KAPITEL
11
Hannes saß neben Clarissa im Wagen und stierte auf eine Kopie des Zettels, der sich neben Federsens Daumen in dem Briefumschlag befunden hatte. Diesmal hatte Lukas einen längeren Text verfasst. Dass es seine Handschrift war, stand inzwischen außer Frage. Sie deckte sich auch mit der Flaschenpost, deren Verfasser damit ebenfalls feststand. Lukas war nun mit offenem Visier unterwegs, er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. War dies jugendlichem Übermut und mangelnder Erfahrung geschuldet, oder trat er aus gutem Grund so selbstbewusst auf?
Neben der Drohung des Siebzehnjährigen, eine Gangart höher zu schalten, beschäftigte Hannes auch noch Ninas Verhalten. Nachdem er Maria eine Blutprobe hatte nehmen lassen, war er nicht ins Training, sondern ins Präsidium gefahren. Nur zögernd hatte er dort Clarissa von der Verstimmung zwischen ihm und Anna berichtet und dabei auch den Grund erwähnt. Als er eher beiläufig Ninas Äußeres beschrieben hatte, war seine Kollegin hellhörig geworden. Man hatte sich in dem Gebäude, worin sich Annas und Hannes’ eigentliche Wohnung befand, unter den Bewohnern umgehört und sich dabei nicht nur nach der Nacht des Brandes, sondern auch nach den vorherigen Tagen erkundigt. Gleich drei Nachbarn war eine junge
Frau aufgefallen, die sich wiederholt vor dem Haus und im Innenhof aufgehalten hatte, ohne es zu betreten.
»Als klar wurde, dass Lukas der Gesuchte ist, haben wir dem keine Bedeutung mehr zugemessen«, hatte Clarissa erklärt. »Die Beschreibung könnte aber passen. Pass auf, dass du jetzt nicht noch in die Klauen einer Stalkerin gerätst!«
Das war das Letzte, was Hannes noch brauchen konnte. Je länger er darüber nachdachte, umso plausibler kamen ihm sowohl Annas Reaktion als auch Clarissas Warnung vor. Wenn man bedachte, dass Nina gerade einen neuen Job angefangen hatte, steckte sie erstaunlich viel Zeit in den Kontakt zu ihm. Heute hatte er schon wieder vier Nachrichten von ihr erhalten. Dass sie Anna aufgesucht hatte, war dabei mit keinem Wort erwähnt worden. Hannes hatte beschlossen, die Fronten noch klarer abzustecken, als er es bereits getan zu haben glaubte. Er hatte noch ein kurzes Telefonat mit verblüffendem Ergebnis geführt und dann Ninas Drängen nach einem erneuten Mittagessen nachgegeben.
Clarissa würde ihn unterwegs absetzen, sie selbst befand sich auf dem Weg zu einem Einsatz, den indirekt Hannes ausgelöst hatte. Ob seine Mutmaßung zutraf und Lukas sein Entführungsopfer tatsächlich in dasselbe Hafengebäude verschleppt hatte, in dem er selbst von Juliane gefangen gehalten worden war, würde sich in spätestens einer Stunde herausstellen. Der abgeschnittene Daumen führte dazu, dass man bereit war, jeder noch so abstrus klingenden Annahme nachzugehen. Fand man weder Lukas noch Federsen, würde es am Abend wieder an Hannes sein, den nächsten Schritt zu gehen. Ein weiteres Mal las er Lukas’ letzte Botschaft.
Ich hatte verlangt, dass Johannes Niehaus allein kommen soll. Die Quittung für die Missachtung meiner Anweisung findet ihr in diesem Umschlag. Heute Abend gibt es einen neuen Versuch. Wenn ihr nicht wollt, dass ich euch morgen Henning Federsens
ganze Hand schicke, taucht Niehaus diesmal ohne Begleitung auf. Derselbe Ort, dieselbe Zeit. Er soll den Schlüssel mitbringen.
Der Text hatte für Aufruhr gesorgt und Steffen Lauer zu der Aussage verleitet, dass ihm dieses pseudogeschwollene Geschreibe »auf den Sack gehe«. Wie hatte Lukas bemerken können, dass Hannes nicht allein zur Bushaltestelle gekommen war? Wo hatte er sich versteckt? Der Einsatzleiter pochte darauf, dass sich niemand unbemerkt in der Nähe hätte aufhalten können. Hannes hatte daran seine Zweifel. Immerhin war dies dem Spezialeinsatzkommando ebenfalls gelungen – zumindest hatte man das gedacht. Nun gehörte Lukas zwar keiner Eliteeinheit an, aber wer wusste schon, wann er sich der Bushaltestelle genähert hatte. Wenn er seit dem Morgen dort gelegen oder irgendwo eine Kamera angebracht hatte, wären ihm die polizeilichen Vorbereitungen nicht entgangen.
Lukas’ letzte Forderung konnte nur auf den Schlüssel anspielen, den man am Bootsschuppen gefunden hatte. War er von ihm aber verloren oder absichtlich zurückgelassen worden? Und warum wollte er ihn zurückhaben? Was auch immer er für ein Ziel verfolgte, für Lauer stand fest, dass man die Vorgehensweise vom Vorabend nicht wiederholen konnte.
Auf die Frage, ob er damit einverstanden wäre, sich lediglich mit einem Peilsender sowie Sprechkontakt versehen zu lassen, hatte Hannes nicht sofort antworten können. Lukas ging kein Risiko ein und folgte augenscheinlich einem genau ausgetüftelten Plan. Sicher würde er davon ausgehen, dass man Hannes nicht völlig schutzlos in die Nacht schickte. Dazu war der auch in der Tat nicht bereit. Genauso wenig hatte er vor, auf seine Dienstwaffe zu verzichten. Die Angst vor dem, was ihn erwarten könnte, rang mit seinem Pflichtgefühl gegenüber Federsen.
Immerhin konnte man durch Lukas’ erneute Kontaktaufnahme davon ausgehen, dass er sich noch immer in Norddeutschland aufhielt. Sofern er tatsächlich entschlossen
war, sich am Abend Hannes gegenüberzustellen, musste er sogar in der unmittelbaren Umgebung sein. Das schränkte auch den Radius der Suche ein, bei der man sein Interesse an lost places
berücksichtigte und vor allem aufgegebene Gebäude durchkämmte. Bisher ohne jeden Erfolg, und Clarissa war skeptisch, dass sich dies ändern könnte.
