KAPITEL 14
Obwohl es mitten in der Nacht war, herrschte im Präsidium noch immer hektische Betriebsamkeit. Mit jeder weiteren Stunde, in der man vergeblich eine Spur zu Hannes zu finden versuchte, wurden die Gesichtszüge resignierter und die Stimmung gereizter. Gerade musste sich Per vor Clarissa rechtfertigen, weshalb er sich zunächst an den falschen Mobilfunkanbieter gewandt hatte, der vergeblich nach einem Johannes Niehaus als Kunden gesucht hatte, sodass wertvolle Zeit vergeudet worden war. Im übermüdeten Zustand passierten Fehler, und Lauer faltete Marcel zusammen, weil dieser seine Mitarbeiter besser im Griff haben müsse. Isabell nutzte einen unbeobachteten Moment, um sich auf den Gang zu verdrücken.
Auch Ben war außerstande, sein Bett aufzusuchen, verlassen saß er auf einem Stuhl im Flur. Isabell sah ihm an, dass er sich schwere Vorwürfe machte, auch wenn Hannes sich wohl noch nicht einmal von Fritz höchstpersönlich von seiner Mission hätte abhalten lassen. Als Ben die Polizistin bemerkte, sprang er auf. Hoffnung stand in seinen Augen.
»Gibt’s was Neues?«
»Ja, nur nicht das, worauf wir alle hoffen. Der Sender schweigt noch immer.«
»Aber?«
»Hannes’ Handy wurde gefunden. Mitten in der Stadt an einer Bordsteinkante. Zersplittert. Wurde wohl aus einem Auto geworfen, Lukas’ Fingerabdrücke sind drauf.«
»Fuck!« Ben sank auf den Stuhl zurück. »Also ist der wichtigste Teil von Hannes’ Plan leider aufgegangen. Wieso sendet der verdammte Sender nicht?«
Isabell lehnte sich neben ihm an die Wand. »Das kann sich auch der Techniker nicht erklären. Dass die Magensäure ihn beschädigt haben könnte, schließt er aus.«
»Kann es bedeuten, dass Hannes schon … tot ist?«
»So makaber es klingt, aber das würde für den Peilsender keinen Unterschied machen. Der sendet durch lebendes und totes Gewebe. Eigentlich gibt es nur eine Erklärung: Hannes befindet sich an einem Ort, an dem das Signal blockiert wird.«
»Also dicke Mauern?«
»Eher tief unter der Erde und dicke Mauern. Er hat ein Hightechgerät runtergewürgt.«
»Ich wusste, dass die Sache einen Haken hat«, sagte Ben bitter. »Aber man muss doch nachverfolgen können, wo sich der Peilsender entlangbewegt hat!«
»Im Nachhinein nicht. Hätten wir von Anfang an die Verbindung aktiviert, dann … aber so …«
»Ich hätte nicht auf Hannes hören sollen«, stöhnte Ben. Er fingerte so heftig an seinem Augenbrauenpiercing herum, dass Isabell schon fürchtete, er würde es sich herausreißen. »Dabei hab ich euch sowieso schon früher informiert, als er es wollte. Hätt ich es nur sofort getan!«
»Du hast uns schon enorm weitergeholfen. Immerhin hast du dir den Text des Zettels gemerkt. Das Parkhaus verfügt zwar nur über wenige Überwachungskameras, aber zusammen mit Zeugenaussagen konnten wir den Ablauf rekonstruieren. Hannes lag falsch damit, dass dort nur die erste Station sein würde, denn Lukas schlug an Ort und Stelle zu.«
»Wie kann das niemand mitbekommen haben?«
»Indem er es geschickt angestellt hat. Ein Zeuge erinnert sich an einen weißen Transporter, der auf dem Parkplatz Nummer acht gestanden hat. Er selbst parkte daneben, kam aber erst zurück, als der Van schon weg war. Glücklicherweise traf der Mann dort aber auf unsere Kollegen, die ihn sofort befragten. An Ein- und Ausfahrt hängen Kameras, der Transporter wurde schon am Morgen im Parkhaus abgestellt.«
»Und fuhr erst wieder weg, nachdem Hannes angekommen war?«
