KAPITEL 12
Seit er die Schwachstelle an den Streben des Bettgestells ausgemacht hatte, waren Federsens Befreiungsbemühungen immer wieder ins Stocken geraten. Schmerz, Entkräftung, Hunger, Durst und seine eingeschränkte Bewegungsfreiheit, wegen der er die absurdesten Verrenkungen anstellte, waren gnadenlose Gegenspieler. Dazu kam die Dunkelheit, die ihn dazu zwang, sich allein auf seinen Tastsinn zu verlassen.
Nach etlichen erfolglosen Versuchen war es ihm schließlich gelungen, das Bett auf die Seite zu kippen. Auf der Suche nach einer geeigneteren Position schleifte er es nun über den Boden, bis er auf die Raumecke stieß. Dort versuchte er, das Gestell so zu verkeilen, dass er in der Lage war, einen stärkeren Druck auf die Querstrebe auszuüben. Sie gab auch mehr nach als zuvor, aber die senkrechten Stäbe, an denen seine Handschellen befestigt waren, schienen doch zu tief drinzustecken.
Er spürte ein Pochen an der Stelle, wo sich vor Kurzem noch sein Daumen befunden hatte, und befürchtete, dass die Wunde aufgrund der Anstrengungen wieder zu bluten begann. Anfangs war es noch seine größte Sorge gewesen, dass er langsam ausbluten würde, aber offenbar hatte Lukas den Stumpf des Daumens zwar nicht genäht, aber dennoch einigermaßen fachmännisch versorgt. Einen Versuch gab sich Federsen noch, eine letzte Kraftanstrengung, bevor er sich endgültig dem Verderben ergeben würde. Er biss die Zähne zusammen, stemmte die Füße gegen die Wand und setzte sein gesamtes Körpergewicht ein. Die Hand mit dem fehlenden Finger umklammerte die Stange, die er seit Stunden als Erstes herauszulösen gedachte. Sie befand sich in der Mitte, wo er die Querstrebe am stärksten nach oben biegen konnte.
Kurz bevor ihn die Kraft zu verlassen drohte, meinte er, mit dem Zeigefinger schon den oberen Rand zu erspüren. Er holte tief Luft und brüllte seine Wut und die Verzweiflung heraus, während er die letzten noch fehlenden Millimeter herauszuschieben versuchte. Als er schließlich erschöpft zusammensackte, konnte er es selbst nicht glauben: Der letzte Versuch hatte tatsächlich zum Erfolg geführt! Die senkrechte Stange ließ sich bewegen, ihr oberes Ende war frei. Zitternd hing er über dem Gestell, und er benötigte mehrere Minuten, bis er den Arm wieder strecken und die Handschelle von dem Stab abstreifen konnte.
Dann brachte er sich in eine bequemere Position, um Energie für die nächste Stange zu sammeln. Sie befand sich nahe am Bettrand, und Federsen ahnte, dass die Querverbindung an dieser Stelle bei Weitem nicht so flexibel sein würde wie in der Mitte. Natürlich würde er es trotzdem versuchen, spürte aber, dass er derzeit nicht in der Lage dazu war. Er führte die befreite Hand zum Mund und tastete sich mit den Lippen vor. Dorthin, wo sich normalerweise ein Daumen befand. Erst traf er nur auf Luft, dann schmeckte er Blut. Der Verband war klatschnass, das spürte er, als er ihn sich gegen die Wange presste.
Das Triumphgefühl ebbte ab. Sollte er tatsächlich auch die andere Hand freibekommen, was würde es ihm nützen? Die Stahltür hinter dem Treppenaufgang war mit Sicherheit verschlossen, und … Er ließ den Kopf auf den Arm sinken und schluchzte auf. Alle derartigen Überlegungen waren mit einem Mal hinfällig. Die besagte Tür war soeben ins Schloss gefallen, und er hörte Schritte. Alles war vergebens gewesen, die Anstrengung hätte er sich sparen können. Nur ein paar Stunden später und er hätte – sofern er nicht vorher verblutet wäre – Lukas angreifen und überwältigen können. Vorausgesetzt natürlich, er hätte tatsächlich auch die zweite Handschelle lösen können. Die Zweifel, ob ihm dies überhaupt gelungen wäre, spielten jetzt keine Rolle mehr.
Apathisch verfolgte er, wie die Tür des Raums aufgeschoben wurde und Licht hereinfiel. Lukas schien nicht damit gerechnet zu haben, dass Federsen noch immer vom Überlebensinstinkt getrieben war. Erst als er mit der Campinglaterne dorthin leuchtete, wo er das Bett zurückgelassen hatte, blieb er stehen und stieß einen Schrei aus.
»Was zur …«
Hektisch drehte er sich im Kreis und sah sich um. Als er Federsen am Boden sitzend entdeckte, wurden seine Augen groß, der Mund stand offen. Der Kriminalhauptkommissar konnte geradezu sehen, wie es hinter der Stirn arbeitete. Dann näherte sich Lukas. Langsam und vorsichtig.
»Wie … was hast du gemacht?« Die Stimme klang nicht drohend, eher ängstlich.
Federsen sparte sich eine Antwort. Er blickte ins Licht, obwohl es nach der stundenlangen Dunkelheit in den Augen schmerzte. Licht, endlich wieder Licht! Die Erleichterung darüber schob sogar seine Ernüchterung beiseite.
»Bitte, nimm die Lampe nicht wieder mit«, flüsterte er.
Lukas schien es nicht zu hören. Achtsam schob er sich weiter nach vorn. Als er die freie Hand bemerkte, keuchte er auf.
»Das hättest du nicht tun sollen!«
Er zog den Rucksack vom Rücken und öffnete ihn. Federsen wurde schlecht, als der Bolzenschneider hervorgezogen wurde. Noch einmal … das würde er nicht aushalten. Der letzte Rest von Selbstbeherrschung fiel von ihm ab, er verwandelte sich in ein wimmerndes und flehendes Bündel Hoffnungslosigkeit. Lukas stand unschlüssig vor ihm. Dann geschah etwas, das Federsen nicht für möglich gehalten hätte.
Anstatt das Werkzeug auf ihn herabsausen zu lassen, trat Lukas zurück und legte den Bolzenschneider zur Seite. Stattdessen zog er eine Handschelle aus dem Rucksack und präsentierte sie seinem Gefangenen.
»Es gibt folgende Möglichkeiten. Entweder lässt du dich von mir wieder ans Bett ketten oder ich muss dir das hier über den Kopf ziehen.« Er stieß mit dem Fuß gegen den Bolzenschneider.