»Wir haben ihn unterschätzt, das ist mir spätestens seit Federsens Daumen klar. Deshalb solltest du gut überlegen, ob du dich diesem Irren zum Fraß vorwerfen lassen willst.«
Hannes bearbeitete die Unterlippe mit den Schneidezähnen. »Was ist die Alternative? Morgen Federsens Hand aus einem Umschlag zu ziehen?«
»Es nützt weder Federsen noch seiner Hand, wenn’s dich auch erwischt. Man sollte mit Verrückten nicht verhandeln und nicht auf ihre Forderungen eingehen, das ist meine Meinung. Stattdessen muss man Lukas irgendwie ans Licht locken.«
Hannes dachte an Ben, der eine ähnliche Überlegung angestellt hatte. Leider fiel weder ihm noch Clarissa ein passendes Lockmittel ein. Den Ansatz fand er allerdings richtig. Noch ließ man Lukas zwangsläufig gewähren. Vermutlich spulte er Stück für Stück sein Programm ab. Setzte man ihn aber unter Druck oder konfrontierte ihn mit unerwarteten Wendungen, müsste Lukas spontan agieren. Die Chancen, dass er dann einen Fehler beging, standen nicht schlecht.
»Wir könnten damit drohen, dass wir seine Eltern ausgraben und ihnen ebenfalls die Hand abhacken«, schlug er sarkastisch vor.
»Guter Ansatz. Nur haben wir keine Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren. Wo soll ich dich rauslassen?«
»Vorn an der Ecke.« Hannes konnte schon Ninas Silhouette erkennen. Diesmal hatte er sich bei der Auswahl des Treffpunkts keine große Mühe gegeben, sondern bewusst eine stinknormale Pizzeria vorgeschlagen.
»Ist sie das?« Clarissa ließ den Wagen ausrollen. »Wow! Kein Wunder, dass Anna dir Feuer unterm Hintern macht.«
Hannes griff zum Türöffner. »Ruf mich bitte sofort an, sobald ihr mit der Durchsuchung fertig seid.«
»Klar. Mach dir aber nicht zu große Hoffnungen.«
»Darüber bin ich längst weg.« Hannes stieg aus.
»Viel Spaß und guten Appetit!«, rief ihm Clarissa mit boshaftem Unterton hinterher.
Hannes verzog keine Miene. Allmählich gelangte er in einen Zustand, in dem er gar keine Emotionen mehr verspürte, sondern nur noch Erschöpfung. Sein Kampfeswille war jedoch noch nicht völlig erloschen, sodass er alle Probleme abzuarbeiten beabsichtigte – sofern dies in seiner Hand lag. Angefangen hatte er mit der Blutprobe, dann hatte er seinen Vermieter, die Versicherung und schließlich auch noch Ursula angerufen, um sie endlich über Fritz’ Tod zu informieren. Zu seiner Erleichterung wusste sie es aber schon. Sie hatte sich im Hospiz nach Fritz erkundigen wollen und erfahren, dass er seinen dortigen Einzug selbst verhindert hatte. Das Gespräch mit ihr hatte nur wenige Minuten gedauert, und sie hatten vereinbart, sich in den nächsten Tagen zu treffen. Ursula schien wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Hannes sich um die Bestattung kümmerte.
Inzwischen hatte er akzeptiert, dass es wohl auch genauso kommen würde. Allerdings waren zuvor einige Hürden zu nehmen, von denen er von seinem Büro aus schon einige in Angriff genommen hatte. Fritz’ letzter lebender Verwandter hatte bereits sein Einverständnis erteilt, dass Hannes alles in die Hand nahm. Ob er den ihm zustehenden Freigang aus dem Gefängnis überhaupt wahrnehmen würde, hatte Fritz’ Onkel noch offengelassen.
Welche Voraussetzungen es für eine Seebestattung zu erfüllen gab, hatte Hannes erst in Ansätzen herausfinden
können, da Federsens abgetrennter Daumen die entsprechende Internetrecherche jäh beendet hatte. Was er bisher gelesen hatte, klang allerdings nicht gerade unbürokratisch.
Ungeachtet seines versteinerten Gesichtsausdruckes begrüßte ihn Nina, als würden sie sich am Eingang eines Opernhauses für ein aufregendes Abendprogramm treffen. Sie küsste ihn auf die Wange und drehte sich dann im Kreis, sodass das Kleid um ihren Körper wehte.
»Schick, oder? Hab ich auf dem Weg hierher im Schaufenster entdeckt und gleich anbehalten.«
»Ja, ist schön«, murmelte Hannes. Das Kleid stand ihr wirklich ausgezeichnet, stärkte aber seinen Argwohn. »Wollen wir reingehen? Ich hab nur wenig Zeit.«
»Klar. Ist das dein Lieblingsitaliener?«
»Nee, ich war noch nie hier.«
Angesichts des schummrigen Lichts und der lieblosen Einrichtung ging Hannes auch nicht davon aus, dass er ein weiteres Mal herkommen würde. Der Vorteil an diesem Ambiente war, dass es außer ihnen kaum Gäste gab und genügend Plätze frei waren. Hannes ging zu einem Tisch am Fenster, von wo aus man den Verkehr auf der Hauptstraße beobachten konnte. Während sie auf den Kellner warteten, wich er Fragen nach dem Fortgang der Ermittlungen aus, indem er Nina zu ihrem neuen Job befragte. Erst als das Essen bestellt war, befriedigte er ihre Neugier.
»In die Wohnung können wir bisher nicht zurück, die Sanierung dauert mindestens eine Woche. Hoffentlich nicht noch länger. Es ist schön dort, aber das weißt du ja.«
Irritiert sah sie ihn an. »Du hast mich noch nicht eingeladen.«
»Aber du hast es dir von außen angesehen. Man hat dich beobachtet.«
Nina versuchte gar nicht erst, es abzustreiten, wirkte aber verwundert. »Wieso weißt du davon?«
»Wegen dem Brand wurden alle Nachbarn befragt, ob ihnen in letzter Zeit jemand aufgefallen ist.«
»Verstehe. Ich hab deine Bude aber nicht angezündet.«
Ihr Zwinkern prallte wirkungslos an ihm ab. »Trotzdem musst du mir etwas erklären. Wieso bist du gestern bei Anna aufgetaucht?«
»Ich hoffe, das war nicht zu dreist.« Nina machte eine entschuldigende Geste. »Weißt ja, dass ich zu impulsiven Entscheidungen neige.«
»Ja, schon. Ich frage mich nur, was der Grund für diesen Impuls war.«
»Na, was wohl? Mich beschäftigt, was dir gerade passiert.«
»Und deshalb klingelst du an dem Versteck, in dem wir Anna untergebracht haben? Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich dir bei unserem letzten Treffen gesagt habe, in welchem Haus Elke wohnt! Eine unbedachte Äußerung von mir, und du …« Ihm fehlten die Worte.