»Fünfzehn Minuten später. Der Fahrer war nicht klar zu erkennen, dürfte aber Lukas gewesen sein.«
Verzweifelt sah Ben sie an. »Das … irgendwie hilft euch dieses Wissen doch weiter, oder?«
»Das tut es. Wir wissen, wie weit er maximal gekommen sein kann, bis er Hannes an einem Ort unterbrachte, an dem der Peilsender abgeschottet ist. Das sind aber immerhin zweihundert Kilometer.«
»Also so gut wie hoffnungslos.«
»Sag das nicht!«, erwiderte Isabell heftiger als beabsichtigt. Dann legte sie Ben eine Hand auf die Schulter und fuhr ruhiger fort: »Immerhin haben wir das Kennzeichen des Wagens und können nachforschen, ob er unterwegs von jemandem gesehen oder von einer weiteren Überwachungskamera erfasst wurde. Einen Treffer gibt es da schon. War zwar noch mitten in der Stadt, aber wir hangeln uns Stück für Stück vorwärts.«
»In welcher Richtung war er unterwegs?«
»Wahrscheinlich zur Autobahn. Der Transporter ist übrigens als gestohlen gemeldet. Er gehört einem mittelständischen Handwerksbetrieb aus Frankfurt. Dort wurde er vor acht Wochen vom Hof geklaut.«
»Ist das relevant?«
»Immerhin zeigt es, dass Lukas alles von langer Hand vorbereitet hat.«
Ächzend verbarg Ben das Gesicht in den Händen. »Klingt nicht so, als ob es eine gute Erkenntnis wäre.«
»Kommt drauf an. Wir gehen nicht davon aus, dass er Hannes sofort töten will. Dafür ist der Aufwand zu groß. Außerdem hätte er das leichter und schon vor Wochen erledigen können. Ob das aber für Hannes gut ist, weiß ich trotzdem nicht.«
Ben riss die Augen auf. »Du meinst, dieser Durchgeknallte foltert ihn?«
»Wir müssen mit allem rechnen. Über eines wollte ich noch mit dir reden: Wie sollen wir nach deiner Meinung mit seiner Freundin umgehen?«
Ben schüttelte den Kopf. »Die Entscheidung müsst ihr treffen. Wenn Anna davon erfährt, wird sie zusammenklappen, das steht fest.«
»Was in ihrem derzeitigen Zustand kontraproduktiv wäre. Wir sehen es genauso, deshalb möchte ich dich bitten, ihr nichts zu sagen.«
»Sie wird sich wundern, dass Hannes sich nicht meldet.«
»Wir denken uns einen Grund aus. Er wurde an einen geschützten Ort gebracht und hat sicherheitshalber eine Kontaktsperre. Irgend so was.«
»Ihr könnt euch auf mich verlassen. Kann ich sonst noch was tun?«
Isabell nickte. »An Hannes’ Stelle für Anna da sein. Und den Rest uns überlassen.«
»Keine Sorge.« Ben stand auf. »Anders als Hannes möchte ich noch möglichst lange weiterleben. Ich hoffe, dass er durchkommt, allein schon deshalb, damit ich ihn dann mit eigenen Händen erwürgen kann.«
Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, entschloss sich dann aber zu schweigen und schlurfte den Gang entlang in Richtung Ausgang. Wie Isabell wusste, würde er draußen sofort Begleitung erhalten. Für Hannes’ besten Freund war Personenschutz weiter obligatorisch, auch wenn Lukas am Ziel angekommen sein dürfte. Aber wer konnte schon in ein krankes Gehirn blicken? Ob er den Appell seiner Freunde schon gesehen hatte? Unwahrscheinlich war es nicht, denn vermutlich wollte er sich informieren, ob Hannes’ Verschwinden an die Presse durchgesickert war. Isabells größte Befürchtung war nicht, dass das Video wirkungslos verpuffen, sondern dass es das Gegenteil der gewünschten Wirkung hervorrufen könnte. Wenn Lukas es so auffasste, dass alle gegen ihn standen, könnte dies den letzten Rest von Zaudern auch noch vertreiben.
