KAPITEL 13
Auch Ben war die Erschütterung über den Angriff auf Anna anzusehen. Den Nachmittag hatte er an der Seite seines Freundes im Krankenhaus verbracht, nachdem Hannes dort nach seinem Abstecher zum Hotel Kliffkante wieder eingetroffen war. Anderthalb Stunden später waren dann Annas Vater und ihr Bruder angekommen, beide hatten sich sofort ins Auto gesetzt, als Hannes sie über den Vorfall informiert hatte. Seine Vorahnung, dass er nicht nur als Überbringer der Hiobsbotschaft, sondern zudem als ursprünglicher Auslöser des Unglücks eingeschätzt wurde, schien sich zu bewahrheiten. Zwar hatte Annas Vater keine Vorwürfe ausgesprochen, seine immer wiederkehrenden Hinweise auf die fragwürdigen Lebensbedingungen eines Mordermittlers legten aber nahe, dass er sich einen Schwiegersohn mit einem weniger riskanten Beruf gewünscht hätte.
Daran hatte auch die Erleichterung nichts ändern können, als Anna endlich aufgewacht war und die Ärzte nach einer weiteren Untersuchung spürbar entspannter als noch am Mittag auftraten. Der Heilungsprozess werde nicht von heute auf morgen über die Bühne gehen, besorgniserregende Verletzungen lägen aber nicht vor. Einige Tage musste Anna noch im Krankenhaus bleiben, eine Bewachung war bereits organisiert worden.
Sie selbst erinnerte sich nur dunkel an den Stoß vor den Bus. Angaben zum Tathergang konnte sie somit keine machen, lediglich das bestürzte Gesicht der Busfahrerin hatte sich in ihr eingebrannt. Zeugenaussagen gab es aber zur Genüge, sodass Hannes nicht lange nachgebohrt hatte. Stattdessen war er bemüht gewesen, die Verstimmung zwischen ihnen vollständig aus der Welt zu räumen. Über seine Erlebnisse in der vergangenen Nacht verlor er weiter kein Wort, ebenso wenig über den Briefumschlag, den Nina erhalten hatte, und erst recht nicht über sein abendliches Vorhaben, das er sich nach stundenlangem Entwickeln und Verwerfen von Handlungsoptionen im Laufe des Nachmittags zurechtgelegt hatte. Die blinde Wut war dabei allmählich kaltem Zorn gewichen, was seiner Entschlusskraft aber nicht abträglich gewesen war.
Annas Reaktion auf das Ergebnis seiner Überlegungen wäre vermutlich mit der von Ben vergleichbar gewesen, der Hannes schließlich mit zu sich genommen und ihm eine Portion Nudeln gekocht hatte. Fassungslos starrte er seinen Freund an und tippte sich gegen die Stirn.
»Bist du vollkommen übergeschnappt? Nicht nur, dass du diesen Brief vor deinen Kollegen verheimlichst, du willst dich sogar auf Lukas’ Forderung einlassen?«
Hannes stocherte in den Pestonudeln herum und fischte einen Pinienkern heraus. »Was bleibt mir anderes übrig? Ich hab in den letzten Stunden immer wieder darüber nachgedacht, aber mir fällt keine andere Lösung ein. Außerdem habe ich einen Plan. Eine neue Strategie, um diesen Scheißkerl endlich zu stoppen. Ich werde zwar seine Forderung erfüllen, ihn dadurch aber gleichzeitig ans Licht zerren. Und zwar, ohne dass er Verdacht schöpft. Denn wenn wir so weitermachen wie bisher, wird es ewig so weitergehen! Lukas wird nicht aufgeben, bis er mich in seiner Gewalt hat.«
»Und du solltest nicht damit aufhören, genau das vermeiden zu wollen!«
»Von wollen ist schon lange keine Rede mehr. Im Moment muss ich verhindern, dass noch jemand zu Schaden kommt. Genau das wird aber passieren, wenn Lukas heute Abend zum dritten Mal enttäuscht wird. Die Uhr tickt, Ben! Wer weiß, was Federsen gerade durchleiden muss. Ob er überhaupt noch lebt! Oder wen Lukas als nächstes Opfer im Visier hat. Meine Mutter, meine Schwester oder …«
Er brach ab und deutete auf den Zettel, den er erst aus dem Briefumschlag gezogen hatte, als er Nina schon wieder verlassen hatte. Das Aufeinandertreffen war kurz gewesen, sie hatte ihm nicht viel mehr als schon am Telefon sagen können. Von den neuesten Entwicklungen hatte er nur das Notwendigste erwähnt, um ihr zu verdeutlichen, dass sie ebenfalls in Gefahr schwebte. So wie eigentlich jeder, dem Lukas eine persönliche Nähe zu Hannes unterstellen konnte. Den wahren Grund, weshalb sie ab sofort Personenschutz erhalten musste, hatte er seinen Kollegen nicht genannt und auch Nina gebeten, Stillschweigen über den Briefumschlag zu bewahren. Sein Hinweis gegenüber Steffen Lauer, dass Lukas ihn vermutlich mit seiner Exfreundin beobachtet hatte, war ohnehin ausreichend gewesen, um seinem Ersuchen stattzugeben. Hannes hoffte nun, dass die Sicherheitsleute ihren Dienst zuverlässiger versehen würden als die beiden Männer, die auf Anna hatten aufpassen sollen.
Für sich selbst hatte Hannes allerdings darauf bestanden, den Schutz auf Bens Gartenhaus zu reduzieren. Clarissa war sofort misstrauisch geworden, den tatsächlichen Hintergrund dürfte sie allerdings kaum erahnen. Hannes hoffte, dass man nun keinen verdeckten Personenschutz für ihn organisierte, nervös las er Lukas’ Botschaft ein weiteres Mal durch.
Du wolltest es ja nicht anders, aber ein weiteres Mal solltest du meine Regeln nicht brechen. Wenn dir schon nichts an deinem Chef liegt, solltest du dich zumindest um deine Freundin sorgen. Genauso um deine Familie und Freunde. Es wird immer den einen Moment geben, in dem ich zuschlagen kann. Bei deiner Freundin kam er schneller als erwartet. Erster Versuch, und gleich ein Treffer! Du hast noch eine letzte Möglichkeit, um eine weitere Eskalation zu vermeiden: Komm heute um 19 Uhr ins Parkhaus am Bahnhof. Allein! 1. Untergeschoss, Stellplatz 8. Dort findest du den nächsten Hinweis. Du kennst das Spiel ja schon.