Sie errötete. »Tut mir leid, habe nicht überrissen, welche Konsequenzen das haben könnte.«
»Ich hab noch eine Frage«, setzte er nach. »Vorhin habe ich bei deinem neuen Arbeitgeber angerufen. Da kannte niemand deinen Namen. Nina, was soll das alles?«
Ihr Blick blieb auf die Hände gerichtet. Erschrocken erkannte er, dass ihr Tränen in die Augen traten. Damit hatte sie ihn schon früher schachmatt gesetzt, wenn sonst nichts half. Diesmal war er nicht bereit zurückzuweichen, sondern schwieg ebenfalls. Das Essen und die Getränke wurden gebracht, ohne dass jemand ein Wort sagte. Dann wischte sich Nina über die Augen und sah ihn an.
»Es stimmt, ich hab gar keinen neuen Job. Bin gerade in einem Hotel untergekommen, Geldsorgen hab ich zum Glück
keine. Wenigstens das. Ich wurde vor drei Wochen entlassen und suche nach was Neuem. Aus der Wohnung musste ich raus, weil die meinem Exfreund gehört und er mich nicht länger darin wohnen lassen wollte.«
»Moment, ich dachte, du wärst zuletzt mit einer Frau zusammen gewesen?«
»Hm … nicht ganz. Diese Episode war vorher. Weiß selbst nicht, warum ich … Mir kam mein ganzes Leben so grau und belanglos vor, und du solltest nicht denken, dass ich … Na, wie auch immer. Dann starb auch noch meine Mutter, und mein Vater verursachte in seiner Trauer einen schweren Unfall … irgendwie ging grad alles den Bach runter.«
Hannes seufzte. »Und da hast du dich ausgerechnet an mich erinnert? Warum?«
»Weil wir … mir ist klar geworden, was wir damals weggeworfen haben. Manchmal muss erst alles zerbrechen, damit man die Wahrheit erkennt. Heute … ich … konnte einfach nicht anders, als nachzusehen, was du jetzt so machst. Und als wir uns dann getroffen haben, war wieder dieses Gefühl da. Dass wir eigentlich zusammengehören. Ging es dir nicht so?«
Nie im Leben hätte Hannes zugegeben, dass er ebenfalls eine Regung verspürt hatte, wenn auch nicht von der gleichen Intensität. Im Moment empfand er ohnehin lediglich Erleichterung, dass das Thema offen ausgebreitet worden war. Er war dabei, ein weiteres Problem aus der Welt zu schaffen, das war alles, was zählte.
»Ich hab mich gefreut, dich wiederzusehen«, sagte er ruhig, »mehr aber nicht. Ich bin glücklich mit Anna. Im September werden wir heiraten, und darauf freue ich mich.«
Sie nickte und schniefte. Dann wischte sie sich die Tränen ab und versuchte sich an einem Grinsen. »Ich nehme an, dass ihr mich nicht einladen wollt. Tut mir leid, dass ich so ein
Chaos verursacht habe. Ausgerechnet jetzt, wo du genug um die Ohren hast.«
»Deshalb muss das auch aufhören. Wir sollten uns erst mal nicht mehr sehen, bis du … ähm …«
»Bis ich wieder normal bin, meinst du? Damit liegst du wohl gar nicht so falsch. Ich hab selbst manchmal gedacht, dass ich mich gerade ganz schön unreif verhalte. Gar nicht wie ich selbst. Aber manchmal ist das vielleicht so, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.«
Hannes nickte nur und überlegte, dass dies auch eine gute Umschreibung von Lukas’ Zustand und eine Erklärung für dessen Handeln war. Dass er sich jetzt wenigstens ein fremdgesteuertes Wesen vom Hals geschafft hatte, fühlte sich so befreiend an, dass er nun doch zu Messer und Gabel griff und beschloss, dieses letzte Treffen mit Anstand zu Ende zu bringen. Wenn der Tag sich weiter so vielversprechend entwickelte, würde der Albtraum vielleicht ein schnelleres Ende finden als befürchtet. Die einzigen Wermutstropfen der bisherigen Tagesbilanz stellten der Streit mit Anna und Federsens Daumen dar.
Im Laufe seiner Karriere hatte sich Federsen oft gefragt, wie viel Leid ein Mensch zu ertragen imstande war. Der Antwort auf diese Frage war er jetzt einen bedeutenden Schritt näher gekommen, auch wenn ihn ein mittelalterlicher oder moderner Folterknecht vermutlich eines Besseren belehrt hätte. Die Schmerzen in der Hand hatten sich mit denen im Kopf vereint und breiteten sich wellenförmig über den gesamten Körper aus, bis sie ganz unten auf das gestauchte Fußgelenk trafen. Den Geruch, der von der nassen und mittlerweile auch verschmierten Hose ausging, nahm er dagegen kaum noch wahr. Was die Situation zusätzlich verschlimmerte, war die undurchdringliche Dunkelheit. Obwohl sie angesichts eines abgeschnittenen
Daumens wie ein nachrangiges Problem wirkte – Federsen litt hierunter am meisten.
Es musste Stunden her sein, seit Lukas den Raum verlassen hatte. Wie lange genau, konnte Federsen nicht einschätzen, sein Zeitgefühl war erloschen. Anfangs hatte er abwechselnd gebrüllt und geweint, inzwischen ertrug er sein Schicksal stumm und mit geschlossenen Augen. Alle Versuche, sich der Handschellen zu entledigen, hatte er eingestellt. Außer aufgescheuerten Handgelenken hatten sie zu gar nichts geführt. Schlaff hingen seine Arme in dem Metall, aufgrund der ungewohnten Haltung war der ganze Oberkörper verspannt.
Dass man in Gefangenschaft merkwürdigen psychischen Effekten ausgesetzt war, hatte er inzwischen erkennen müssen. Das Stockholm-Syndrom war ihm immer unerklärbar gewesen, nun hätte er Lukas die Füße geküsst, wenn der ihn nur fünf Minuten losgemacht und ihm etwas zu trinken gegeben hätte.
Doch Lukas kam nicht, sosehr er sich auch danach sehnte und sich zugleich davor fürchtete. Dieses Hin und Her zehrte minütlich an seinem Verstand. Die einsetzenden Halluzinationen waren mal Übel und mal Trost, je nach Ausprägung. Immer wieder meinte er, im Keller einer mittelalterlichen Burg zu verrotten, dann wieder tanzten Lichter vor seinen Augen, und er hörte liebliche Stimmen, die sich zu einem himmlischen Chor zu vereinen schienen. Nur eines gelang ihm nicht: sich in eine friedvolle Vision mit Laura zu flüchten. Zu groß war die Sorge um sie und zu bitter die Angst, sie vielleicht nie wiederzusehen.
Groll füllte ihn aus, der sich jedoch auf … Johannes Niehaus bezog. Wegen ihm war er in die Hölle geschleudert worden, wegen ihm passierte das alles! Er verfluchte den Tag, an dem er sein Vorgesetzter geworden war, und den Umstand, irgendwann seine väterlichen Gefühle für ihn zugelassen zu haben. Zum Dank hatte Hannes ihn hintergangen und sich bei der erstbesten Gelegenheit einem anderen Team zuteilen lassen!