Man sollte meinen, dass sich die Nase mit der Zeit auch an die durchdringendsten Gerüche gewöhnt, aber obwohl Hannes schätzte, dass er schon viele Stunden in dem Kellerraum gefangen gehalten wurde, nahm er den Gestank nach Urin, Kot, Schweiß und Erbrochenem noch immer deutlich wahr. Surreal erschien ihm, dass er neben einer Leiche lag. Genauer gesagt neben einem Körper, der ihn im lebendigen Zustand des Öfteren an den Rand seiner Selbstbeherrschung gebracht hatte, und nun langsam aber sicher in Leichenstarre überging.
Erst lange Zeit nachdem Federsens Blick starr geworden war, hatte die Campinglampe ein Erbarmen gezeigt und war erloschen. Anfangs hatte Hannes, einem inneren Zwang gehorchend, seinen Chef noch unverwandt angesehen. Jede Furche in dem Gesicht hatte sich ihm eingeprägt, jede Ader und jede Bartstoppel. Er hatte erkannt, wie konsequent er in der Vergangenheit einen längeren Blickkontakt vermieden hatte und ahnte, dass er damit nicht der Einzige gewesen war. Beliebt war sein Chef nie gewesen, Vertraute hatte er im Kollegenkreis auch keine gehabt – wie verloren musste er sich gefühlt haben! Wodurch war Federsen zu einem Mann geworden, dem man am liebsten aus dem Weg ging?
Früher hatte sich Hannes für diese Hintergründe kaum interessiert, jetzt erhielt er keine Antworten mehr auf die Fragen, die er im Dunklen vor sich hinmurmelte.
Und Hannes dachte an sich selbst. Sollte Anna Lukas’ Angriff nicht überlebt haben, wäre er in der Lage, ihm dann seinerseits das Leben zu nehmen? Im Affekt sicherlich, aber noch Wochen oder Monate später? Eher nicht. Was, wenn Lukas auch noch seine Familie ausgelöscht hätte? Seine Mutter, seinen Vater, die Schwester und den Neffen? Er fröstelte, als er daran dachte, dass dies durchaus geschehen konnte. Und er dachte an Frau Federsen, für die derartige Überlegungen bald keine Theorie mehr sein würden. Mit einem Mal meinte er zu verstehen, weshalb Angehörigen von Entführungsopfern oft eine Schreckensnachricht lieber war, als weiter jahrelang im Ungewissen zu bleiben. Gerade jetzt, in diesem Moment grübelte Federsens Frau wahrscheinlich darüber nach, welche Qualen ihr Mann durchmachen musste. Ob Anna schon wusste, dass er selbst sich nun ebenfalls in Lukas’ Gewalt befand?
Die Dunkelheit schien sich zu seinem Herzen vorzufressen. Was für ein Narr er gewesen war! Um Anna, seine Familie und nicht zuletzt Federsen zu retten, hatte er sich bereitwillig in die Höhle des Löwen verschleppen lassen. Hätte er es nicht getan, wäre Federsen vielleicht noch immer am Leben. Was für eine fatale Fehleinschätzung! So wie vor Monaten im Fall von Lukas’ Eltern? Der Vergleich lag nahe und nagte an ihm. Lukas hatte gewollt, dass er Federsens Tod miterlebte, da war er sich sicher. Und er wollte, dass Hannes von Schuldgefühlen zermürbt wurde. Das Dumme war, dass Lukas’ offenkundige Absicht trotz dieser Erkenntnis funktionierte. Hannes sah die Falle, konnte ihr aber nicht ausweichen.
Lukas hatte gewiss auch nicht ohne Grund erwähnt, dass sich nur in einer der Thermoskannen Gift befunden hatte. Sofern er nicht gelogen hatte, könnte Hannes also sogar indirekt den Tod seines Chefs verschuldet haben, indem er ihm seinen Anteil überlassen hatte. Hätte er es nicht getan, würde dann jetzt Federsen neben seiner Leiche liegen und sich in ähnlichen Fragen verlieren?