Hannes wusste, was das bedeutete. Noch eine Schnitzeljagd. Von Station zu Station wollte Lukas dafür sorgen, dass Hannes tatsächlich ohne Begleitung war und dass niemand wusste, wo er sich aufhielt. Ob er diesmal mit dem Zug fahren und an irgendeinem abgelegenen Regionalbahnhof seine Kleidung in eine Mülltonne stopfen sollte? Irgendetwas in der Art würde wohl kommen. Was auch immer Lukas sich ausgedacht hatte, eine unauffällige Überwachung durch Kollegen war gewiss nicht möglich.
Genau das bereitete Ben die größten Sorgen. »Der kann dich sonst wohin lotsen. Willst du sehenden Auges in den Tod gehen?«
»Natürlich nicht. Aber ich will … nein, ich muss ihn treffen.«
»Und wenn er dich wieder Gift saufen lassen will?«
»Es war ein Betäubungsmittel.«
»Von mir aus. Was machst du dann?«
»Ich trinke es.«
Ben schüttelte so heftig den Kopf, dass die Dreadlocks hin und her flogen. »Dann nimmt er dir Handy und Waffe weg, und niemand weiß, wo du steckst. Toller Plan! Damit hilfst du niemandem.«
»Doch, tue ich. Wenn er mich erst mal hat, gibt es keinen Grund mehr, sich an Anna, meiner Familie oder anderen, wie zum Beispiel dir, zu vergreifen.«
»Du willst dich also opfern, um zum Beispiel mich zu schützen?«
»Opfern will ich mich nicht. Natürlich hab ich eine Absicherung dabei. Einen Peilsender.«
»Den wird er dir abnehmen.«
»Das wird nicht möglich sein.« Hannes zog einen Gegenstand hervor und legte ihn auf den Gartentisch. Er war nicht größer als eine Euromünze. »Hab ich einem unserer Techniker abgeschwatzt. Angeblich, um vorbereitet zu sein, falls mir ein Fahrzeug auffällt, mit dem Lukas sich fortbewegen könnte.«
»Das Ding ist zwar winzig, aber nicht unsichtbar.«
»Deshalb werde ich es runterschlucken. Ich hab doch gesagt, dass ich mir in den letzten Stunden alles genau überlegt habe.«
Ben stöhnte und tippte sich an die Stirn. »Sag mal, hast du heimlich von meinem Gras genascht? Ich war heute Nachmittag schon misstrauisch. Du hast kaum was wahrgenommen, sondern nur vor dich hin gegrübelt. Ich hab’s auf die Gesamtsituation geschoben und dich in Ruhe gelassen. Wär ich mal lieber aufdringlicher gewesen! Aber dass so was dabei rauskommt, hab ich nicht für möglich gehalten.«
»Was stört dich an der Idee?«
»Alles. Mich überzeugt das nicht. Klingt nach einem Himmelfahrtskommando. Kann sich dieses Teil in deinem Magen nicht auflösen?«
»Keine Sorge, ich hab mir schon das geeignete Modell rausgesucht.«
»Und das Signal ist selbst durch den Magen und die Muskeln empfangbar? Das kann doch alles nicht gesund sein!«
Hannes zuckte mit den Schultern. »Gesünder jedenfalls, als draufzugehen. Wusstest du, dass der Verdauungstrakt bis zu neun Meter lang ist? Je nachdem, was da durch muss, dauert es zwischen zweieinhalb und fünf Tagen. Genug Zeit, um eine Situation zu schaffen, in der man Lukas überwältigen und mich befreien kann. Und Federsen auch.«
»Du meinst, er bringt dich zu ihm?«
»Lukas muss das perfekte Versteck gefunden haben, und er will uns beide. Warum sollte er uns an unterschiedlichen Orten unterbringen? Erhöht nur das Risiko, entdeckt zu werden.«
Ben sah auf die Uhr. »Es ist schon Viertel nach sechs. Am liebsten würde ich dich niederschlagen, um dich davon abzuhalten. Dummerweise habe ich gegen deine Muskeln keine Chance. Soll nicht wenigstens ich dir unauffällig folgen?«
»Weil du so ein unauffälliger Typ bist?«
Hannes war selbst überrascht, dass ihm ein echtes Lächeln gelang. Er war erfüllt von Tatendrang, endlich nahm er das Heft in die Hand. Die möglichen negativen Folgen blendete er aus, die konnte er im Moment sowieso nicht beeinflussen. Er befand sich in einem absurd euphorischen Zustand, wenn man bedachte, dass er eine Reise ins Ungewisse anzutreten gedachte.
Er schob Ben einen Zettel zu. »Du kannst mir auf eine andere Art helfen. Ich gehe davon aus, dass mich Lukas zwei bis drei Stunden lang von einer Station zur nächsten schicken wird. Wahrscheinlich, bis es dunkel wird. War beim letzten Mal auch so. Ruf Isabell um halb zehn an. Nein, besser um elf. Sag ihr, was passiert ist. Gib ihr diese Nummer, dann weiß sie, welcher Peilsender in mir steckt.«
Ben nickte mit verbissener Miene und griff nach dem Gerät. »Dürfte spaßig werden, das Ding wieder rauszupressen.«
»Ich hab eher vor dem Hinunterwürgen Sorge.« Hannes füllte sein Glas mit Wasser auf und streckte verlangend die Hand aus.
»Es ist dein Magen.« Ben kapitulierte endgültig. »Du siehst mit deinen Schrammen nicht nur äußerlich so aus, als wärst du einem Werwolf in die Klauen geraten. Irgendein Dämon muss auch deinen Verstand angenagt haben.«
»Ich fühle mich so klar im Kopf wie seit Tagen nicht mehr. Und ich will einfach nicht länger eine passive Rolle einnehmen! Kannst du das nicht verstehen?«
»Hm … vielleicht … aber verrückt ist es trotzdem! Und lebensmüde! Informiere wenigstens deine Kollegen!«
»Dann geht’s wieder schief.« Hannes schüttelte den Kopf. »Die würden mich im Leben nicht ohne Rückendeckung gehen lassen, da bin ich mir sicher. Und wenn Lukas das mitkriegt, dann war’s das.«
Ben gab sich noch immer nicht geschlagen. »Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben! Eine, die nicht so gefährlich ist.«
»Wenn dir in den nächsten fünf Minuten eine einfällt, bin ich ganz Ohr. Ansonsten ziehe ich das jetzt durch.«
Hannes nahm den Peilsender in den Mund und ein Glas Wasser zur Hand. Mit der Zunge befühlte er den Gegenstand, der auf einmal viel größer wirkte. Plötzlich dachte er, dass Ben vielleicht gar nicht so falsch lag und er dem Wahnsinn verfallen sein musste. Bevor er zu viel nachdenken konnte, kniff er die Augen zusammen, schob den Sender weiter nach hinten, nippte am Wasser und schluckte. Das Wasser verschwand, nicht aber der Sender. Er versuchte es erneut, wieder ohne Erfolg.