Obwohl Federsen bis heute darauf verzichtet hatte, eine der Grenzüberschreitungen nach oben zu melden. Die Belohnung war ein abgeschnittener Daumen, eine vollgepisste und vollgekackte Hose – und in nicht allzu weiter Ferne wohl der Tod.
Gerade noch rechtzeitig erkannte Federsen, dass er sich mit diesen Vorwürfen so ähnlich wie Lukas verhielt: Er suchte ein Bauernopfer. Schuld an seiner katastrophalen Lage war ein durchgeknallter Siebzehnjähriger. Er musste aufpassen, dass er den Bezug zur Realität nicht verlor! Und doch, ganz abschütteln konnte er die Verbitterung über den jungen Kollegen nicht.
Er begann, mit dem Handgelenk rhythmische Bewegungen auszuführen, sodass die Handschelle gegen den metallenen Bettrahmen schepperte. Tock, tock, tock. Seit langer Zeit war es das erste Geräusch in dem finsteren Raum, und es beruhigte ihn. Tock, tock, tock. Er konnte nicht damit aufhören. Dann hörte er genauer hin. Es klang hohl, die Streben des Gestells bestanden also nicht aus massivem Metall. Mit den Fingern ertastete er die Stelle, an der sie in die Querstange übergingen. Sie waren nicht verschweißt, sondern steckten in einem Loch. Wenn man die Querstange weit genug nach oben drückte, konnte man die senkrechten Stäbe vielleicht hinausgleiten lassen und dann die Handschellen abstreifen.
Bei dem Versuch renkte sich Federsen fast die Schulter aus. Ein wenig gab die Querstange zwar nach, aber nicht genug. Irgendwie musste er versuchen, mehr Druck aufzubauen. Ob er, wenn er das Bett umkippte, in einen günstigeren Winkel rutschte? Einen, in dem man die Beine als Druckverstärker einsetzen konnte? Federsen wusste nur, dass er nichts zu verlieren hatte. Darüber hinaus tat es gut, endlich wieder ein Ziel vor Augen zu haben, auch wenn diese Augen ansonsten weiter nur in die Dunkelheit blickten, die ihn wie zäher Sirup umgab.
Stunden später wurde die Dunkelheit noch von der Sonne in Schach gehalten, die allerdings immer wieder hinter dichter werdenden Wolken verschwand. Für Hannes schien sich die Geschichte zu wiederholen, denn erneut befand er sich hinter dem Lenkrad eines zivilen Einsatzwagens auf dem Weg zur Bushaltestelle Moorsee
. Er musste sich eingestehen, dass sich der Tag nicht so vielversprechend weiterentwickelt hatte wie erhofft. Die Durchsuchung des Hafengebäudes, in dem Lukas von seiner Schwester vor Monaten gefangen gehalten worden war, hatte lediglich eine Gruppe Obdachloser aufgescheucht. Von dem Gesuchten samt Federsen gab es aber keine Spur.
Auch im weiteren Verlauf des Tages hatte es keine Ermittlungsfortschritte gegeben, obwohl sich Steffen Lauer dazu durchgerungen hatte, die Öffentlichkeit über den Fall zu informieren und um Hinweise zu Lukas und Federsen zu bitten. Allerdings gab es bei derartigen Aufrufen meist zuhauf Hinweise, nur war wenig Zielführendes dabei. Nachgehen musste man aber jedem einzelnen Tipp, was immer kostbare Ressourcen band.
Daneben war eine große Anzahl an Einsatzkräften weiter damit beschäftigt, leer stehende Gebäude zu durchkämmen und Bereiche zu überwachen, an denen Lukas auftauchen könnte. Dies betraf zum Beispiel sein Elternhaus, die Adresse seiner besten Freundin, das Waldhaus
und den Strandabschnitt mit dem Wrack, in dem er die Flaschenpost an seine Eltern verscharrt hatte. Auch die Aufnahmen von Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen wurden ausgewertet. Allen Bemühungen zum Trotz hatte sich am Abend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die größtmögliche Chance, Zugriff auf Lukas zu erhalten, darin bestand, seiner Forderung nach einem Treffen mit Hannes nachzugeben.
Dieser hatte daraufhin den erwartungsvollen Blicken nur kurz standhalten können und sich in das Unvermeidbare gefügt.
Ihm war zugesichert worden, dass sich genügend Spezialkräfte im geringstmöglichen Abstand bereithalten würden. Darüber hinaus war er mit einem Peilsender versehen worden, er verfügte über eine Sicherheitsweste, Sprechkontakt und natürlich seine Dienstwaffe. Gut fühlte es sich trotzdem nicht an, allein über die Landstraße einem Aufeinandertreffen mit ungewissem Ausgang entgegenzufahren.
Dass Hannes sich noch nicht mit Anna ausgesprochen hatte, machte es nicht leichter. Am Nachmittag war er erst nicht dazu gekommen, dann war sie nicht ans Telefon gegangen, und jetzt wollte Hannes sie nicht anrufen, da die Kollegen in der Einsatzzentrale nichts von seinen privaten Problemen mitbekommen sollten. Das war der Nachteil der permanenten Sprechverbindung. Immer wieder musste er sich ermahnen, keine Selbstgespräche zu führen – eine Eigenart, der er im Auto häufig nachging und die ihm auch schon manchmal wertvolle Einsichten geliefert hatte. Nun führte er derartige Zwiegespräche nur in Gedanken, wurde dabei aber immer wieder von der betont ruhigen Stimme des Einsatzleiters in seinem Ohr unterbrochen, der sich fast auf die Sekunde genau alle drei Minuten meldete. Diese offensichtliche Lehrbuchmethode ging Hannes allmählich auf die Nerven.
Des Kontrollblicks auf die Karte des Navigationssystems hätte es gar nicht bedurft, um zu bemerken, dass der Zielort nur noch wenige Kilometer entfernt lag. Am Vortag war Hannes zwar alles andere als in Topform gewesen, das Holzkreuz mit den Kerzen am Straßenrand war ihm aber aufgefallen. Wie er wusste, war dort eine Familie fast vollständig ausgelöscht worden, der Unfallverursacher hatte Fahrerflucht begangen. Dass dieser generell nicht zur charakterstärksten Sorte Mensch gehörte, hatte Hannes im Zuge seiner sechsten Mordermittlung erst spät erkannt. Immerhin rechtzeitig genug, um Fritz’ Leben zu retten. Er überlegte, dass ihm irgendwann an Hunderten
von Stellen in und im Umkreis seiner Wahlheimatstadt Erinnerungen an vergangene Tragödien und Gewaltakte auflauern würden. Vielleicht hatte Anna recht, und er sollte ernsthaft einen Ortswechsel in Betracht ziehen.