Über Fluchtmöglichkeiten grübelte Hannes fast gar nicht nach. Er hatte von Federsens erfolglosen Versuchen erfahren und war bei der momentanen Fixierung ohnehin kaum zu Bewegungen fähig. Stattdessen setzte er weiter auf den Peilsender in seinem Magen, konnte sich aber nicht erklären, weshalb die Rettung auf sich warten ließ. Hatten die Kollegen eine Situation vorgefunden, in der ein Zugriff nicht möglich war? Was, wenn er Lukas ein weiteres Mal unterschätzt hatte und – dieser Gedanke fiel ihm am schwersten: Was, wenn der Peilsender nicht ordnungsgemäß funktionierte, obwohl er sich von dessen Einsatzfähigkeit überzeugt hatte? Dann bestand wohl keine Hoffnung mehr.
Das Geräusch von Metall versetzte seine Sinne in Alarmbereitschaft. Die Tür über der Treppe war zugefallen, befand sich Lukas auf dem Weg zu ihm? Oder traf endlich ein Spezialeinsatzkommando ein? Als die Holztür aufgestoßen wurde und ein Lichtschein in den Raum fiel, zerplatzten alle Hoffnungen. Wie ein Dämon kam Lukas näher und wirkte wenig besorgt. Er schien die Lage weiter unter Kontrolle zu haben – oder er dachte es zumindest.
Er stellte die Lampe auf den Boden, nahm den Rucksack ab und zog eine Decke hervor, die er allerdings nicht über Federsens Körper, sondern über Hannes legte. Erst jetzt bemerkte Hannes, dass er nicht nur wegen der unbequemen Position, sondern auch wegen der Kühle steif geworden war. Tatsächlich verspürte er einen Anflug von Dankbarkeit, dass Lukas ihn nicht länger nackt herumliegen ließ. Erfolglos versuchte er, den Mund mit Speichel zu befeuchten, seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren.
»Wieso hast du dir das Schauspiel nicht angesehen?«
»Hab ich doch schon, einmal reicht mir. Dieses war nur für dich bestimmt.«
»Und jetzt? Wer soll mir zusehen?«
»Niemand.« Lukas legte eine Trinkflasche neben Hannes’ Kopf und zog den Verschluss heraus. »Den Kampf wirst du ganz allein ausfechten müssen. Du musst nur an der Flasche saugen, dann kommt die Flüssigkeit raus. Kennst diese Flaschen ja sicher … als Sportler.«
Hannes schüttelte den Kopf. »Wieso sollte ich freiwillig Gift trinken?«
»Irgendwann ist dein Durst so groß, dass du trinken wirst.«
Trotz der Decke war Hannes eiskalt. Brennenden Durst verspürte er schon jetzt, zugleich war er aber noch Herr seiner Sinne, sodass er keinesfalls den Sauger in den Mund nehmen würde. Ob das in zwei, drei oder noch mehr Tagen auch noch der Fall sein würde, war allerdings ungewiss. Vielleicht befände er sich irgendwann sogar in einem Zustand, in dem er froh war, einen Ausweg aus dem langsamen Dahinsiechen nur eine Kopfdrehung entfernt vorzufinden.
Lukas setzte sich den Rucksack wieder auf. »Außerdem werde ich dir die Entscheidung einfach machen«, meinte er in einem Ton, als würden sie sich über die letzten Fußballergebnisse austauschen. Er bückte sich zu der Lampe, nahm sie aber nicht auf, sondern stellte einen Wecker daneben. »Ich werde alle vierundzwanzig Stunden vorbeikommen. Wenn du dann noch atmest, wirst du ein weiteres Leben auf dem Gewissen haben. Jeden Tag, an dem du weiterlebst, kommt eines dazu.«
Hannes fand kaum noch Kraft, die Worte über die Lippen zu bringen: »Wie konnte nur so ein … Teufel aus dir werden?«
»Unter anderem du hast mich dazu gemacht.«
»Das ist Unsinn, und das weißt du. Ich bin dein Sündenbock, weil du an Juliane nicht herankommst.«
»Ich werde an Juliane herankommen. Die Polizei hat schon eine Botschaft von mir bekommen. Da die aber wie beim letzten Mal nicht ausreichen wird …«, ein Blitz flammte auf, als er die Polaroidkamera aufs Bett ausrichtete, »… brauche ich überzeugenderes Material. Ein toter Kriminalhauptkommissar wird meinen Forderungen Nachdruck verleihen.«
Hannes konnte es nicht fassen. Am meisten erschütterte ihn die Kaltblütigkeit des Jungen. Federsen hatte er kaum eines Blickes gewürdigt, sein Tonfall blieb neutral, und die Ausdrucksweise klang noch immer so, als würde er ein Referat vor seiner Klasse halten. Hannes sah ein, dass sämtliche Versuche, ihn von der weiteren Ausführung des Plans abzubringen, zum Scheitern verurteilt waren. Lukas war abgestumpft, er befand sich in seiner eigenen Welt, die hermetisch von der Realität abgeschottet war. Kein Weinen, Flehen, Entschuldigen, Brüllen oder Sich-verteidigen würde daran etwas ändern. Die einzige Chance, diesen Wahnsinn zu überleben, lag damit in der Funktionstüchtigkeit des Senders in seinem Magen – eine Hoffnung, an die er sich ab jetzt zu klammern gedachte. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig.