Ben beobachtete die Bemühungen mit verschränkten Armen. »Vielleicht solltest du dir den Sender lieber hinten reinschieben, wär das nicht die einfachere Variante? Ich seh auch weg.«
»Nein, ich muss sicher sein, dass er lange genug in mir bleibt. Hast du was Zähflüssigeres als Wasser?«
Ben hob ergeben die Hände zum Himmel, stand aber auf und verschwand im Haus. Hannes hörte ihn in der Küche herumkramen, dann erschien er mit einem Glas, in dem sich eine weiße Flüssigkeit befand.
»Milch mit Mehl vermischt«, erklärte Ben. »Was anderes fällt mir nicht ein.«
»Könnte hinhauen.«
Hannes sah zu den Personenschützern, die jedoch gerade in die andere Richtung blickten. Schnell schob er sich den Peilsender wieder in den Mund und kippte das breiartige Gemisch hinterher. Diesmal klappte es schon im ersten Anlauf. Allerdings fühlte es sich an, als würde sich der eckige Gegenstand wie in Zeitlupe durch die Speiseröhre nach unten bewegen. Hannes griff zum Wasserglas und trank es in einem Zug leer. Er spürte in sich hinein. Alles war so, wie es sein sollte. Der Magen rebellierte nicht – oder nur noch nicht?
Er stand auf. »Ich muss los, kann ich dein Rad nehmen?«
»Lehnt am Gartenzaun. Tja, dann kann ich dir wohl nur Glück wünschen und … ach scheiß drauf.« Er umrundete den Tisch und drückte Hannes fest an sich. »Geh bloß nicht drauf!«, murmelte er an Hannes’ Ohr. »Und wenn alles gut ausgeht, erzähl Anna auf keinen Fall, dass ich dich nicht aufgehalten habe.«
»Am besten wäre es, wenn Anna überhaupt nichts davon erfährt.« Hannes löste sich aus der Umarmung. »Danke dir und … Ben, ruf Isabell keine Minute früher als elf Uhr an! Sonst könntest du mich erst recht in Lebensgefahr bringen.«
»Hab’s kapiert.« Ben nickte. Dann drehte er sich abrupt um und ging ins Haus.
Gerührt sah Hannes ihm hinterher – und fragte sich, ob er Ben wiedersehen würde. Oder Anna. Gerade rechtzeitig, bevor die Angst vollständig erwachen konnte, trat einer der Personenschützer zu ihm.
»Alles in Ordnung?«
»Was? Äh … ja. Mein Kumpel hat nur Liebeskummer, das ist alles. Haben Sie ein Auge auf ihn, ich muss nämlich noch mal weg.«
»Sicher, dass Sie allein …«
»Ja, ganz sicher.«
Ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen, ließ er den Mann stehen und ging zum Gartentor. Bens Fahrrad hatte keine Gangschaltung, und bei jedem Tritt quietschte das linke Pedal. Schon nach fünf Minuten bereute es Hannes, nicht mit dem Auto losgefahren zu sein. Andererseits tat ihm die körperliche Aktivität gut, auch wenn die Schnittwunden und Kratzer nun noch mehr zu jucken schienen. Er versuchte, weder an Anna noch an Federsen oder die nächsten Stunden zu denken. Erfolglos. In Bens Anwesenheit war er noch voller Selbstsicherheit gewesen, jetzt keimte ein Gefühl von Verlorenheit auf. Er tauchte so tief darin ein, dass er sogar vergaß, auf die Zeit zu achten. Erst als er vor dem Parkhaus beim Hauptbahnhof angekommen war und auf die Uhr sah, zuckte er erschrocken zusammen.
Es war fünf nach sieben, eine Verspätung war ein schlechter Auftakt. Allerdings erwartete ihn ohnehin sicher nicht Lukas in dieser belebten Gegend, sondern eher ein weiterer Briefumschlag. Diese Vermutung half Hannes, den Drang, doch wieder umzudrehen, niederzukämpfen. Er lehnte das Fahrrad gegen eine Wand und trabte eine schmale Rampe ins erste Untergeschoss hinunter. Ein Auto kam ihm entgegen, und der Fahrer gestikulierte wild, wahrscheinlich wollte er darauf aufmerksam machen, dass es für Fußgänger einen anderen Zugang gab.
Hannes ignorierte ihn. Auf der Parkebene angekommen, orientierte er sich. Noch war er entspannt. Einige Menschen gingen zu ihren Fahrzeugen, um diese Uhrzeit kamen Pendler am Bahnhof an, außerdem befanden sich Geschäfte in der Nähe. Den Stellplatz mit der Nummer acht fand er im vorderen Teil, nahe an der Ausfahrt. Der Transporter eines Handwerksbetriebs stand darauf, dem Kennzeichen nach aus Frankfurt. Hannes blieb davor stehen und dachte nach.
An dem Fahrzeug dürfte Lukas nichts befestigt haben, zu groß wäre die Gefahr, dass es wegbewegt wurde. Er bückte sich und sah prüfend unter den Boden. Dort lag nichts, hinter den Scheibenwischern klemmte ebenfalls nichts, und auch auf den Vorderreifen konnte er keinen Hinweis entdecken. Er überprüfte die linke Seite des Transporters, dann ging er zum Heck. Doch auch dort fiel ihm nichts auf. Genau in dem Moment, in dem er sich fragte, ob Lukas ihn auf eine falsche Fährte gelockt hatte, um andernorts aktiv zu werden, spürte er einen Stich im Nacken. Erschrocken drehte er sich um, aber niemand stand hinter ihm. Dann sackte er zusammen.
Auf der Straße vor dem Präsidium waren längst die Straßenlaternen angegangen, und das Neonlicht des Konferenzraums sorgte dafür, dass die Ermittler ihre müden Gesichter in den Scheiben wie in einem Spiegel erkennen konnten. Am frustriertesten wirkten Clarissa und Marcel, beide waren für die Fahndung nach Lukas zuständig gewesen. Nach dem Angriff auf Anna war er in der Menge untergetaucht und noch von drei Überwachungskameras erfasst worden, bevor er von der Bildfläche verschwunden war. Das gesamte Stadtviertel war nach ihm abgesucht worden, aber bis der Ring an Einsatzkräften geschlossen gewesen war, musste er sich bereits außerhalb dieses Bereichs befunden haben.
Auch die Gegend, in der man Federsens Wagen gefunden hatte, war gründlich durchkämmt worden, ohne dass es weitere Hinweise auf die Gesuchten gegeben hätte. Vermutlich führte Lukas sie mal wieder an der Nase herum und sorgte für eine Vergeudung von Ressourcen.