Federsen schniefte und wischte sich mit dem Verband über den Mund. »Und dann … dann ist der nächste Finger dran? Und morgen der nächste und … übermorgen noch einer, bis …? Dann schlag mir lieber gleich den Schädel ein.«
»Ich habe nicht vor, dir noch was abzuschneiden.«
»Wieso hast du es überhaupt getan?«
»Erklär ich dir, wenn du dabei hilfst, das Bett wieder aufzustellen, und dich dann hinlegst.«
Dankbarkeit wallte in Federsen auf. Er wollte Lukas glauben, unbedingt! Um ihn nicht wieder zu verärgern, rappelte er sich auf und griff zum Kopfende des Bettes. Lukas positionierte sich am unteren Ende, und gemeinsam kippten sie das Bett wieder in eine stehende Position. Lukas warf die Matratze auf ihren Platz und deutete darauf.
»Leg dich hin. Ich will deinen Verband wechseln.«
Federsen gab auf. Er fühlte sich wie ein Kleinkind, als er zurück auf die besudelte Matratze kroch und sich auf den Rücken legte. Lukas umrundete ihn, dann griff er blitzschnell nach Federsens freiem Arm. Binnen Sekunden war die Situation so wie Stunden zuvor. Mit dem Unterschied, dass Lukas die Schelle diesmal an der Querstange befestigt hatte. Dumm war dieser Junge wirklich nicht. Argwöhnisch spähte Federsen zur Seite, ob Lukas nicht doch nach dem Bolzenschneider griff.
Stattdessen holte Lukas aber ein Seil aus dem Rucksack, band ihm die Fußknöchel zusammen und verknotete das Seil am Bett. Er ging kein Risiko mehr ein, und absurderweise verspürte Federsen fast Erleichterung. Jetzt musste er sich keine Gedanken mehr über einen Ausweg machen, den es wohl eh nie gegeben hatte. Stattdessen konnte er sich in den Zustand fallen lassen, der ihm in den letzten Stunden immer verlockender erschienen war: Apathie.
»Du willst wissen, weshalb ich dir den Daumen abgeschnitten habe?« Lukas wickelte den Verband ab, blickte dabei aber immer wieder zur Seite, als ertrüge er den Anblick nicht. »Ich brauchte ihn als Köder. Um deinen Kollegen den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Leider scheint ihnen nicht viel an dir zu liegen. Das Lockmittel hat nicht gewirkt.«
Er erzählte von einem Plan, der in Federsens Ohren so abenteuerlich klang, dass er ihm schon wieder gut vorkam. Oder täuschten ihn seine vernebelten Sinne? Lukas hatte Hannes zu sich locken wollen, ohne dabei selbst in eine Falle zu geraten. Er besaß keinen Killerinstinkt, aber seine Kreativität glich diesen Nachteil aus. Vielleicht wäre seine Naivität sogar der Schlüssel zum Erfolg gewesen, wenn … ja, wenn nur Hannes nicht kalte Füße bekommen hätte.
Lukas war damit beschäftigt, einen neuen Verband anzulegen, nachdem er die betroffene Stelle gereinigt und desinfiziert hatte. »Die Wunde sieht gar nicht schlecht aus. Dabei hab ich so was noch nie gemacht. Hatte schon befürchtet … Hab mich im Internet informiert, wie man die Blutung am besten stillt, aber …«
Federsen hörte dem Gemurmel nicht länger zu. Seine Gedanken kreisten um seinen Mitarbeiter. Dass Lukas ihm die Situation nicht ganz wahrheitsgetreu geschildert haben könnte, kam ihm in diesem Moment nicht in den Sinn. Er spürte, wie dessen Finger seine Hand versorgten, zart und nicht grob. Hannes hingegen war nicht da …
Seine wirren Gedankengänge wurden erst wieder zurechtgerückt, als Lukas die Wundversorgung abgeschlossen hatte. Nach der sanften Behandlung fühlte sich Federsen regelrecht zurückgestoßen, als Lukas den Bolzenschneider wegpackte, den Rucksack aufsetzte und nach der Lampe griff.
»Wo … bitte geh nicht«, krächzte er. »Ich habe Hunger und Durst und …«
»Das wird auch so bleiben, bis ich endlich deinen Kollegen habe. Kannst dich bei ihm bedanken.«
»Die … Lampe … bitte, lass wenigstens die Lampe hier.«
Lukas sah zur Seite und rang sichtlich mit sich. Dann dimmte er das Licht und stellte die Leuchte auf den Boden.
»Wenn’s dir damit besser geht«, murmelte er. »Ich bin kein Sadist. Das mit dem Daumen … musste sein. Dass es verpufft, weil du deinem Kollegen ganz offensichtlich egal bist, hatte ich nicht erwartet. Ist für dich aber gut, denn so brauch ich nicht noch was von dir abzuschneiden. Ich habe jetzt eine vielversprechendere Person im Visier.«
Marcel war es zu verdanken, dass nach der Nachtschicht und dem wenigen Schlaf wenigstens ein Frühstück auf die Ermittler wartete. Die zurückliegenden Stunden waren Hannes allerdings auf den Magen geschlagen. Unberührt stand der Teller mit dem Käsebrötchen vor ihm, er nippte nur ab und zu an einer Colaflasche. Von den Kratzern, die seinen gesamten Körper überzogen, waren nur die im Gesicht und an den Armen zu sehen. Dieser Anblick in Verbindung mit seiner angeknacksten mentalen Verfassung reichte aber aus, um Isabell in den Glucken-Modus zu versetzen. Üblicherweise stand Hannes nicht auf eine derart mütterlich-fürsorgliche Behandlung, heute aber tat sie ihm gut.
Dass Hannes nun mit langer Hose und T-Shirt bekleidet im Konferenzraum saß, anstatt weiter nackt durch den Wald zu irren, hatte er seinen Kollegen zu verdanken. Die Nachhut war zwar deutlich später als er selbst beim Steinbruch angekommen, hatte aber aufgrund der Reifenspuren auf dem Forstweg anderen Polizisten den richtigen Hinweis geben können. Dass die Scheinwerferlichter nicht zu einem Wagen gehört hatten, der von Lukas gelenkt worden war, hatte Hannes erst mit Verspätung erkannt.