Schon jetzt wäre er am liebsten ganz woanders gewesen. Doch unerbittlich näherte sich das Fahrzeugsymbol dem von der Flagge auf dem Display markierten Ziel, und schließlich tauchte der Unterstand der Bushaltestelle auch in seinem Sichtfeld auf. Mittlerweile war das Licht nicht mehr ganz so hell wie am Vorabend, da sich der Himmel in den letzten Minuten weitgehend zugezogen hatte. Regen war aber nicht vorhergesagt, und die Temperaturen lagen im milden Bereich. Und noch etwas war anders: Halb verborgen von der Rückwand des Unterstandes konnte Hannes etwas Rotes erkennen.
Er stoppte den Wagen und sah auf die Uhr. Eine Minute vor neun, und niemand zu sehen. Auch die Straße war verwaist, dennoch blickte er sich aufmerksam um, bevor er die Tür öffnete und ausstieg. Der Wind traf auf den Schweiß auf seiner Stirn und sorgte für einen angenehm abkühlenden Effekt. Langsam ging Hannes an seinem Wagen entlang und trat hinter die Rückwand des hölzernen Regenschutzes. Verblüfft blieb er stehen, als sein Blick auf einen roten Kreidler Flory 50 Classic fiel. Wieder schaute er sich um, aber von dem Besitzer des Gefährts war nichts zu sehen. Dafür klebte ein Stück Papier auf dem Tacho. Hannes erinnerte sich an das Mikrofon und informierte den Einsatzleiter.
»Von Lukas definitiv keine Spur?«, kam die Rückfrage.
»Nein, der hat wohl andere Pläne. Auf dem Zettel steht, dass ich mit dem Roller den Feldweg entlangfahren soll, bis ich an eine Wegkreuzung komme. Dort soll die nächste Anweisung liegen.«
»Er will Sie also vom Einsatzwagen trennen, ins Vogelschutzgebiet locken und damit weg von der Straße. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Das Ganze hier ist keine gute Idee. Aber was bleibt mir für eine Wahl?«
»Haben Sie den Schlüssel für den Roller dabei?«
»Klar, hatte Lukas ja verlangt. Ich werf das Ding jetzt an und bring die Angelegenheit hinter mich.«
»Es ist Ihre Entscheidung.« Bevor Hannes seine Meinung ändern konnte, fuhr er allerdings übergangslos fort. »Halten Sie weiter Sprechkontakt mit uns. Informieren Sie uns über jeden Schritt und über alles, was Sie sehen.«
»Soll ich Ihnen auch Beschreibungen seltener Vogelarten liefern?« Hannes kämpfte gegen den Drang, unkontrolliert loszulachen. War er schon wieder kurz davor, die Nerven zu verlieren? Rasch zog er den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Dann stieg er auf den Sitz und betätigte den Anlasser. Zuletzt hatte er vor fünfzehn Jahren auf einem Roller gesessen, ein Cousin hatte ihn eine Runde auf seiner Vespa drehen lassen. Entsprechend wackelig legte Hannes die ersten Meter zurück.
Größere Probleme bereitete ihm der Feldweg jedoch nicht. In der Mitte gab es zwar einen Grasstreifen, links und rechts davon war die Erde aber von Traktorreifen festgefahren worden. Anfangs verlief der Weg noch eben, dann stieg er leicht an und näherte sich einer Gabelung. Hannes drosselte das Gas und stoppte vor einem Schild mit mehreren Wegweisern. Suchend sah er sich um, entdeckte aber nichts Außergewöhnliches. Als er den Motor abstellte und den Roller aufbockte, hörte er in der Ferne ein Motorengeräusch. Die Landstraße war noch gut zu überblicken, von Norden näherte sich ein Fahrzeug. An der Bushaltestelle fuhr es allerdings vorbei, ohne dass Hannes eine Temporeduzierung bemerkt hätte.
»Was ist los? Es ist so ruhig geworden?«, fragte die Stimme in seinem Ohr.
»Ich bin an der Weggabelung angekommen«, informierte Hannes mit gedämpfter Stimme. »Allerdings ist hier nichts, was … Moment.«
Neben dem Wegweiser lag ein hüfthoher Felsbrocken. Obendrauf schien ein schwerer Stein etwas vor dem Davonflattern zu schützen. Es stellte sich als brauner Briefumschlag heraus, den Hannes sofort aufriss. Er zog die Kopie einer Landkarte heraus, darauf war seine momentane Position mit einem Kreuz markiert. Eine rote Linie kennzeichnete den links abzweigenden Weg und folgte ihm bis zu einer Aussichtsplattform, die am Rande eines Feuchtgebiets lag. Hannes runzelte die Stirn. Der Weg führte vielleicht noch einen Kilometer über offenes Land, dann jedoch in den Wald hinein.
Er suchte Rat bei seinen Kollegen, die erneut nur darauf hinwiesen, dass es seine eigene Entscheidung sei, ob er die Sache durchziehen oder abbrechen wollte. Ein Hubschrauber befände sich in Startbereitschaft und könne innerhalb weniger Minuten eintreffen, daneben seien Einsatzkräfte auf geländegängigen Motorrädern im Umkreis stationiert worden. Die Botschaft war nicht misszuverstehen. Man erwartete, dass Hannes nicht wankelmütig wurde.
Zwar war er das bereits, aber vorerst behielt der Mut die Oberhand. Bevor er es sich anders überlegen konnte, startete er den Motor und bog nach links ab. Der Weg wurde schmaler und unebener, blieb aber beherrschbar. Als er die ersten Bäume erreichte, ging der Untergrund in Kies über und mündete in einen gut befahrbaren Forstweg. Zwischen den Bäumen war das Licht noch gedämpfter, und Hannes fröstelte. Es lag nicht an der fehlenden Jacke, selbst im Wald mochten die Temperaturen noch bei zwanzig Grad liegen. Aber die Schatten und das feuchte, erdige Aroma der Luft sorgten dafür, dass sich Hannes
verloren und allein vorkam. Durch das Knattern des Motors konnte er die Stimme des Einsatzleiters kaum verstehen, gab aber seinerseits immer wieder Updates durch. Viel zu berichten hatte er allerdings nicht.
Dies änderte sich erst, als er die Aussichtsplattform erreichte und am Fuß der Treppe eine weitere Nachricht fand. Seine Hände zitterten, als er den Blick von dem Papier hob und über die gekräuselte Wasseroberfläche sah. Im fahler werdenden Licht wirkte sie bedrohlich und düster. Einige Wasservögel zogen ihre Bahnen, Hannes hörte ihre Laute und das Plätschern, sobald sie untertauchten. Wieder sah er auf das Blatt. Lukas musste den Verstand verloren haben! Das hatte Hannes zwar schon vorher angenommen, aber jetzt wurde es zur Gewissheit. Er räusperte sich und las den Text laut vor, damit auch seine Kollegen informiert waren.