Isabells und Pers Tag war dagegen erfolgreicher verlaufen. Gerade präsentierten sie die letzte Fassung eines Videoappells, der noch in derselben Nacht veröffentlicht werden sollte. Es war nicht schwer gewesen, die vereinzelten ehemaligen Freunde von Lukas zu mobilisieren. Keiner von ihnen hatte über schauspielerisches Talent verfügen müssen. Der Schock über das Geschehen stand allen offen ins Gesicht geschrieben. Am eindringlichsten und tränenreichsten war der Auftritt seiner besten Freundin gewesen, zu der er nach dem Tod seiner Eltern den Kontakt abgebrochen hatte. Seine Vereinskameraden hatten ihn auch schon länger nicht zu Gesicht bekommen, die Hockeymannschaft war aber fast geschlossen angetreten, um an sein Gewissen zu appellieren.
Lediglich ein Jugendlicher hatte sich verweigert, und das aus einem nachvollziehbaren Grund. Lukas schien schon einmal eine gewalttätige Phase durchlebt zu haben, wenn diese auch von der Intensität her nicht vergleichbar mit der aktuellen war. Vor zwei Jahren war er nach einem Spiel mit dem Hockeyschläger auf seinen Teamkameraden losgegangen, was mit einer gebrochenen Nase geendet hatte. Auslöser war eine spöttische Bemerkung über seine Eltern gewesen, die sich für alle sichtbar am Spielfeldrand gezankt hatten. Auch andere Jugendliche bestätigten, dass sich Lukas zu dieser Zeit schlecht im Griff gehabt hatte und es immer wieder zu Raufereien gekommen war. Gerüchten zufolge hätten seine Eltern damals kurz vor der Trennung gestanden. Dass die gebrochene Nase nicht zur Anzeige gebracht worden war, hatten die Eltern des Betroffenen mit einer gütlichen außergerichtlichen Einigung begründet. Lukas’ Vater hatte fünftausend Euro angeboten und sich auf zehntausend Euro hochhandeln lassen.
Betrachtete man diese Berichte im Zusammenhang mit seinen Tierquälereien als Sechsjähriger, so zeigte sich, dass ein emotionaler Ausnahmezustand sein Gewaltpotenzial zu wecken imstande war. Als Kind war es vielleicht der Tod seiner Oma gewesen, an der er, Erzählungen zufolge, sehr gehangen hatte, und die damals an einer Lungenentzündung gestorben war. Als Teenager hatte ihn die Angst vor einer Trennung der Eltern Gleichaltrige angreifen lassen, während er davor und danach eher introvertiert aufgetreten war. Zu welchen Taten ihn dann erst der gewaltsame Tod seiner Eltern animierte, konnte man nicht nur ahnen, sondern seit mehreren Tagen hautnah verfolgen. Dass er sich von der Videobotschaft aus seinem Wahn herausreißen ließe, erschien Isabell daher zunehmend als unerreichbare Wunschvorstellung.
Neben dem Jugendlichen hatte sich auch Frau Federsen außerstande gesehen, vor die Kamera zu treten. Zwar hatte sie es versucht, war aber immer wieder von einem Weinkrampf geschüttelt worden, sodass Isabell diesen Versuch schließlich abgebrochen hatte. Stattdessen gab Steffen Lauer noch ein Statement ab, in dem er darlegte, welche Verdienste sich Federsen und Hannes erworben hatten, wie viele Menschenleben sie gerettet hatten und dass sich beide bei dem Tod von Lukas’ Eltern keinerlei Versäumnisse hatten zuschulden kommen lassen. Das Video war am Ende fünf Minuten lang und sollte auf Webseiten von Verlagen, Radiosendern, Fernsehstationen und in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden.
»Wenn das nichts bringt, ist Lukas für mich endgültig eine verlorene Seele«, stellte Clarissa fest, als der Film geendet hatte. Auf sie, die üblicherweise kühl und unnahbar wirkte, hatten die Appelle ihre Wirkung jedenfalls nicht verfehlt. Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch. »Ich hab zuerst gar nichts von dieser Idee gehalten, aber jetzt denke ich, dass ihn das Video aufrütteln könnte. Sofern er es sieht.«
»Das haben wir nicht in der Hand.« Steffen Lauer zwirbelte an seinem Schnurrbart. »Wohl aber, dass niemand mehr zu Schaden kommt. Stehen alle Verwandten und Freunde von Herrn Niehaus unter Schutz?«
»Ja.« Clarissa steckte das Taschentuch weg. »Bis auf Hannes selbst. Der akzeptiert nur nachts eine Überwachung.«
»Dann kann ihm zumindest bis morgen früh nichts passieren.«
»Dummerweise ist er aber nicht im Bett, sondern treibt sich irgendwo herum.«
Lauers Fingerbewegungen gerieten ins Stocken. »Was heißt das?«
»Er hat das Grundstück seines Freundes ungefähr um halb sieben verlassen. Mit dessen Fahrrad. Bisher ist er nicht zurückgekommen.«
»Wo wollte er hin?«
»Das weiß niemand. Noch nicht mal sein Freund.«
»Verdammt!« Lauers Faust hämmerte auf den Tisch. »Was denkt sich dieser … Haben Sie versucht, ihn anzurufen?«
»Natürlich. Mailbox. Ich hab sogar schon sein Handy orten lassen. Hat aber nicht geklappt.«
Nun wurden auch die anderen unruhig und tauschten Vermutungen aus, während Isabells Smartphone klingelte. Ihre Worte gingen in der allgemeinen Geräuschkulisse unter, bis sie das Gespräch beendete. Marcel fiel als Erstes auf, dass sie stumm und kreidebleich dasaß. Er hob die Hand und sorgte damit für Ruhe.
»Es gibt eine Erklärung, warum wir Hannes nicht erreichen können.« Isabells Stimme war fast ein Flüstern. »Wahrscheinlich liegt er gerade neben Federsen.«
»Was?« Lauer sprang auf. »Wer hat Sie eben angerufen?«
»Ben, der Kumpel, bei dem Hannes gerade wohnt. Eigentlich sollte er erst um elf anrufen, er hielt es aber nicht mehr aus.«
»Lukas hat ihm gesagt, dass er uns um elf anrufen soll?«
»Nein, Hannes.« Erst stockend, dann immer flüssiger fasste sie zusammen, was ihr Ben soeben gebeichtet hatte. Anschließend herrschte bestürztes Schweigen. Clarissa fing sich als Erste.
»Der Peilsender muss sofort geortet werden!«, rief sie und erhob sich.
Isabell streckte ihr einen Zettel hin. »Das ist die Nummer. Sie wird unseren Technikern bekannt sein.«
»Derjenige, der Hannes das Ding gegeben hat, wird sich warm anziehen müssen«, kündigte Clarissa an und stürmte aus dem Raum.