Wie von tollwütigen Wölfen gehetzt, war er im Zickzack um die Bäume gerannt, über Baumwurzeln gesprungen und Dickicht ausgewichen, bis er endlich den Waldrand erreicht hatte. Erst als er eine kurze Verschnaufpause zur Orientierung eingelegt hatte, waren die Rufe des ihm nacheilenden Spezialeinsatzkommandos bis zu seinem Verstand vorgedrungen. Welchen Eindruck Hannes auf seine Kollegen gemacht haben musste, als er ihnen wenige Minuten zuvor nackt und zerschrammt Verwünschungen entgegengeschrien hatte, wollte er gar nicht wissen. Sie hatten sein Äußeres nicht kommentiert, ihm stattdessen eine Decke umgelegt und ihn zurück zum Fahrzeug geleitet.
Noch immer schmerzten die Abschürfungen an seinen Fußsohlen am meisten, aber auch der restliche Körper fühlte sich an, als säße er in einem Ameisenhaufen und nicht am altbekannten Tisch im Konferenzraum. Alle Verletzungen waren jedoch nur oberflächlicher Natur und zugleich ein vorgeschobener Grund, weshalb er das Training an diesem Tag ausfallen ließ. Dass er dazu außerstande war und obendrein Ralf nicht über den Weg laufen wollte, behielt er für sich. Isabell behandelte ihn schon jetzt wie ein rohes Ei – sollte sie erfahren, wie es in seinem Inneren tatsächlich aussah, hätte sie ihn wahrscheinlich fest in die Arme geschlossen.
Plagender als die Schürfwunden nagten die Gewissensbisse an Hannes. Hatte Lukas jetzt seine Drohung wahrgemacht und Federsen ermordet? Niemand machte ihm Vorwürfe, dass er das Glas weggeworfen hatte, statt den Inhalt auszutrinken. Die Befürchtung, dass er gleichzeitig auch das Leben seines Chefs von sich geschleudert hatte, sorgte dennoch für hartnäckige Übelkeit, die ihn immer wieder zur Toilette trieb. Die an den Scherben befindlichen Reste der Flüssigkeit waren untersucht worden, und es hatte sich herausgestellt, dass seine größte Befürchtung nicht zutraf. Zwar hatte sich in dem Glas nicht nur Wasser befunden, anstelle eines tödlichen Gifts war aber lediglich ein Betäubungsmittel untergerührt worden.
Als Clarissa dieses Ergebnis vorgetragen hatte, war Hannes versucht gewesen, höhnisch aufzulachen. Lediglich ein Betäubungsmittel? Die Vorstellung, dass er am Grund des Steinbruchs besinnungslos und nackt zusammenklappte und von Lukas aufgesammelt wurde, um wer weiß wohin verfrachtet zu werden, fand er gruselig genug. Womit Lukas ihn weggeschafft hätte, war mittlerweile mehr als eine Mutmaßung. Der führerscheinlose Siebzehnjährige musste die Vorteile erkannt haben, die ihm Federsens Wagen verschaffte.
Die Reifenabdrücke auf dem Forstweg deckten sich mit denen, die man schon beim Waldhaus entdeckt hatte. Den Wagen selbst hatte man beim Steinbruch nicht gefunden, wohl aber den Standort: in circa hundert Metern Entfernung am Rande eines Stichwegs. Mit diesem Auto hatte Lukas das Gelände auch wieder verlassen, allerdings – als hätte er die sich nähernde Gefahr geahnt – in die entgegengesetzte Richtung, als Hannes sie mit dem Roller gewählt hatte. An einer Einmündung auf eine Landstraße hatten sich die Spuren verloren.
Dafür gab es Hinterlassenschaften von Lukas selbst: platt getretene Pflanzen und Schuhabdrücke in der Erde, oben, dicht an der Abbruchkante. Von dort hatte er einen freien Blick in den Steinbruch gehabt. Sobald Hannes zusammengebrochen wäre, hätte Lukas innerhalb weniger Minuten zum Auto rennen, hinunterfahren und ihn ins Wageninnere zerren können. Der Plan war ausgereift gewesen, und Hannes konnte noch immer nicht nachvollziehen, mit welcher Verbissenheit ihm Lukas nachstellte.
Immerhin gab es einen Hoffnungsschimmer. Noch in der Nacht waren blitzschnell Straßensperren errichtet und alle Fahrzeuge kontrolliert worden. Lukas’ oder vielmehr Federsens Wagen war dabei nicht ins Netz gegangen, was bedeutete, dass er sich in einem bestimmten Radius aufhalten musste. Das betroffene Gebiet wurde gerade bei Tageslicht aus der Luft und zu Land ausgekundschaftet. Alle hofften auf eine erlösende Botschaft, die jedoch bisher nicht eingetroffen war. Auch der Leuchtturm, an den sich Hannes in der Nacht erinnert hatte, war aufgesucht worden – ergebnislos.
Steffen Lauer zeigte Zermürbungserscheinungen. »Es kann doch nicht wahr sein, dass wir uns seit Tagen von einem Teenager an der Nase herumführen lassen!«, fluchte der ansonsten so beherrscht auftretende Mann und schlug auf den Tisch. »Er ist wie ein Phantom, das alles sieht, aber selbst unsichtbar bleibt. Wie ist das möglich?« Auffordernd sah er in die Runde.
Niemand erwiderte seinen Blick. Aus den versteinerten Mienen war herauszulesen, dass jedem der Ernst der Lage bewusst war. Lauer war dafür bekannt, sich bedingungslos vor sein Team zu stellen und die Ermittlungspraxis realistisch einschätzen zu können. Selten kam es vor, dass er einen harten Ton anschlug oder gar einen Rüffel erteilte. Dass er nun aus seiner Rolle fiel, nahm niemand persönlich. Alle teilten die Angst, die hinter diesem Ausbruch steckte: War Federsen noch am Leben?
Als das Schweigen peinlich zu werden drohte, erbarmte sich Marcel. Unter seinen Nasenflügeln klebten Reste von getrocknetem Blut, und er sah nicht aus, als habe er auch nur eine Minute Schlaf abbekommen. Er stand auf und ging zu dem großen Whiteboard, auf dem die Verästelungen des Falls in Form einer Grafik abgebildet waren. In der Mitte hing ein Foto von Lukas, das Marcel mit dem Zeigefinger durchbohren zu wollen schien.
»Lukas Krontal ist zwar jung, aber das ist völlig nebensächlich. Zumindest dahingehend, dass wir uns deshalb keine Vorwürfe machen sollten. Dass er noch nicht volljährig ist, bedeutet nicht automatisch, dass er leicht zu fassen wäre. Vergesst nicht, dass er schon in der Schule als hochbegabt eingestuft wurde. Dennoch sollten wir sein Alter nicht außer Acht lassen und unsere Strategie darauf ausrichten. Er hat sich ein Konzept ausgetüftelt, das bislang aufgeht. Was ihm aber fehlt, ist Erfahrung. Teilweise agiert er dann doch wie ein Teenager oder sogar wie ein Kind, das beweist die Flaschenpost. Das ist die Schwachstelle, an der wir ansetzen müssen.«
»Und was genau schwebt dir vor?« Lauer hatte sich wieder beruhigt und wirkte ob seines vorherigen Ausfalls fast verschämt.