»Zieh alle (!) Klamotten aus, leg deine Waffe weg, genauso den Peilsender und dein Funkgerät oder womit auch immer du kommunizierst. Dann fährst du auf dem Weg weiter. Wenn Abzweigungen kommen, folgst du den weißen Pfeilen. So lange, bis du ein Schiff siehst. Dort hältst du an. Solltest du eine dieser Anweisungen missachten, stirbt dein Chef noch in dieser Nacht.«
Als er geendet hatte, herrschte bis auf die Geräusche der Vögel Stille. Dann klang ein Schnaufen an sein Ohr. »Lukas weiß, dass wir Sie überwachen. Er ist nicht naiv.«
»Dafür ist er wahnsinnig!«, stieß Hannes hervor. »Ich soll nackt auf einem Motorroller durch den Wald fahren und irgendwelchen Pfeilen folgen? Das kann er vergessen!«
»Er ist vielleicht wahnsinnig, aber er geht auch überlegt vor. Durch die Pfeile will er sicherstellen, dass wir keine Ahnung haben, wo es langgeht. Da wird er sich aber täuschen, denn wir schicken natürlich unsere Leute hinter Ihnen her.«
»Damit würden Sie mit Federsens Leben spielen.«
»Mag sein, aber ich habe gerade zwei Leben im Auge zu behalten.«
»Das heißt …« Hannes atmete durch. »Sie wollen wirklich, dass ich mich auf seine Forderung einlasse? Ich habe aber keine Lust dazu!«
»Kann ich verstehen.«
Erneut waren nur Atemgeräusche zu hören. Hannes wartete vergeblich auf eine Fortsetzung. »Also, dann … was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Da Sie Lukas’ Forderung ignorieren wollen, steigen Sie auf den Roller und fahren zur Bushaltestelle zurück. Anschließend können wir nur abwarten, wie er auf Ihre Weigerung reagiert.« Die Stimme klang neutral und nicht vorwurfsvoll. Die Botschaft des Einsatzleiters war dennoch unmissverständlich und sorgte dafür, dass Hannes weiter auf den Zettel starrte. Was würde Federsen aushalten müssen, wenn er jetzt kniff? Was würde ihm selbst blühen, wenn Lukas sich zum zweiten Mal hintergangen fühlte?
Hannes biss sich auf die Lippen, in seinem Kopf schien auf einmal ein Hornissenschwarm einen Höllenlärm zu veranstalten. Er stützte sich an dem Holz der Aussichtsplattform ab und atmete mehrmals tief ein und aus. Das Geräusch ebbte ab, sein Blick wurde wieder klarer.
»Herr Niehaus?«
»Ich habe nur … nachgedacht.« Hannes unterdrückte den Drang loszuschreien. »Ich habe keine Wahl, stimmt’s?«
»Es ist Ihre …«
»… Entscheidung, ich weiß«, erwiderte er bitter. »Dummerweise kann jede meiner Entscheidungen fatale Folgen haben. Aber darauf kommt’s jetzt auch nicht mehr an, ich werde es durchziehen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Lukas wegen meiner Feigheit Federsen die Kehle durchschneidet. Wie schnell können Ihre Leute hier sein?«
»Zögern Sie die Weiterfahrt noch fünf Minuten hinaus. Keine Sorge, man wird niemanden aus der Truppe bemerken. Weder Sie noch Lukas.«
»Wie soll das gehen? Sind das olympische Marathonläufer? Was ist, wenn ich mit dem Roller eine halbe Stunde durch die Pampa gondeln muss? Sie haben es eben selbst gesagt: Diese absurde Vorstellung zieht Lukas nicht ohne Grund ab. Er will sicher sein, dass er mich allein trifft.«
»Er hat aber ein Schiff erwähnt. Das grenzt das Ziel für uns ein. Im Naturschutzgebiet gibt es keins, er wird Sie also zur Küste lotsen.«
»Meinen Sie? Er wird mich wohl kaum nackt in einen Hafen fahren lassen.«
»Woher wollen Sie das wissen? Aufsehen wird er nicht erregen wollen, das ist richtig. Es muss sich aber gar nicht um einen Hafen handeln. Wir werten hier parallel die Möglichkeiten aus, welcher abgelegene Ort infrage kommen könnte. Und, Herr Niehaus: Im Zweifel brechen Sie die Aktion ab!«
»Ja, ja«, murmelte Hannes und begann, die Schuhe aufzuschnüren. Hätte er nicht gewusst, dass er wach war, er hätte sich in einem lausigen Traum gewähnt. Er ahnte, dass auch dieser Aspekt zu Lukas’ Strategie gehörte. Er wollte ihn erniedrigen, wollte ihm zeigen, dass er nur mit dem Finger schnipsen musste, um Hannes sogar nackt einem unbekannten Ziel entgegenfahren zu lassen.
Erst als er seine Kleidung und die Dienstwaffe auf die Treppe gelegt, die Verkabelung achtlos daneben geworfen hatte und wieder auf dem Roller saß, kam Hannes die nächste Erkenntnis – gleichzeitig mit dem ersten weißen Pfeil, der an einer Kreuzung auf den Boden gebröselt worden war: Lukas spielte wieder die Taten seiner Schwester nach, nur mit anderen Mitteln. Dies hatte Hannes schon anhand seiner bisherigen Vorgehensweise vermutet, nun war es Fakt. Auch Juliane hatte
eine, nur auf den ersten Blick kindische, Schnitzeljagd organisiert. Ihr Beweggrund war es gewesen, den Kontakt zwischen ihren Eltern und der Polizei abreißen zu lassen – mit einem ebenso bekannten wie tragischen Ende. Damals hatte die Route an einem Leuchtturm entlanggeführt, an den sich Hannes erst jetzt erinnerte. War es möglich, dass Federsen darin gefangen gehalten wurde?
Es war fatal, dass er diese Idee seinen Kollegen nicht sofort mitteilen konnte, und Hannes stöhnte auf, als er weiter über die Parallelen zu dem früheren Fall nachdachte. Wenn diese Schnitzeljagd eine Kopie darstellte, dann galt dies vermutlich genauso für das Finale. Er blickte über die Schulter zurück, als hoffte er, die versprochene Schutztruppe zu entdecken. Das Einzige, was er sah, waren Bäume und Sträucher, die immer mehr in der Dunkelheit versanken. Rasch richtete er den Blick wieder nach vorn. Das Licht des Scheinwerfers warf einen gelben Lichtkegel auf den Boden, er musste aufpassen, dass er keine Markierung übersah.