»Hannes muss übergeschnappt sein.« Marcel trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Er kramte ein Taschentuch hervor und hielt es sich unter die Nase. Es färbte sich rot. »Das war alles zu viel für ihn, wir hätten ihn vor sich selbst schützen müssen.«
»Wer ahnt denn so was?«, knurrte ihn Lauer an. »Der Kerl hatte zu viel Umgang mit Fritz, ich hätte da doch besser einschreiten sollen.«
»Was meinst du damit?«
»Tut nichts zur Sache«, wiegelte Lauer ab. Dann herrschte wieder Schweigen, alle warteten auf Clarissas Rückkehr.
»Versuchen wir es positiv zu sehen«, sagte der Leiter der Mordkommission schließlich. »Wenn der Plan aufgegangen ist, wissen wir gleich, wo er, Henning und Lukas zu finden sind.«
»Trotzdem kann es dann in dieser Nacht weitere Tote geben«, wandte Isabell ein.
»Wenn es einen erwischt, dann nur Lukas. Wir werden bei der Operation nichts riskieren. Ich informiere schon mal das Spezialeinsatzkommando …«
»Das können Sie sich sparen.« Unbemerkt war die Tür wieder geöffnet worden. Clarissa kam näher. »Der Sender sendet nicht. Zumindest empfangen wir nichts.«
»Kann er kaputt sein?«
»Nein, laut dem Techniker nicht. Er hat das Teil noch überprüft, bevor er es Hannes gegeben hat. Der Typ war Hannes noch einen Gefallen schuldig, sitzt jetzt aber richtig in der Scheiße.«
»Nicht nur er«, murmelte Lauer. Er war wieder auf seinen Stuhl gesunken. »Nicht nur er.«
Das Erste, was Hannes wahrnahm, war der Gestank. Eine atemberaubende Mischung, die ihren Ursprung eindeutig in Körperausscheidungen verschiedenster Form hatte. Dann drang ein Schnaufen an sein Ohr, dicht neben ihm. Er drehte seinen Kopf in Richtung des Geräuschs und öffnete die Augen. Schlagartig fiel ihm alles wieder ein. Anna im Krankenhaus, der Brief von Lukas, die Diskussion mit Ben, der Stich im Genick. Er fühlte sich benommen, aber unversehrt. Selbst das Jucken der Schürfwunden schien aufgehört zu haben. Sein Mut zum Risiko war also belohnt worden – oder er würde dafür erst noch bitter bezahlen müssen.
Zumindest bewies der Blick auf Federsens graue Bartstoppeln, dass Lukas sie tatsächlich zusammengeführt hatte. Dass sein Chef noch lebte, stand außer Frage. Die vorstehenden Augen blickten zur Decke hinauf, dann und wann blinzelte er. Offenbar hatte er noch nicht bemerkt, dass sein Mitarbeiter wieder zu sich gekommen war. Hannes nutzte diesen Moment, um seine Gedanken zu sammeln.
Er war betäubt worden, aber davon war er ohnehin ausgegangen. Wie und womit, spielte keine Rolle. Dass es allerdings in der Tiefgarage passiert war, überraschte ihn. Sicher, hinter dem Transporter war er vor den Blicken anderer Menschen abgeschirmt gewesen. Ein Risiko war Lukas dennoch eingegangen, was nicht zu seiner bisherigen Vorgehensweise passte. Begann er endlich, Fehler zu machen? Hannes hoffte es. In Bezug auf seine Gefangenen ging er allerdings auf Nummer sicher. Hannes spürte, dass er nackt war – wenn Lukas gewusst hätte, dass er einen Sender in sich und nicht an der Kleidung trug, hätte er sich die Mühe sparen können.
Seine Füße waren an den Knöcheln zusammengebunden, und als Hannes die nach oben gestreckten Arme bewegen wollte, bemerkte er, dass sie mit Handschellen an ein Bettgestell fixiert waren. Das Klirren der Kettenglieder ließ Federsen den Kopf drehen. Auch er verfügte nur über einen eingeschränkten Bewegungsspielraum, war im Gegensatz zu Hannes aber bekleidet. Vielleicht zehn Zentimeter trennten die beiden Gesichter, stumm sahen sie sich in die Augen.
Nur im ersten Moment fühlte sich Hannes befangen, weil er nackt neben seinem Chef auf einer fleckigen und stinkenden Matratze lag. Was er an dessen rot geäderten Augen ablesen konnte, zeigte ihm, dass es überhaupt keine Rolle spielte. Federsen hatte ihm gegenüber nie Schwäche gezeigt, heute konnte er Verzweiflung, Angst und Resignation erkennen. Und einen verächtlichen Zug, der ihn irritierte. Aber was wusste er schon, was Federsen in den letzten Tagen widerfahren war? Von dem Daumen abgesehen, konnte Lukas sich auch auf andere Weise an ihm ausgetobt haben. Hannes vermied es, den Blick zu dem fehlenden Finger gleiten zu lassen.
Es war Federsen, der das Schweigen brach, dabei aber wegsah. »Hätte nicht gedacht, Sie noch mal zu treffen.«
»Wir haben alles darangesetzt, Sie zu finden.«
»Kam mir nicht so vor. Wie schwer kann es sein, einen Siebzehnjährigen zu schnappen?«
»Dass dieser Siebzehnjährige nicht ohne ist, zeigt Ihre Anwesenheit auf dieser Matratze«, konterte Hannes.
»Ich sollte hier gar nicht liegen, sondern nur Sie. Ich bin Lukas lediglich in die Quere gekommen.«
»Behauptet er das?«
»Das behauptet er nicht nur«, presste Federsen hervor, »das liegt auch auf der Hand. Er hatte es von Anfang an auf Sie abgesehen, und …«
»Ich bin doch jetzt hier.«
»Und was hilft mir das? Sie sind genauso ans Bett gebunden wie ich. Wo sind wir überhaupt?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Also bringt mir Ihre Anwesenheit gar nichts. Verdammt noch mal!«, schrie er plötzlich los. »Der Kerl hat euch einen meiner Finger geschickt, und ihr habt nichts getan!«
In Hannes’ Körper kehrte das Gefühl zurück, zugleich meldeten sich auch wieder die zahlreichen Wunden. Gedankenverloren rieb er mit der Wange an einer besonders unangenehmen Stelle auf der Schulter. Federsens mentaler Zustand war labil, das war verständlich. Offenbar hatte Lukas ihm aber zusätzlich eine Sicht auf die Dinge eingeträufelt, die mit der Realität nicht übereinstimmte. Seine Verrenkungen, um den Juckreiz zu lindern, veranlassten Federsen erstmals zu einer genaueren Musterung.