»Wir müssen den Druck weiter erhöhen.«
»Der Druck ist doch schon groß«, wandte Clarissa ein. »Fahrzeugkontrollen, Hubschraubereinsätze, Suchmannschaften, Überwachung infrage kommender Orte, Einsatz von Suchhunden, Auswertung von Videoaufnahmen, öffentliche Fahndung. Womit sollen wir noch mehr Druck reinbringen?«
»Zumal es auch einen gegenteiligen Effekt bringen könnte, wenn wir ihn in die Ecke treiben.« Hannes konnte nur noch an eins denken. »Wenn er keinen Ausweg mehr sieht, kann es für Federsen noch enger werden, als es ohnehin schon der Fall sein wird. Was ist wichtiger? Lukas zu schnappen oder Federsen zu retten?«
»Dummerweise könnte Ersteres die Voraussetzung für Hennings Rettung sein.« Marcel deutete auf eine Karte. »In der näheren Umgebung dürfte es kaum einen Ort geben, den wir noch nicht ausgekundschaftet haben. Und doch – obwohl wir den Radius immer weiter vergrößern, geht uns der Kerl nicht ins Netz. Er muss ein verdammt gutes Versteck gefunden haben.«
»Aber auch er wird nicht darum herumkommen, sich mal Nahrung zu beschaffen«, meinte Per.
»Vergiss nicht, dass er sich akribisch vorbereitet hat. Er kann irgendwo ein Lager bezogen haben, in dem er Vorräte für die nächsten Wochen gebunkert hat. Diesen Ort verlässt er nur, wenn es nicht anders geht. Zum Beispiel, um sein nächstes Ziel zu erreichen.«
»Mich.« Hannes nickte.
»Da er an dich aber nicht so einfach herankommt, wird er irgendwo eine neue Botschaft platzieren wollen.«
»Wir sollen also warten, bis er sich wieder meldet?«
Marcel schüttelte den Kopf. »Mit Abwarten hat das nichts zu tun. Clarissa hat es eben aufgezählt, all diese Maßnahmen laufen natürlich weiter. Und das erhöht die Chance, dass Lukas einen Fehler begeht. Er wird wieder den Kontakt zu uns suchen, das steht für mich fest. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, denn er ist versessen darauf, seinen Plan bis zum Ende durchzuziehen.«
»Und dieser Plan hat ein ganz spezielles Ende«, vermutete Isabell. »Es geht ihm nicht darum, Hannes einfach nur auszuschalten. Er muss irgendeine Szene im Kopf haben, die so und nicht anders ablaufen soll.«
»Wenn man bedenkt, dass er in den Spuren seiner Schwester wandelt, ist das keine verlockende Aussicht.« Hannes atmete tief durch. »Gibt es neue Hinweise aus der Öffentlichkeit?«
»Es kommen ständig welche«, sagte Clarissa. »Wir haben jetzt auch Fahndungsplakate an Bushaltestellen und Schaufenster geklebt.«
»Ich weiß nicht, ob das alles so klug ist«, wiederholte Hannes seine Bedenken. »Wir dürfen nicht mit Federsens Leben spielen. Lukas wird mitbekommen, dass bald jeder sein Gesicht kennt. Dann wird er sich so tarnen, dass ihn niemand erkennen kann. Oder einfach verschwunden bleiben, bis sich der Aufruhr wieder legt. Unsere Chancen, ihn zu ergreifen, verringern sich dadurch also eher.«
Wieder kehrte Schweigen ein, alle hingen ihren Gedanken nach. Es war eine vertrackte Situation, in der man mit gut gemeinten Methoden das genaue Gegenteil erreichen konnte. Aber einfach die Hände in den Schoß zu legen und Lukas den nächsten Schritt zu überlassen, war ebenfalls keine Option. Das Leben eines Kollegen hing davon ab, dass jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen wurden.
»Es gibt eine Sache, die wir noch nicht probiert haben.« Per sah weiter auf die Tischkante, als sich alle Köpfe zu ihm drehten. »Ein öffentlicher Appell an seine Vernunft.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte Lauer nach.
»Lukas ist kein Monster, selbst wenn er sich so verhält. Wenn wir ihm klarmachen, in welches Leid er gerade unschuldige Menschen stürzt, dann …«
»Hannes und Federsen sind in seinen Augen nicht unschuldig«, unterbrach ihn Clarissa.
»Aber Federsens Frau. Die dazu auch noch krank ist, wie wir jetzt erfahren haben. Vielleicht kann sie sein Mitleid erregen.«
»Das setzt voraus, dass Lukas von dieser Botschaft überhaupt erfährt. Kann mir nicht vorstellen, dass er sich gerade …«
Hannes stoppte ihren Einwand. »Pers Vorschlag ist gut. Ich bin mir sicher, dass Lukas die Medien verfolgt, das liegt in seinem ureigensten Interesse. Spätestens seit dem öffentlichen Fahndungsaufruf. Eine in Tränen aufgelöste Frau Federsen im Fernsehen, Radio und auf Nachrichten-Webseiten könnte etwas in ihm auslösen.«
»Ergänzend könnte man noch Leute einsetzen, die Einfluss auf ihn haben«, sprang ihm Isabell bei. »Die Verwandtschaft scheint dafür nicht infrage zu kommen, aber vielleicht seine beste Freundin. Oder die Hockeymannschaft, in der er früher gespielt hat. Freunde aus der Schule, Lehrer. Auch wenn er kein besonders großes soziales Netzwerk hatte, wird es doch den einen oder anderen geben, mit dem er sich gut verstanden hat. Wenn wir die geballt auftreten lassen, kann ihn das nicht kaltlassen. Wie Per schon sagte: Lukas ist verzweifelt und in einen Wahnzustand gerutscht, ein Monster steckt aber nicht in ihm.«
Steffen Lauer tauschte einen kurzen Blick mit Marcel, dann nickte er. »Verlieren können wir damit nichts, und es ist eine neue Taktik. So bauen wir weiter Druck auf, ohne dass Lukas sich genötigt sieht, um sich zu schlagen. Und wenn es nur hilft, Zeit für Federsen herauszuschinden, da Lukas’ Entschlossenheit ins Wanken gerät. Das wäre Gold wert. Guter Vorschlag, Herr Hoffmann!«
Per errötete und kratzte sich an einer der Aknenarben in seinem Gesicht. Viel mehr Zeit, um seine Verlegenheit zum Ausdruck zu bringen, blieb ihm nicht, da die Tür aufgerissen wurde. Herein kam Lauers Sekretärin, eine beleibte und energische Person, die eher gefürchtet als beliebt war. Auch an diesem Tag trug sie ihre Vorliebe für bunte Blumenkleider zur Schau und kostete ihre Position aus. Den versammelten Ermittlern gönnte sie kaum einen Blick, sondern steuerte zielsicher auf ihren Chef zu, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr. Lauers Augen weiteten sich, dann stützte er die Hände auf den Tisch und stand auf. Feierlich blickte er in die Runde.
