hannes ihr von Elkes Wohnung erzählt hatte, musste sie vertrauenswürdig sein, was wiederum nahelegte, dass sie zu den wichtigeren Menschen in seinem Leben gehörte. Wie wichtig sie tatsächlich gewesen war, überraschte Anna dann doch.
»Irgendwie kein Wunder, dass Hannes noch nichts über mich erzählt hat.« Nina schlug die Beine übereinander und schmunzelte. »Bei mir hat er auch nie über Exfreundinnen gesprochen. Hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er etwas verklemmt ist.«
»Exfreundin?«
»Wir waren drei Jahre zusammen. Ist ’ne gefühlte Ewigkeit her. Wir lernten uns sozusagen im Kanu kennen.«
Anna betrachtete sie mit neuem Interesse. Nina wirkte eher wie eine Geschäftsfrau als wie eine Leistungssportlerin, allerdings konnte man erkennen, dass sie gut in Form war. Nur … was wollte sie hier?
»Fährst du auch zu den Olympischen Spielen?« Eine andere Frage fiel ihr nicht ein.
»Nein, ich hab mit dem Sport längst aufgehört. Er fraß einfach zu viel Zeit, ohne dass für mich eine realistische Chance bestand, ganz oben mitzumischen. Ich hab mich dann voll auf den Job konzentriert und bin vor Kurzem hierher gezogen. Ganz in eure Nähe übrigens, also … das heißt in die Nähe der Wohnung, in der ihr eigentlich wohnt.«
»Die ist leider ausgebrannt.«
»Ja, Hannes hat mir alles erzählt. Will mir gar nicht vorstellen, wie furchtbar sich deine Situation anfühlen muss.«
Anna ging auf Distanz. Wie kam Hannes dazu, seiner Ex von all dem zu erzählen und ihr sogar Elkes Adresse mitzuteilen? Auf einmal fühlte es sich gar nicht mehr gut an, dieser Frau gegenüberzusitzen. Anna meinte, von ihr auf eine abschätzende Art gemustert zu werden. Fast, als würde Nina sie wie eine Rivalin taxieren. Konnte das … hatte Hannes jahrelang Kontakt zu ihr gehalten? Waren die beiden nie richtig voneinander losgekommen? Sich direkt danach erkundigen wollte sie nicht, aber eine Frage brannte ihr noch auf der Seele.
»Wann hat Hannes dir das denn alles erzählt?«
»Ach, gestern, als wir uns getroffen haben. Ich sollte nachdenken, ob mir jemand aus seiner Vergangenheit einfällt, der euch das alles antun könnte. Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Wie ich es ihm vorhin schon beim Mittagessen gesagt hab: Es kann nur mit seinem Job zusammenhängen. Wie hältst du das aus, die ständige Angst, dass ihm was zustoßen könnte? All die Verbrecher, mit denen er täglich zu tun hat, da war es ja nur eine Frage der Zeit …«
Anna ahnte, dass es bloß eine Möglichkeit gab, die surreale Situation zu beenden und wieder die Kontrolle über ihr Gefühlschaos zu gewinnen. Diese aufdringliche Frau musste verschwinden, und das so schnell wie möglich. Sie stand auf und unterbrach damit den Redeschwall. »Ich will nicht unhöflich sein, und es ist nett, dass du spontan vorbeigeschaut hast. Nur ist es gerade … wir sollten uns wirklich einfach mal zu dritt verabreden, wenn sich alles beruhigt hat.«
»Hab ich was Falsches gesagt?« Nina erhob sich ebenfalls und wirkte zerknirscht. Anna war sich sicher, dass dies nur Maskerade war.
»Gar nicht. Es ist nur so … ich bin furchtbar müde. Ist gerade alles zu viel.«
»Verstehe. Und ich bin einfach so reingeplatzt. Entschuldige bitte, manchmal bin ich einfach zu impulsiv. Aber ich kenne noch niemanden hier und … na ja, es war eine schlechte Idee, das sehe ich ein. Wenn du dich aber mal treffen willst, einfach um zu reden oder …« Sie grinste verschwörerisch. »Ich kann dir einiges über Hannes erzählen. Frag ihn einfach nach meiner Nummer, ich würde mich freuen.«
Fassungslos sah Anna ihr hinterher, als sie im Flur verschwand. Sie blickte zu Elke hinüber, die den Auftritt schweigend verfolgt hatte und der auch jetzt nichts anderes einfiel, als fragend die Hände zu heben. Anna hingegen fragte sich im Stillen, ob Hannes noch ganz bei Trost war. Und sie war gespannt auf die Erklärung, die er ihr für Ninas Auftritt geben würde.