»Hat Lukas Sie mit einer Rasierklinge bearbeitet?«
»Nicht ganz.« Hannes holte tief Luft. »Ich sollte Ihnen wohl besser erzählen, was in den letzten Tagen wirklich abgelaufen ist.«
»Von mir aus.« Federsen drehte sich halb zu ihm. »Aber reden Sie leiser, verdammt noch mal!«
»Wieso?« Hannes sah sich aufmerksam um. »Werden wir abgehört?«
»Das weiß ich nicht, aber wenn ich Lukas wäre, hätte ich hier etwas platziert. Zum Beispiel unterm Bett.«
Hannes nickte. »Sie haben recht. Er geht äußerst planvoll vor.« Soweit es seine Fixierung erlaubte, rückte er dichter an Federsen heran, der seinerseits die Bemühungen um eine Distanzverringerung mittels einer Körperverrenkung unterstützte. Als sich sein Ohr dicht an Hannes’ Mund befand, setzte ihn dieser wispernd über die Ereignisse der letzten Tage in Kenntnis. Je länger Hannes’ Zusammenfassung dauerte, umso stärker veränderte sich Federsens Gesichtsausdruck. Er unterbrach seinen Kollegen nicht, erteilte ihm anschließend aber auch keine Absolution.
»Hm. Schön und gut«, flüsterte er. »Erfolg hatten Sie trotzdem nicht. Sonst würden Sie jetzt nicht nackt neben mir liegen.«
Hannes wusste, dass Federsen eine Weile benötigen würde, um seine Ausdrucksweise nicht länger von der Fehleinschätzung der Situation bestimmen zu lassen. Er registrierte aber erleichtert, dass sein Chef Stück für Stück wieder er selbst wurde. Der verwirrte, ja fast schon wahnsinnige Ausdruck in dessen Augen verflüchtigte sich, und er begann wieder nach vorn zu blicken.
»Wenn Sie sich ohne Rückendeckung Ihrer Kollegen Lukas zum Fraß vorgeworfen haben, weiß dann wenigstens irgendjemand, was passiert ist?«
»Ja, ein Freund von mir, der das Team informieren soll.«
»Was aber nichts hilft, da keiner eine Ahnung hat, wo wir uns befinden.«
»Kommt darauf an, wie spät es ist.«
Federsens Augen verengten sich. »Was hat das mit der Uhrzeit zu tun?«
»In meinem Magen steckt ein Peilsender«, raunte ihm Hannes zu. »Ich hab ihn runtergeschluckt, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe. Mein Freund sollte Isabell um dreiundzwanzig Uhr darüber informieren. Da dürften wir jetzt wohl schon drüber sein, oder was denken Sie?«
»Woher soll ich das wissen?«, blaffte Federsen ihn an. »Die meiste Zeit war es in diesem Loch stockdunkel!« Er nickte in Richtung der Campingleuchte. »Das Ding stand nicht immer dort. Ich weiß nicht mal, wie viele Tage ich schon hier bin.«
»Drei.«
»Fühlt sich an wie hundert.« Federsens Atmung beruhigte sich, und er senkte auch wieder seine Stimme. »Sie haben ernsthaft einen Peilsender verschluckt?«
Hannes konnte nicht anders, er musste grinsen. Federsens Art, seine Anerkennung nicht zu zeigen und um jeden Preis das Gesicht zu wahren, war ihm gut bekannt.
»Hm.« Federsen verlagerte sein Gewicht. »Dann ist ja doch nicht alles verloren.«
»Zumal Lukas nichts davon weiß und sich so auch nicht zu einer extremen Handlung genötigt sehen wird. Unsere Kollegen können den Zugriff perfekt vorbereiten.«
»Hm«, wiederholte Federsen. Sein Sinneswandel lief diesmal schneller ab. Das Nicken war eindeutig anerkennend. »War vermutlich das Schlauste, was Sie tun konnten. Viel länger will ich hier auch nicht mehr in meiner Scheiße liegen. Und weitere Finger will ich genauso wenig verlieren.«
»Wie geht es Ihrer Hand?«
»Kann ich nicht sagen, ist ja verbunden.« Erneut trat Schmerz in seinen Blick. »Wie geht es meiner Frau? Kommt Sie … einigermaßen klar?«
Trotz des Doppelkinns sah Hannes, dass sein Chef mehrfach schlucken musste. Offen lag Federsens weicher Kern vor ihm. »Ihr geht es gut«, versicherte er leise. »Hat natürlich Angst, aber wir haben ihr nicht alle Details erzählt. Von dem Daumen weiß sie nichts.«
»Gut, das ist gut.«
»Wie kommen Sie eigentlich mit dem Nikotinentzug klar?«, versuchte Hannes ihn abzulenken.
»Mittlerweile geht’s. Die ersten Stunden waren hart. Am besten fange ich gar nicht erst wieder damit an … wenn wir hier draußen sind … auch meiner Frau zuliebe. Sie hat es immer gehasst.«
Bevor er wieder in Traurigkeit versinken konnte, legte Hannes nach. »Was ist Ihnen eigentlich passiert, seit Sie hier aufgewacht sind? Hat Lukas mit Ihnen geredet?«
»Er war nicht oft da. Aber ja, wir haben auch geredet.«
Nun war es an Federsen, einen Überblick über die letzten Tage zu geben. Dabei war er so schonungslos offen und sparte sogar seine Angst vor der Dunkelheit nicht aus, sodass Hannes spürte, wie gerade wieder eine Annäherung zwischen ihnen einsetzte. Er dachte an das erste Mal, auf der Klippe, als sie Lukas’ Eltern nicht mehr hatten retten können. Alles fügte sich zusammen, und alles schien sich zu wiederholen. Mit dem Unterschied, dass Hannes diesmal seinen Teil dazu beitragen wollte, eine erneute Entfremdung zu verhindern. Sobald sie heil von diesem Bett herunter waren, würde sie ein weiteres Drama verbinden. Ob draußen schon Vorbereitungen für den Zugriff liefen? Wo auch immer draußen war. Gerade als er daran dachte, dass dieser Zugriff ein halber Fehlschlag wäre, sofern er in Lukas’ Abwesenheit stattfand, wurden diese Überlegungen über den Haufen geworfen.
Das Geräusch einer zufallenden Stahltür erklang, und Federsen zuckte so stark zusammen, dass Hannes die Bewegung spürte.
»Er kommt«, kündigte sein Vorgesetzter überflüssigerweise an. Seine Stimme war belegt, der Atem ging schneller.
Unwillkürlich dachte Hannes an die geringschätzige Bemerkung, wie man denn eines Siebzehnjährigen nicht habe habhaft werden können. Die Antwort gab Federsen sich zum Teil gerade selbst.