»Endlich scheint sich der ganze Aufwand zu lohnen. Lukas wurde vor einer halben Stunde am Hauptbahnhof gesehen. Von einem Blumenhändler. Jemand hetzte zum Bahnsteig, rempelte dabei Lukas um, sodass ihm Baseballmütze und Sonnenbrille herunterrutschten. Eine Überwachungskamera hat das aufgezeichnet.«
»Dahinter steckt bestimmt der nächste Versuch einer Kontaktaufnahme!« Hannes sprang auf. »Wir müssen alle Streifenwagen informieren. Wenn er wie beim letzten Mal einen Umschlag hinter einen Scheibenwischer klemmen will, ist das jetzt die Chance, ihn festzunehmen!«
Lauer nickte, war aber noch nicht fertig. »Außerdem ist noch was gefunden worden: Federsens Auto. An einer Stelle, die wir nicht auf dem Radar hatten.«
Während die Ermittler neuen Mut schöpften, machten sich in drei Kilometern Luftlinie entfernt Zermürbungserscheinungen bemerkbar. Obwohl draußen die Sonne lockte, verbrachte Anna Stunde um Stunde in Elkes Wohnung. Sie konnte sich kaum noch dazu aufraffen, sich weiter mit Hochzeitsvorbereitungen zu beschäftigen oder weitere Bewerbungen zu versenden. Immerhin war es ihr gelungen, etwas Zeit in die Prüfungsvorbereitungen für den Bootsführerschein zu stecken, auch wenn ihr dieser Lappen gerade ziemlich egal war. Die Anwesenheit der Personenschützer vor dem Haus empfand sie zwar schon als Normalzustand, die ständige Aufsicht hemmte sie aber zugleich, das Haus zu verlassen. Dass sie sich zudem von allen relevanten Informationen abgeschnitten fühlte, verstärkte den Eindruck der Isolation.
Der Streit mit Hannes kam ihr inzwischen unwirklich und lächerlich vor, schwelte aber weiter. Am Vortag hatte sie keine Lust auf noch mehr Rechtfertigungen gehabt und seine Anrufe ignoriert. Später am Abend hatte sie ihn dann nicht erreicht und sich ausgemalt, in welcher Mission er gerade unterwegs sein könnte. Kurz war dabei sogar Ninas Bild in ihr aufgeflammt, aber dass Hannes Händchen haltend mit ihr auf dem Sofa saß, war ihr dann doch absurd vorgekommen. Gedanken entwickelten eben ein abstruses Eigenleben, wenn man kaum noch erfuhr, was um einen herum tatsächlich vorging.
Am Morgen – Anna hatte mit Elke am Frühstückstisch gesessen – hatte sich Hannes dann wieder bei ihr gemeldet. Ihrer Frage, wo er am Abend gewesen sei, war er ausgewichen. Es habe erneut einen erfolglosen Einsatz gegeben, er sei aber unbeschadet geblieben, genauso wie alle anderen. Details dürfe er ihr nicht verraten, worauf Anna explodiert war.
»Hab ich nicht ein Recht zu erfahren, was gerade los ist?«, hatte sie ihn angefahren. »Deine Prinzipienreiterei ist so was von fehl am Platz!«
Mit einem abrupten Themenwechsel hatte Hannes ihr den Wind aus den Segeln genommen, indem er ihr von seinem Treffen mit Nina erzählt und zerknirscht eingestanden hatte, dass Anna mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. Er hatte sie sogar um Entschuldigung gebeten, dass er sich so abweisend verhalten und die Wahrheit nicht hatte sehen wollen. Anna war nicht in der Lage gewesen, diesen Vorfall so einfach aus der Erinnerung zu streichen, stimmte aber zu, dass wohl beide gerade unter einem angespannten Nervenkostüm litten, sodass sie gelegentlich überreagierten. Für den Nachmittag hatten sie sich verabredet, allen Gefahren zum Trotz. Sich in der momentanen Situation tagelang nicht zu sehen, setzte beiden zu.
Bis zu dieser Verabredung waren noch einige Stunden zu überbrücken, und Anna entschied, dass sie endlich frische Luft brauchte. Sie speicherte eine überarbeitete Version ihres Lebenslaufs ab, fuhr den Laptop herunter und wühlte in ihrem Koffer nach einem vorzeigbaren Outfit, das sie gegen die Trainingshose und das verwaschene T-Shirt eintauschen konnte. Anschließend nahm sie die Tasche vom Haken, verschloss die Wohnungstür und lief die Treppe nach unten. Warme Luft schlug ihr entgegen, als sie die Eingangstür aufzog, und vom nahe gelegenen Schwimmbad klang Kinderlachen herüber. Die beiden Personenschützer waren in ein Gespräch vertieft, aber obwohl alles friedlich und unverdächtig wirkte, spielte sie nur kurz mit dem Gedanken, sich ohne deren Begleitung davonzumachen.
»Wo soll’s denn hingehen?«, wurde sie gefragt, als sie zu den Männern trat.
»Nach …« Anna wusste es selbst nicht. Raus ans Meer oder nur in einen Park? Sie dachte an ihre Bewerbungen. Merkwürdigerweise hatte sie das Verlangen, eine plausible Begründung für einen Ausflug liefern zu müssen. »In die Stadt. Ich brauche was zum Anziehen für ein Vorstellungsgespräch.«
»Ein konkretes Ziel?« Einer der Männer entriegelte per Knopfdruck das Auto.
»Nein.« Sie zwinkerte ihm zu. »Sie wissen ja, wie Frauen ticken. Ich lass mich von dem inspirieren, was mir über den Weg läuft.«
»Wie Sie möchten.« Er machte keine Anstalten, sich auf eine persönlichere Ebene zu begeben. Mit unbewegtem Gesichtsausdruck hielt er die Tür auf und ließ sie einsteigen.