Nach dem vierten Pfeil wusste er, dass sich der Einsatzleiter geirrt hatte. Seit Hannes die Aussichtsplattform verlassen hatte, waren fast fünfzehn Minuten vergangen, aber anstatt sich der Küste zu nähern, fuhr er immer weiter in die entgegengesetzte Richtung. War der Hinweis auf das Schiff eine letzte Blendgranate von Lukas gewesen, um sicherzugehen, dass sein Opfer ihm schutzlos ausgeliefert sein würde? Hannes blickte an sich hinunter. Er fühlte sich genauso wehrlos, wie er gerade aussah.
Der Fahrtwind sorgte dafür, dass sein gesamter Körper von einer Gänsehaut überzogen war. Dennoch spürte er Schweiß auf der Haut und Hitze in den Ohren. Um nicht völlig auszukühlen, reduzierte er das Tempo und hoffte zugleich, dass sich wie versprochen ein Spezialeinsatzkommando in seinem Windschatten bewegte. Weitere fünfzehn Minuten später glaubte er nicht
mehr daran. Lukas hatte ihn über schmale Trampelpfade, durch einen Bach und sogar über einen Baumstamm geführt – was allerdings eher eine Bosheit war, denn wie Hannes anschließend erkannt hatte, hätte er ohne Probleme einen anderen Weg nutzen können. Vor sich erkannte er einen hellen Fleck, der sich als große Weggabelung herausstellte.
Erleichtert, der Dunkelheit entkommen zu sein, blickte Hannes auf einen Pfeil. Er war auf eine Abzweigung gerichtet, die nach unten in einen offenbar aufgegebenen Steinbruch führte. Er entdeckte Reifenspuren, erst vor Kurzem musste hier jemand hinuntergefahren sein. Den Spuren nach zu urteilen ein Auto und kein Lastwagen. Das Fahrzeug musste definitiv einen anderen Weg zurückgelegt haben als er selbst, aber es lag auf der Hand, dass dieser Steinbruch natürlich auch einfacher erreichbar sein musste.
Hannes ging davon aus, dass er endlich am Ziel angekommen war. Er schaltete den Motor aus und stieg ab. Der Schotter stach in seine Fußsohlen, sodass er wieder auf den Sitz rutschte, die Füße anhob und den Roller mit angezogener Handbremse den Weg hinabrollen ließ. Nach etwa fünfzig Metern hatte er eine ebene Fläche erreicht, die zum Großteil von Gras bedeckt war. Die Natur war dabei, sich das Gelände zurückzuerobern.
Als er eine weitere Spur am Boden entdeckte, stutzte er – und untersuchte mit den Fingern die Substanz genauer, mit der ihm Lukas den Weg gewiesen hatte. Es waren Sägespäne, die mit einem weißen Material versehen worden waren. Hannes musterte die Linien, die die Umrisse eines Schiffes bildeten. Daneben zeigte ein kleiner Pfeil nach links. Er drehte den Kopf, konnte aber nichts erkennen. Barfuß und in höchster Alarmbereitschaft folgte er der angezeigten Richtung.
Mittlerweile zeigte sich zwischen Wolkenlücken ab und zu der Mond am Himmel. Kurz überlegte er, welches Bild er gerade abgab. Würde ihn jemand beobachten, für wen würde derjenige
ihn halten? Für einen Waldschrat, einen Druiden oder einfach nur für einen Wahnsinnigen, der er im Grunde auch war? Wenn Anna wüsste, in welcher Situation er sich gerade befand … nein, in welche Situation er sich freiwillig begeben hatte … wobei, wirklich freiwillig war es ja gar nicht … Sein Gedankengang brach ab, als er vor sich im Gras ein Brett entdeckte.
Es war glatt geschliffen und konnte kein Überbleibsel der Steinbrucharbeiten sein. Vielmehr wirkte es wie ein Brett aus dem Baumarkt. Auf dem Holz klebte ein Foto der Lena
. Es war am Tag aufgenommen worden, Lukas musste sich also schon im Hafen umgesehen haben, bevor er den Kutter versenkt hatte. Das war nicht überraschend, es passte zu seinem Handeln. Nichts, gar nichts überließ er dem Zufall. Ob er in den zurückliegenden Monaten auch nur einige Minuten mal an etwas anderes gedacht hatte als an seinen Racheplan?
Hannes’ Blick glitt nach rechts. Neben dem Foto stand ein Glas mit einer Flüssigkeit. Darunter wieder ein Zettel mit der ihm inzwischen bekannten Schrift. Trinken! Jetzt sofort!
Hannes schüttelte den Kopf. Das konnte Lukas vergessen! Eine Grenze war erreicht, die er nicht zu überschreiten gedachte. Er hatte sich erniedrigt, sich schutzlos ausgeliefert und sich vielleicht sogar eine Lungenentzündung eingehandelt, die ihn die Teilnahme an den Olympischen Spielen kosten könnte. Sich aber selbst zu vergiften, um eventuell Federsens Leben zu retten? Demonstrativ wollte er schon mit dem Fuß gegen das Glas treten, hielt aber noch rechtzeitig inne.
Alle bisherigen Anweisungen waren darauf ausgelegt gewesen, Hannes an einen Ort zu führen, an dem er dem Zugriff seiner Kollegen entzogen war. Wieso sollte tödliches Gift in diesem Wasserglas sein? Lukas suchte den persönlichen Kontakt, alles andere ergab keinen Sinn. Sofern er sich mit dieser Einschätzung nicht täuschte, blieben also zwei Möglichkeiten: In dem Glas war nichts weiter als harmloses Wasser, und Lukas
wollte lediglich erneut seine Macht auskosten und testen, wie weit Hannes zu gehen bereit war. Vielleicht saß er irgendwo am oberen Rand des Steinbruchs und beobachtete ihn.
Hannes scannte die Umgebung, während er über die zweite Möglichkeit nachdachte. Die Flüssigkeit konnte mit einem Betäubungsmittel versehen worden sein. Sobald Hannes k. o. gegangen war, würde Lukas ihn hier wegschaffen. Doch wohin? Zu Federsen? In den Leuchtturm? Die relevantere Frage war: Was würde dort passieren? Wo auch immer dort
sein mochte, Hannes hatte keine Lust, es herauszufinden. Andererseits hatte er an diesem Abend schon mehrfach vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden – an jedem einzelnen Punkt dieser unheilvollen Schnitzeljagd hätte er kehrtmachen können. Obwohl die Gefahr immer größer geworden war, hatte er es nicht getan, sondern war zu einem Treffen mit Lukas bereit gewesen.