Am Morgen traf Isabell im Krankenhausflur wieder auf Ben, nachdem sie sich soeben versichert hatte, dass Anna weiter auf dem Weg der Genesung war. Anna hatte sie die mit den Kollegen abgesprochene Version aufgetischt, dass man Hannes in ein Versteck gebracht hatte, um eine weitere Eskalation zu verhindern. In ihrem angeschlagenen Zustand war dies von Anna nicht hinterfragt worden. Sie hatte lediglich erleichtert aufgeatmet, dass sie sich um ihren Freund erst mal keine Sorgen machen musste.
»Wenn sie wüsste, was wirklich los ist«, war Bens düsterer Kommentar, als Isabell ihm davon berichtete. »Geht die Sache böse aus, fällt Anna aus allen Wolken.«
»Immer noch besser, als jetzt vor Angst wahnsinnig zu werden. Außerdem werden wir alles daransetzen, dass es kein böses Ende gibt.«
Ihr Optimismus war nur teilweise vorgetäuscht. Zwar wurde von dem Peilsender noch immer kein Signal empfangen, dafür hatte die Fahndung nach dem Transporter einen Teilerfolg geliefert. Eine Stunde, nachdem Lukas ihn aus der Tiefgarage am Hauptbahnhof gesteuert hatte, war das Fahrzeug fast in einen Unfall verwickelt gewesen – beziehungsweise hatte beinahe einen verursacht. An einer unübersichtlichen Kreuzung außerhalb des Stadtgebietes hatte Lukas einem Förster die Vorfahrt genommen, angeblich hatten nur Zentimeter gefehlt, und es hätte einen Zusammenstoß gegeben.
Empört hatte sich der Förster an die Verfolgung gemacht, diese aber angesichts des halsbrecherischen Tempos nicht lange aufrechterhalten. Immerhin hatte er sich das Nummernschild gemerkt und sich, als er im Radio von der Fahndung nach dem Transporter gehört hatte, an den Vorfall erinnert. Das Gebiet, in das Hannes von Lukas verfrachtet worden sein konnte, war dadurch enger eingrenzbar, aber immer noch groß genug. Im Umkreis befanden sich eine Kleinstadt, zahlreiche Dörfer und jede Menge Natur.
Mehrere Hundestaffeln waren im Einsatz, Hubschrauber suchten das Gebiet aus der Luft ab, unterstützt von zivilen und uniformierten Einsatzkräften am Boden. Dass Lukas einen weiteren Polizisten in seiner Gewalt hatte, war der Öffentlichkeit noch nicht mitgeteilt worden, die Dringlichkeit des Aufrufs war aber erhöht worden. Mittlerweile hatte sogar die internationale Presse den Fall aufgegriffen und Fotos des Entführers veröffentlicht. Dass die Zeit ein ernst zu nehmender Gegenspieler war, verdeutlichte der Anruf, den Isabell erhielt, als sie weiter mit Ben spekulierte, wo sich das Versteck befinden könnte. Ihr Gesicht verdüsterte sich, dann beendete sie das Gespräch.
»Schlechte Nachrichten«, vermutete Ben.