Was die wohl von mir denken?, überlegte Anna, als der Wagen in Richtung Innenstadt fuhr. Es ging langsam vorwärts, der morgendliche Berufsverkehr war noch nicht abgeflaut. Wahrscheinlich denken sie gar nichts. Sind bestimmt interessantere Leute gewöhnt, die sie beschützen müssen.
Zumindest zeigten sich die beiden desinteressiert, was Damenmode betraf. Als Anna durch den ersten Laden, eine kleine Boutique, schlenderte, startete sie noch einen Versuch, die Stimmung aufzulockern.
»Was halten Sie hiervon?« Sie hielt ein Baumwollkleid vor ihren Körper.
»Ich bin da leider kein Experte«, erklärte der eine steif, während der andere nur mit den Schultern zuckte.
Anna beließ es dabei und verlagerte ihr Bedürfnis nach sozialem Kontakt auf die Verkäuferin. Eigentlich hatte sie gar nicht vor, etwas zu kaufen. Ihr Bankkonto war nach dem Autokauf nicht besonders gut gefüllt, ihr Kleiderschrank dafür umso mehr, und sie wusste nicht, wie lange der Zustand der Arbeitslosigkeit noch andauern würde. Nach einer halben Stunde ließ sie die Verkäuferin mit enttäuschtem Gesicht zurück, die erste Kundin des Tages dürfte ihr aber zumindest die Langeweile vertrieben haben.
Mehrere kleinere Läden später war Annas Bedarf an Konversation befriedigt, sodass sie ein Kaufhaus ansteuerte. Sie wusste selbst nicht warum, aber sie ging direkt in die Kinderabteilung, begutachtete Strampler, Babyspielzeug und sonstige Accessoires. Offenbar benötigte man einige leere Schrankflächen, wenn ein neues Leben zu Hause einzog. Dass in der aktuellen Situation eine erneute Schwangerschaft keine Option war, frustrierte sie. Auch die Angst, dass es wieder schiefgehen könnte, ließ sie alles andere als unbefangen durch die Abteilung streifen. Dennoch konnte sie sich erst losreißen, als der Hunger nicht mehr zu ignorieren war.
Es war halb eins, der Vormittag war wie im Flug vergangen. Sie beschloss, in der nahe gelegenen Markthalle ein Mittagessen zu sich zu nehmen, auch wenn um diese Uhrzeit sicher Hochbetrieb herrschte. Ihre Vermutung wurde bestätigt, denn in dem historischen Gebäude verbrachten nicht nur zahlreiche Angestellte ihre Mittagspause, zusätzlich drängten sich auch viele Touristen durch die Gänge zwischen den Verpflegungsständen und Auslagen. Die Luft war von verschiedensten Gerüchen geschwängert, und die Unterhaltungen der Menschen vereinigten sich mit dem Geklapper von Geschirr und dem Zischen heißer Pfannen zu einer großen Geräuschkulisse.
Anna genoss es. Endlich spürte sie wieder Leben um sich herum und keine bleierne Stille. An einem asiatischen Imbissstand versuchte sie, ihre Begleiter zu einem Mittagessen zu überreden, doch die Personenschützer lehnten ab. Nur kurz spielte Anna mit dem Gedanken, sich an einen der Tische zu setzen, denn sie hatte wenig Lust, stumm das Essen in sich hineinzuschaufeln, während ihr die beiden Männer dabei zusahen. Deren professionelle Distanz ging ihr zunehmend auf die Nerven und verdarb ihr den Spaß an dem Ausflug.
Sie sah auf die Uhr. Viel Zeit blieb ohnehin nicht mehr, wenn sie zu dem Treffen mit Hannes pünktlich sein wollte. Mit ihren Beschützern im Schlepptau verließ sie die Markthalle. Einer der beiden erhielt einen Anruf, offenbar wollte die Ablösung Ort und Zeitpunkt des Schichtwechsels besprechen. Anna fühlte sich wie ein Staffelstab, der in Kürze weitergereicht wurde. Sie war es so leid!
Auf dem Bürgersteig herrschte dichtes Gedränge, und der größere der beiden Männer ging vor ihr, als wolle er Anna den Weg freipflügen. Sein Kollege sprach noch immer ins Telefon, er hatte sich aber etwas zurückfallen lassen, sodass seine Worte nicht zu verstehen waren. Anna runzelte die Stirn – ob er über sie lästerte? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden aus irgendeinem Grund auf sie herabsahen. In Gedanken versunken lief sie gegen einen Laternenpfahl und musste über sich selbst schmunzeln. Vermutlich war sie den beiden völlig egal und …
Plötzlich ertönte ein lauter Knall, und nicht nur Anna zuckte zusammen. Erschrockene Rufe ertönten, alle Passanten blickten zur Straße. Etwa zwanzig Meter hinter ihr war ein Lieferwagen auf einen Mini aufgefahren und hatte diesen vor den Eingang der Markthalle geschoben. Anna erschauderte, als sie aufgeregte Gesten bemerkte. Offenbar war jemand angefahren worden. Vor einer Minute hatte sie sich selbst noch an dieser Stelle befunden! Schnell wandte sie den Blick wieder in die andere Richtung.
Ein Bus näherte sich, und Anna konnte die stutzige Miene der Fahrerin erkennen, als diese den Unfall bemerkte. Der alarmierte Gesichtsausdruck wich Entsetzen, als Anna einen heftigen Stoß in den Rücken spürte. Sie schrie auf und stolperte nach vorn auf die Fahrbahn. Der Bus war nur noch wenige Meter entfernt und damit trotz Vollbremsung viel zu nah. Anna strauchelte und versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten – dann kam der Aufprall und schleuderte sie auf den Asphalt.
Das Gefühl, ihm sei nun endgültig der Boden unter den Füßen weggerissen worden, führte dazu, dass Hannes stumm und regungslos auf einem Stuhl im Gang des Krankenhauses saß. Isabells Anwesenheit an seiner Seite nahm er wie durch eine Nebelwand wahr, dann und wann vergaß er sie völlig und stierte minutenlang auf die weiße Wand. Die Nachricht von Annas Unfall hatte ihn in einem Moment höchster Betriebsamkeit erreicht. Clarissa, Isabell, Per und er selbst waren gerade damit beschäftigt gewesen, die passenden Leute für den geplanten öffentlichen Appell an Lukas zusammenzutrommeln. Der Versuch, an Lukas’ Gewissen zu appellieren, sollte so schnell wie möglich gestartet werden.