Wieder musterte er das Glas. Er musste blinzeln, als sich Federsens Gesicht vor sein inneres Auge schob, gefolgt von dem Foto aus dessen Gefangenschaft. Schlechtes Gewissen rang mit Angst, Stolz mit Scham. Minutenlang stand Hannes regungslos da. Er spürte nicht, dass er fror, und bemerkte nicht, dass sich das letzte Licht des Tages verflüchtigte. Erst als sich ein Waldkauz meldete – zumindest vermutete Hannes, dass es einer war – erwachte er aus seiner Erstarrung. Als wäre er eben erst angekommen, registrierte er jedes noch sichtbare Detail des Geländes. Den dunklen Rand des Waldes, der sich bis zur Abbruchkante des Steinbruchs ausdehnte; die von Gras und kleinen Büschen überwucherte Ebene, auf der er sich befand; die Sichel des Mondes über ihm und das helle Band des Kiesweges, der ihn hier hinuntergeführt hatte. Es kam ihm nicht nur so vor, er wusste, dass er sich noch nie in einer derart schutzlosen Situation befunden hatte.
Was würde Lukas tun, wenn Hannes einfach kehrtmachte? Ihn von einem Busch aus erschießen und anschließend auch Federsens Leben auslöschen? Hannes lauschte und sah sich noch einmal um. Von der Verstärkung war nichts zu sehen oder zu hören. Es gab nur die Geräusche des nächtlichen Waldes und – das Knacken eines Astes? Hannes hatte genug. Er bückte sich, nahm das Glas in die Finger und streckte es nach oben. In einem Anfall von Trotz wollte er Lukas zeigen, dass er zu weit gegangen war. Mit einem kräftigen Wurf schleuderte er das Gefäß von sich und hörte, wie es sich mehrere Meter entfernt in Scherben verwandelte.
Er erlaubte sich nur wenige Sekunden des Abwartens, welche Reaktion seine Weigerung, sich in eine endgültig unkalkulierbare Lage zu bringen, auslösen würde. Nichts geschah. Wenn es eine Reaktion gab, dann wohl nicht hier und jetzt. Hannes drehte sich um und ging zu dem Roller zurück. Mit jedem Schritt wurde das Verlangen, die Flucht zu ergreifen, stärker und der imaginäre Griff um seinen Hals enger. Die letzten Meter legte er im Sprint zurück, die spitzen Steine unter den nackten Fußsohlen waren das kleinste Übel.
Hektisch betätigte er den Anlasser und stöhnte auf, als der Motor nicht ansprang. Hatte Lukas nur so viel Benzin in den Tank gefüllt, dass er bis hierher, aber nicht mehr zurückfahren konnte? Endlich, beim vierten Versuch erwachte der Motor zum Leben. Es kam Hannes so vor, als würde das PS-arme Gefährt den Anstieg im Schritttempo zurücklegen. Jeden Moment rechnete er damit, einen Schuss zu hören oder Lukas aus einem Gebüsch hervorstürzen zu sehen. Doch unbehelligt kam er oben an und überlegte nur kurz, welche Richtung er einschlagen sollte.
Die Strecke des Hinwegs würde er im Dunkeln nicht wiederfinden, und der breite Forstweg erschien ihm ohnehin verlockender. Irgendwo musste er aus dem Wald herausführen!
Hannes hatte keine Orientierung mehr, wo sich welche Himmelsrichtung befand. Letztlich war es ihm auch egal, er musste nur auf eine Landstraße kommen, dann würde er sich schon zurechtfinden. Er entschied sich, nach links zu fahren, auch wenn die Reifenspuren auf dem Boden genau aus dieser Richtung kamen. Sie erschienen ihm zwar bedrohlich, aber seine Logik sagte ihm, dass sie zu einer Straße führen mussten.
Als er mit Vollgas losfuhr, spritzte Kies auf. Auf den Steinen verlor er das Gleichgewicht und legte sich mitsamt des Rollers auf die Seite. Fluchend rappelte er sich wieder auf, seine linke Körperhälfte war von Schürfwunden übersät. Glücklicherweise war der Motor nicht ausgegangen, und diesmal fuhr er behutsamer an. Erst als er wieder ein sicheres Balancegefühl hatte, holte er aus dem Motor heraus, was möglich war. Der Forstweg schlängelte sich in sanften Kurven zwischen den Bäumen hindurch, mal ging es leicht bergauf, dann wieder bergab. Es waren keine großen Fahrkünste nötig, und allmählich beruhigte sich sein Herzschlag.
Bis er die Scheinwerferlichter vor sich auftauchen sah. Das Geräusch des dazugehörigen Autos wurde vom Geknatter des Rollermotors übertönt, und Hannes brach erneut der Schweiß aus. Nahm dieser Albtraum gar kein Ende? Der Weg war nicht breit, es war sicher unmöglich, sich an dem Auto vorbeizuzwängen. Lukas hätte einen solchen Versuch durch ein schnelles Lenkmanöver mit fatalen Folgen verhindern können. Hannes drehte den Kopf nach links. Zwischen den Bäumen machte er etwas Helligkeit aus, das musste der Waldrand sein.
Hart bremste er ab und wäre dabei fast über den Lenker geflogen. Das ihm entgegenkommende Auto schien die Geschwindigkeit dagegen zu erhöhen, rasch kamen die Lichter näher, und jetzt hörte Hannes auch das Motorengeräusch deutlich. Achtlos ließ er den Roller liegen und sprang in einen Graben. Modriges Wasser schwappte um seine Füße, und er
erkannte, dass er sich eine ungünstige Stelle ausgesucht hatte. Er fügte sich weitere Wunden zu, als er auf der anderen Seite einen Brombeerbusch zu durchdringen versuchte. Dann gab er auf, patschte durch das Wasser und suchte nach einem anderen Durchschlupf.
Das Auto reduzierte sein Tempo, es befand sich vielleicht noch zehn Meter entfernt, und die Scheinwerfer hatten Hannes voll erfasst. Sie beleuchteten zugleich eine Stelle im Dornengebüsch, die eine Fluchtmöglichkeit bot. Es würde schmerzhaft werden, aber einen anderen Ausweg hatte Hannes nicht. Er ballte die Fäuste und drehte sich dem Fahrzeug entgegen, das nun zum Stehen gekommen war.
»Leck mich am Arsch, du geisteskranker Wichser!«, brüllte er. »Leck mich, leck mich, leck mich!«
Er sah, dass eine Tür aufging. Es war die Beifahrertür, also war Lukas doch nicht allein unterwegs. Hannes verlor keine weitere Zeit mit Beschimpfungen oder Überlegungen, wer dieser Helfer sein könnte. Hastig drehte er sich zu der schmalen Aussparung im Gebüsch, um seine Flucht zu Fuß fortzusetzen. In seinem nackten Zustand fühlte er sich wie ein Tier, dem die Jagdmeute dicht auf den Fersen war. Er hörte, wie sein Name geschrien wurde, dann spürte er endlich weichen Waldboden anstelle von dornigem Gestrüpp unter den Füßen und rannte.