Nervös blickte er zur Holztür, die den Raum von einem schmalen Gang abtrennte, wie Federsen ihm berichtet hatte. Als Lukas hereintrat, hätte Hannes ihn fast nicht erkannt. Er war noch magerer als im Frühjahr, seine Wangen waren eingefallen und von spärlichem Bartwuchs bedeckt. Das braune Haar war länger, wirkte fettig und strähnig. Der Großteil war von der Kapuze seines Pullovers verdeckt, erneut musste Lukas die Kleidung gewechselt haben.
Als er näher trat, zeigte sein Gesicht keine Aggression und keinen Hass, sondern eher Befriedigung. Auch keinen echten Triumph, vielleicht war er zu solch extremen Gefühlen nicht mehr in der Lage. Dass er krank war, bemerkte Hannes nicht nur an den dunklen Augenringen, die in dem bleichen Gesicht wie aufgeschminkt wirkten. Lukas bewegte sich auf eine fahrige Weise, als sei er ein Greis und nicht siebzehn. Er sah weder Federsen noch ihm in die Augen, der Blick stoppte immer kurz vor ihren Gesichtern.
Er setzte einen Rucksack ab und kramte darin herum. Keiner sprach ein Wort, bis er jedem eine Thermosflasche und eine Packung Müsliriegel auf die Beine legte. Dann ging er zum Kopfende und löste die Handschelle, die Federsens verletzte Hand umschloss. Abschätzend sah er Hannes an, öffnete aber auch bei ihm eines der Schlösser. Dann zog er sich rasch zurück, sein Blick war lauernd wie der eines Tieres. Er bückte sich und zog einen Hammer aus dem Rucksack.
»Ihr dürft essen und trinken, danach mache ich euch wieder fest, und wir können reden.«
»Warum nicht beides gleichzeitig?«, fragte Hannes.
»Ihr habt fünf Minuten.«
Federsen hatte bereits die Flasche zwischen die Knie geklemmt und drehte den Verschluss auf.
»Gesüßter Tee, damit ihr nicht vorzeitig draufgeht«, kommentierte Lukas.
Daran, wie Federsen das Getränk herunterstürzte, erkannte Hannes, dass die Versorgungslage zuletzt mangelhaft gewesen sein musste. Er bemerkte einen raschen Seitenblick und streckte ihm seine eigene Flasche entgegen.
»Sie haben es nötiger als ich.«
»Danke, das ist wahr.« Federsens Kiefer zermahlten einen Müsliriegel, während Hannes ihm auch die zweite Packung zuschob.
Begleitet von den Kau- und Schluckgeräuschen seines Chefs konzentrierte Hannes sich wieder auf Lukas, der weiterhin jeden Blickkontakt vermied. Er widerstand der Versuchung, selbst das Wort zu ergreifen. Lukas sollte besser das Gefühl haben, dass nach seinen Regeln gespielt wurde. Zugleich schätzte Hannes aber die Chancen für einen Angriff ein. Ein freier Arm war so schlecht nicht. Aufgrund seines Kanutrainings verfügte er über genügend Muskelmasse, um ihn wirksam einzusetzen, sofern sich eine günstige Gelegenheit bot.
Doch das war nicht der Fall. Nachdem Federsen alle Müsliriegel aufgegessen und die Thermoskannen geleert hatte, näherte sich Lukas mit dem Hammer. Als er Federsens Handschelle wieder um die Querstrebe klickte, hielt er sich komplett aus Hannes’ Reichweite. Und als er Hannes wieder fixierte, hing der Hammer derart drohend über seinem Kopf, dass dieser nur den Arm nach oben streckte und Lukas gewähren ließ.
Er sah nicht nur, er hörte auch, wie der Siebzehnjährige aufatmete. Lukas verstaute den Hammer wieder in dem Rucksack, räumte die Flaschen und leeren Verpackungen weg, dann zog er eine moderne Polaroidkamera hervor und fotografierte seine Gefangenen. Er wartete, bis das Bild entwickelt war, steckte es in einen Umschlag und baute sich mit verschränkten Armen neben dem Bett auf. Erst jetzt sah er Hannes in die Augen.
»Noch ein Foto für deine Kollegen.«
»Wozu? Du hast doch jetzt, was du willst.«
»Woher willst du wissen, was ich will?«
»Mich. Hast du zumindest geschrieben.«
Lukas’ Lächeln war kalt, geringschätzig. »Stimmt. Aber du bist nur ein weiteres Etappenziel. Meine nächste Forderung wird sein, dass man meine Schwester freilässt.«
Hannes glaubte, sich verhört zu haben. Ungläubig starrte er den jungen Mann an. War der noch wahnsinniger, als er gedacht hatte? Federsen, nun satt, nicht mehr durstig und in Gesellschaft eines Kollegen, fand dagegen allmählich zu alter Form zurück.
»Wie naiv bist du denn? Glaubst du wirklich, dass man eine verurteilte Mörderin freilässt, nur weil du zwei Polizisten gefangen hältst?«
»Ich halte euch nicht nur gefangen. Dir habe ich schon einen Daumen abgeschnitten, und bei deinem Kollegen …« Mit einer Handbewegung präsentierte er Hannes’ Zustand. »Liegt ja alles frei. Wenn auch das nicht reicht, springt eben der Erste von euch beiden über die Klinge.«
Hannes lief es kalt den Rücken hinunter. Die Kollegen sollten sich mit dem Zugriff nicht mehr allzu lange Zeit lassen! Zwar würde Lukas seiner Drohung wohl nicht sofort Taten folgen lassen, aber wer wusste schon, wie sich das weitere Gespräch entwickelte!
»Das heißt …« Hannes’ Mund war trocken, und er wünschte, doch etwas von dem Tee getrunken zu haben. »Wir sind also nur Mittel zum Zweck? Warum dann der ganze andere Scheiß? Das Aufhetzen der Autonomen, mein Kutter, der Hund – und am Ende sogar meine Freundin?« Er merkte selbst, dass er sich in Rage redete, was unklug sein konnte. Denn auch Lukas zeigte erstmals Erregung.
»Ihr seid nicht bloß Mittel zum Zweck.« Seine gewählte Ausdrucksweise behielt er weiter bei, sie schien fest in ihm verankert zu sein. »Mir ist klar, dass Juliane die Hauptschuldige ist, und dafür werde ich sie bezahlen lassen. Ihr beide seid aber Mittäter, vor allem du.« Sein ausgestreckter Zeigefinger deutete auf Hannes.