Daneben durchkämmten Suchtrupps die Gegend, in der Federsens Fahrzeug gefunden worden war. Lukas hatte es von einer Klippe auf den darunterliegenden Strand stürzen lassen. Es war eine Stelle, die außerhalb des bisherigen Suchradius lag, und dass Lukas schon einmal in dem Wagen gesessen hatte, war von der Spurensicherung bestätigt worden. Ebenso stand fest, dass es dieselben Reifenprofile waren, die man beim Waldhaus und beim Steinbruch gefunden hatte und dass sich Federsen ebenfalls darin befunden haben musste – und zwar nicht nur auf dem Fahrersitz, sondern auch blutüberströmt in dem Kofferraum des Kombis. Ebenso war die Kappe eines Fahrradreifenventils darin gefunden worden. Da Hannes von Federsens Abneigung gegenüber körperlicher Aktivität wusste, ging man davon aus, dass sich Lukas mit einem Fahrrad davongemacht hatte. Nur wohin, das blieb weiter offen und hing davon ab, wann er den Wagen hatte abstürzen lassen.
War er direkt in die Stadt gefahren oder zu einem Bahnhof oder noch einmal zu seinem Versteck? Fakt war nur, dass er in der Stadt gesehen worden war. Hannes war sich sicher, wer Anna vor den Bus gestoßen hatte. Die Busfahrerin und weitere Zeugen hatten von einer Person gesprochen, die schwarze Kleidung, eine Wollmütze und Sonnenbrille getragen hatte und nach dem Angriff blitzschnell wieder im Getümmel untergetaucht war. Diese Beschreibung deckte sich zwar nicht mit den Aufnahmen der Videokamera im Bahnhof, aber ein Detail war identisch: Der Angreifer hatte einen braunen Rucksack auf dem Rücken gehabt, genauso wie Stunden zuvor Lukas im Bahnhof.
Hatte er geahnt, dass er sein Aussehen nach dem Rempler verändern musste? Oder wechselte er bewusst immer wieder die Kleidung, um jegliches Risiko, erkannt zu werden, auszuschließen? Mal wieder musste Hannes anerkennen, dass man den Jungen nicht unterschätzen durfte. Nach der Attacke auf Anna wuchsen zudem die Zweifel, dass ein Appell an seine Moral Wirkung zeigen würde. Jemanden vor einen fahrenden Bus zu schubsen, erforderte Kaltblütigkeit. Vor allem, wenn es sich dabei um jemanden handelte, der eigentlich unbeteiligt und nur Mittel zum Zweck war.
Dass Anna noch am Leben war, verdankte sie allein der blitzschnellen Reaktion der Busfahrerin, die wegen des Auffahrunfalls vor dem Eingang der Markthalle das Tempo schon reduziert hatte. Bei Bewusstsein war Anna aber noch nicht, neben mehreren Knochenbrüchen hatte sie auch eine leichte Schädelfraktur davongetragen. Glücklicherweise bestand keine Lebensgefahr, wie die Ärzte Hannes mehrfach versichert hatten. Wann sie aufwachen würde, ließ sich jedoch nicht mit Gewissheit sagen.
Es gab weitere offene Fragen, an die Hannes aber kaum einen Gedanken verschwendete. Wie hatte Lukas Anna ausfindig machen und trotz des Personenschutzes so dicht an sie herankommen können? Dass die Männer der Security versagt hatten, stand außer Frage, auch wenn sie natürlich eine Entschuldigung für den Vorfall parat hatten. Es habe großes Gedränge auf dem Bürgersteig geherrscht, zudem sei ihre Aufmerksamkeit durch den Unfall kurzfristig abgelenkt gewesen. Das war vielleicht menschlich, aber nicht professionell und erst recht nicht hinnehmbar. Disziplinarische Konsequenzen waren nicht unwahrscheinlich, doch das machte Anna auch nicht wieder gesund. In den nächsten Tagen würden sich die beiden Personenschützer unbequemen Fragen stellen müssen, und diese Aufgabe überließ Hannes gern seinen Kollegen. Genauso wie die Suche nach Lukas, die mit einer aktualisierten Beschreibung seines Äußeren intensiviert worden war.
Er selbst spürte im Moment weder Wut noch Hass, sondern nur Leere. Tränen, um die Verzweiflung aus sich herauszulassen, hatte er keine mehr. Als er Anna bandagiert, zerschrammt und mit geschlossenen Augen in ihrem Bett betrachtet hatte, waren sie noch aus ihm herausgeströmt. Sie nicht beschützt, sondern sich mit ihr gestritten und die Verstimmung noch nicht vollständig aus der Welt geschafft zu haben, hinterließ Schuldgefühle, die noch stärker waren als die gegenüber Federsen. Er kam sich wie das größte und feigste Arschloch der Welt vor.
Hätte er Anna berichtet, zu was Lukas in der Lage war, wäre sie sicher vorsichtiger gewesen. Hätte sie von Federsens Daumen und den Ereignissen der vergangenen Nacht gewusst, würde sie jetzt gelangweilt, aber unbeschadet, in Elkes Wohnung auf ihn warten. In exakt fünf Minuten waren sie verabredet gewesen … Hannes war noch nicht in der Verfassung, ihrem Vater und Bruder die Nachricht zu übermitteln, viel länger hinauszögern konnte er es aber auch nicht.
Beim Gedanken an dieses Telefonat kam endlich Bewegung in ihn, und er zog das Handy hervor. Seit er das Krankenhaus betreten hatte, waren die Vibrationen mehrfach in der Jeanstasche zu spüren gewesen. Als er sah, dass ein und dieselbe Person ihn fünf Mal hatte erreichen wollen, biss Hannes die Zähne aufeinander. Nina! Hatte er sich nicht klar ausgedrückt? Wie kam sie dazu, ihn weiterhin … ausgerechnet jetzt …? Er registrierte, dass er auch eine SMS erhalten hatte. Ebenfalls von ihr. Er wollte sie schon löschen, aber die ersten Worte ließen ihn innehalten.
Sorry, will nicht nerven. Aber hier hat jemand was für dich abgegeben. Was soll ich damit machen? Ich verstehe nicht, warum man es mir gegeben hat!
Stumm stöhnte er auf. Jemand hatte etwas abgegeben. Um wen es sich dabei gehandelt hatte, war nicht schwer zu erraten. Aber warum Nina? Und was war es? Federsens Kopf? Er hoffte inständig, dass es doch eine harmlose Erklärung für Ninas Nachricht gab, auch wenn ihm keine plausible Möglichkeit einfiel.
Ihm war, als wiege er zweihundert Kilo, als er sich von dem Stuhl in eine stehende Position zwang. Er bemerkte Isabells fragenden Blick, schwieg aber. Auch seine Zunge fühlte sich unglaublich schwer an. Aber es half nichts, er musste sich der Situation weiter stellen.
Er blickte noch einmal zu der Tür, hinter der Anna lag. Ob sie gerade etwas fühlte, dachte oder träumte? Die Sekunden vergingen, dann gab er sich einen Ruck.
»Ich muss mal telefonieren«, sagte er zu Isabell. »Bin gleich zurück.«
»Annas Vater?«
Ihr mitfühlender Blick war zu viel für ihn. Heftig blinzelnd nickte er, dann wandte er sich ab und lief den Gang entlang. Er durchschritt eine Schwingtür und fand sich in einem Wartebereich wieder, der voller Angehöriger von Patienten war. Mühsam unterdrückte er ein Aufschluchzen und trat ins Treppenhaus. In der obersten Etage gab es ein Restaurant mit Dachterrasse, auf der ein ungestörtes Telefonat möglich sein dürfte. Oben angekommen musste er sich dann aber doch bis hinter einen Abluftschacht verziehen, um die nötige Privatsphäre zu finden. Sein Blick glitt über die Dächer der Stadt, er sah Autos und Menschen, hörte Hupen und Motorengeräusche – die Welt drehte sich weiter, als wäre nichts geschehen.
Allmählich kehrte die Wut zu ihm zurück und verdrängte die Apathie. Irgendwo dort unten befand sich die Person, die dafür verantwortlich war, dass seine eigene Welt gerade zusammenstürzte. Eine dürre Gestalt, die vor siebzehn Jahren von den Eltern behutsam in den Armen gehalten und Lukas getauft worden war. Noch voller Unschuld und mit Liebe überschüttet. Wo hatte er sich im Moment verkrochen? Spürte er Triumph oder Ekel vor sich selbst? Und irgendwo dort unten war auch Nina.
Da ihm das Telefonat mit Annas Vater noch mehr Unbehagen bereitete, wählte er zunächst ihre Nummer. Nina musste das Telefon in der Hand gehalten haben, denn sie meldete sich sofort.
»Gut, dass du zurückrufst!«
»Nach deiner Nachricht … ist doch klar. Was hat man dir gegeben?«
»Einen Briefumschlag. Vorhin, als ich aus dem Hotel rausging.«
Hannes lehnte sich gegen die Wand des Abluftschachtes. »Wer?«
»Ein kleiner Junge. Er fragte, ob ich Johannes Niehaus kenne. Ich sagte: ›Ja, klar. Woher kennst du ihn?‹«
»Und woher kennt er mich?«
»Er kennt dich nicht. Aber ein Lukas soll dich kennen. Und der hat dem Jungen zehn Euro gezahlt, damit er mir diesen Brief für dich gibt. Verstehst du das?«
Zu mehr als zu einem krächzenden Laut war Hannes nicht in der Lage.
»Es wird noch merkwürdiger«, fuhr Nina fort. »Lukas hat dem Jungen ein Foto von mir gezeigt, damit er weiß, wem er den Umschlag geben muss. So wie der Kleine das Foto beschrieben hat, sind wir beide darauf zu sehen gewesen. In dem Café, in dem wir uns am Montag getroffen haben.«
Hannes ließ sich in die Hocke gleiten. Lukas hatte ihn überwacht! So hatte er wahrscheinlich auch von Annas Versteck bei Elke erfahren. Ihm wurde klar, was das bedeutete: Auch Nina musste ab sofort als gefährdete Person eingestuft werden. Im ersten Schritt wollte Lukas sie aber offenbar als Botin einsetzen. Hannes schlug mit der Hand heftig gegen die Wand, und der Schmerz brachte ihn wieder zu sich. Er durfte sich jetzt nicht gehen lassen!
»Hast du den Umschlag geöffnet?«, fragte er.
»Natürlich nicht, steht ja dein Name drauf. Hat das … meinst du, das hat was mit der Jagd auf dich zu tun?«
»Womit sonst?«
»Also jagt dich dieser Lukas?«
»Nach ihm wird öffentlich gefahndet. Sein Foto hängt an fast jeder Straßenecke.«
»Scheiße!«, entfuhr es ihr. »Klar hab ich davon gehört, hab es aber nicht miteinander in Verbindung gebracht, als der Junge den Namen erwähnte.«
»Egal, hätte eh keinen Unterschied gemacht. Beschreib mir den Umschlag.«
»Da ist nichts Besonderes. Weiß und darauf mit Kugelschreiber dein Name.«
»Ist er flach oder … gewölbt?«
»Flach. Denkst du, dass es … eine Briefbombe ist?«
Hannes hatte eher an einen weiteren von Federsens Fingern gedacht, aber Ninas Befürchtung war auch nicht unbegründet. Andererseits glaubte er es nicht. Lukas wollte ihn nicht einfach so ermorden oder verletzen, er hatte etwas anderes vor. Dass er diesmal den Umweg über Nina gegangen war, anstatt erneut eine Nachricht an einem Polizeiwagen zu hinterlassen, konnte zweierlei bedeuten: Er spürte, dass es eng wurde – oder die Botschaft sollte nur Hannes lesen. Vielleicht auch beides.
»Nina, wo bist du jetzt?«
»Auf meinem Zimmer. Hotel Kliffkante . Kennst du das?«
»Ja.« Kurz kamen Bilder in ihm hoch, von einem Fall, in dem eine der beteiligten Personen dort gewohnt hatte, bevor sie ermordet worden war. Alles schien ein Kreislauf zu sein. Er hatte es so satt. »Bleib, wo du bist! Ich komme zu dir. Und lass den Briefumschlag verschlossen, hörst du!«
»Alles klar, bis gleich.«
Am liebsten hätte Hannes das Handy vom Dach geworfen und ihm hinterhergebrüllt. Dass er damit seine Probleme nicht loswurde, war ihm aber doch noch bewusst. Die Wut war zurück, und das war gut. Allerdings durfte sie nicht zu blinder Raserei führen, sondern musste konstruktiv eingesetzt werden. Wie das funktionieren sollte, darüber würde er sich in den nächsten Stunden den Kopf zerbrechen müssen. Auf jeden Fall wollte er nicht länger nur reagieren und der Getriebene sein. Er wollte – nein, er musste jetzt aktiv ins Geschehen eingreifen. Die Situation war inzwischen so sehr eskaliert, dass er zum Äußersten bereit war. Zunächst lagen aber noch drei andere, nicht minder wichtige Aufgaben vor ihm: Er atmete ein paar Mal tief durch, dann wählte er die Nummer von Annas Vater, bevor er noch einmal nach seiner Freundin sehen und dann zu Nina aufbrechen würde.