»Ich habe deine Schwester überführt!«
»Aber zu spät! Dabei warst du dicht an ihr dran, sie war sogar verliebt in dich. Du hättest es früher erkennen müssen, das ist dein Job! Und auf der Klippe … statt rechtzeitig einzuschreiten, habt ihr zugesehen. Bis es zu spät war.«
»Weil wir die Situation nicht einschätzen konnten. Wären wir früher losgestürmt, hätte sie dich vielleicht ins Meer geworfen. Schon mal dran gedacht?«
Er schüttelte den Kopf. »War mir klar, dass du tausend Rechtfertigungen haben wirst. Spielt aber keine Rolle. Als alles vorbei war, da bist du in dein normales Leben zurückgekehrt. Ich konnte das nicht, für mich war alles vorbei.«
»Das stimmt nicht, du hast …«
Lukas schien ihn gar nicht zu hören. »Aber jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man Stück für Stück alles verliert, was einem wichtig ist. Wie es ist, wenn man nur hilflos zusehen kann. Wie naiv du am Anfang gewesen bist! Dich und deine Freundin zu beobachten, war eine Kleinigkeit!«
»Deshalb wusstest du also, dass wir zu meinem Freund gezogen sind und wo Anna untergekommen ist? Du bist uns gefolgt?«
»Nicht nur. Im Internet kann man tolle Sachen bestellen. Zum Beispiel einen Peilsender.« Herausfordernd sah Lukas ihn an, und Hannes zog es den Magen zusammen. Hatten er und Federsen nicht leise genug gesprochen? Hatte Lukas tatsächlich eine Abhörvorrichtung in diesem Raum installiert?
Allerdings wirkte er bei seinen nächsten Worten nicht so, als habe er soeben eine doppelte Anspielung gemacht. »Im Moment steht dein Auto vor dem Haus deines Freundes«, fuhr Lukas fort. »Hättest besser mal unter die Motorhaube sehen sollen.«
Hannes stöhnte, halb erleichtert und halb frustriert. Damit hatte er tatsächlich nicht gerechnet. »Aber woher wusstest du, wann Anna …?«
»Ich wollte das Haus so lange beobachten, bis sie sich mal raustraut und sich eine günstige Situation bietet. Ich bin ihr den ganzen Vormittag gefolgt. Dachte mir, ich versuch’s einfach mal und sehe, was sich ergibt. Ich habe mir gar keine großen Hoffnungen gemacht, denn die Personenschützer sind mir sofort aufgefallen. Hatte aber eh nichts Besseres zu tun. Dann passierte auf einmal ein Unfall, und alle waren abgelenkt. Außer mir.«
Verbittert registrierte Hannes die Selbstgefälligkeit. »Sie hat mit all dem überhaupt nichts zu tun. Anna ist völlig unbeteiligt.«
»Das war ich auch.« Lukas zuckte mit den Schultern. »Soll ich sagen, dass es mir leidtut? Tut es nicht. Sie ist mir völlig egal.«
Hannes sah, dass das nicht gelogen war. Lukas war verroht, und es war zweifelhaft, ob man den Schaden, den seine Seele genommen hatte, jemals würde reparieren können. Es war absurd, ihm in diesem fensterlosen Raum nackt und neben Federsen an ein Bett gefesselt Rede und Antwort stehen zu müssen. Wer hätte das vor Monaten bei dem Anblick des schüchternen Teenagers gedacht? Berichte über Amokläufer kamen ihm in den Sinn. Auch bei ihnen handelte es sich immer wieder um junge Menschen, die vorher völlig unscheinbar gewesen waren.
»Und was hast du mit Juliane vor?« Federsen rieb sich über den Bauch und verzog das Gesicht. Vielleicht war sein Magen mit der ungewohnten Menge an Nahrungsmitteln überfordert.
»Das bleibt mein Geheimnis. Der Plan steht, genauso für euch. Mit einer guten Planung ist offenbar alles möglich.« Bei dieser Aussage klang er fast erstaunt, so als sei er selbst überrascht, wie weit er gekommen war.
»Mit was hast du mich im Parkhaus eigentlich ausgeknockt?«, fragte Hannes, der keine Gesprächspause entstehen lassen wollte. Wo zur Hölle blieben die Kollegen?
»Betäubungsgewehr. Auf den Höfen meiner Eltern … es war kein Problem, an eines ranzukommen.«
»Und das Gift im Hundeknochen? Weshalb war es das gleiche wie das …« Hannes sprach den Satz nicht zu Ende.
»Wie das, an dem meine Eltern starben? Kam mir naheliegend vor.«
Federsen stöhnte und krümmte sich. Lukas verfolgte es, unterbrach aber nicht seine Antwort. »Juliane veranstaltete damit ein Picknick, und meine Eltern aßen und tranken arglos das vergiftete Zeug. So wie ihr gerade. Oder na ja, zumindest einer von euch.«
Hannes fühlte sich, als habe ihm jemand den Stecker gezogen. Sämtliche Energie floss aus ihm ab. Das konnte … das durfte nicht … Er sah Federsen an. Dessen Gesicht war kalkweiß, die Augen waren aufgerissen. Schweiß bedeckte das Gesicht.
»Das … du Scheißkerl hast das Essen vergiftet?«, brüllte Hannes.
»Nicht die Müsliriegel, nur den Tee.« Lukas griff nach dem Rucksack. »Ab jetzt geht es schnell, aber das weißt du ja. Kannst dabei zusehen – wie beim letzten Mal.« Er ging zur Tür.
»Bleib hier!«, schrie Hannes. »Bleib hier und … tu irgendwas!«
Lukas drehte sich noch einmal um. »Übrigens war nur in einer Flasche Gift. Denk darüber nach, in welcher.« Dann verließ er den Raum.
Ohnmächtig brüllte ihm Hannes Verwünschungen hinterher, bis er das Knallen der Stahltür hörte. Wieder blickte er zu Federsen, der vor Schmerzen wimmerte. Schaum stand vor seinem Mund, und er rollte mit den Augen.
»Herr Niehaus …«, keuchte er. »Mein Magen … es tut … so … weh.«
»Versuchen Sie zu würgen«, flehte Hannes ihn an. »Spucken Sie es aus!«
»Ich kann … nicht!«
Verzweifelt riss Hannes an den Handschellen, während sich Federsen direkt neben ihm immer wieder aufbäumte oder versuchte, sich zusammenzukrümmen. Er suchte nach tröstenden Worten, fand aber nur Tränen, die ihm über das Gesicht liefen und in der blutbefleckten Matratze versickerten. Immer wieder hoffte er auf ein erlösendes Geräusch, das die Verstärkung ankündigen würde. Doch das Einzige, was er hörte, war das leiser werdende Keuchen und Stöhnen Federsens. Eine gefühlte Ewigkeit verfolgte er den Todeskampf seines Vorgesetzten, den er mal gehasst und mal geachtet, aber nie wirklich gemocht hatte. Nun hätte er alles dafür gegeben, ihm wenigstens die Hand halten zu können.