»Kann man so sagen. Das war Clarissa. Lukas hat uns wieder eine Botschaft zukommen lassen. Diesmal steckte der Umschlag an einem Krankenwagen.«
»Und was war drin?«
»Ein Foto von Hannes und Federsen.«
Ben keuchte auf. »Lebt er?«
»Scheint so. Er lag … hör mal, ich kann dir keine Details verraten!«
»Was spielt das denn für eine Rolle?«, fuhr Ben auf. »Vielleicht kann ich euch irgendwie helfen!«
»Ich wüsste nicht wie. Hannes ist wie vom Erdboden verschluckt, das kannst du auch nicht ändern.«
»Nein, das wohl nicht, aber … aber …« Hilflos hob er die Arme. »Nichts zu wissen, ist nicht gerade einfach, verstehst du? Was bezweckt Lukas damit? Er hat doch schon alles, was er will.«
»Offenbar nicht.« Isabell legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich muss ins Präsidium zurück. Besprechen, wie wir jetzt vorgehen. Kümmerst du dich weiter um Anna?«
»Habe nicht das Gefühl, dass ich hier gern gesehen bin. Ihr Vater hat schon mehrfach darauf hingewiesen, dass sie ohne mich klarkommen.«
»Dann geh nach Hause. Wenn es Neuigkeiten gibt, melde ich mich.«
»Na gut.« Ben zuckte mit den Schultern. »Du kannst aber nicht verhindern, dass ich auch selbst nachforsche.«
»Das lässt du bleiben! Damit könntest du Hannes in noch größere Gefahr bringen.«
»Keine Sorge, ich renne nicht blind ins Verderben. Aber meine Gedanken sind ja wohl noch frei?« Herausfordernd sah er sie an, dann drehte er sich um und ließ sie stehen.
Isabell blickte den Dreadlocks misstrauisch nach. Das Schuldgefühl nagte an Ben, nur gut, dass er unter Personenschutz stand und somit keine Dummheiten anstellen konnte. Sie betrachtete das Foto, das ihr Clarissa aufs Handy geschickt hatte, dann verließ sie ebenfalls das Krankenhaus. Das helle Sonnenlicht kam ihr wie ein Hohn vor, wenn man bedachte, in welcher Situation sich ein Kollege und Freund von ihr befand. In einem Anflug von Selbstkritik bemerkte sie, dass sein Verschwinden die Sorge um Federsen in den Hintergrund gerückt hatte. Ob das den anderen auch so ging? Es war keine akzeptable Gefühlsregung, aber sie konnte es nicht ändern.
Kurz darauf blickten ihr Hannes und Federsen erneut entgegen, diesmal im Großformat an der Wand des Konferenzraumes. An der Diskussion erkannte sie, dass man sich schon seit geraumer Zeit die Köpfe heiß redete, wie man auf die neuerliche Kontaktaufnahme von Lukas reagieren sollte. Sein Brief hing neben dem Foto, Isabell musste näher herangehen, um ihn zu entziffern.
Spielt endlich nach meinen Regeln, dann bekommt ihr eure Kollegen wieder zurück. Entlasst Juliane aus der Haft und bringt sie bis 20 Uhr in das Haus meiner Eltern. Dort lasst ihr sie allein. Tut ihr das nicht, stirbt zuerst der alte Kommissar. Johannes Niehaus werdet ihr dagegen Stück für Stück erhalten. Ein Körperteil pro Tag. Lukas.
»Jetzt dreht der Kerl richtig auf.« Per war neben sie getreten. »Unterschreibt sogar mit seinem Namen. Das ist wie ein ausgestreckter Mittelfinger.«
»Er weiß, dass er jetzt mit offenen Karten spielen kann. Nach dem öffentlichen Fahndungsaufruf und dem Appell seiner Freunde … also ist das sein eigentliches Ziel? An Juliane heranzukommen?«
Per zog eine Grimasse. »Wenn du mich fragst, können wir die gern opfern, falls wir dadurch zwei Kollegen retten.«
»Würde ich mich anschließen. Leider …« Isabell ging einen Schritt zurück und musterte den Zettel.
»Was ist?« Clarissa trat neben sie.
»Kann Zufall sein. Aber Lukas schreibt hier nicht, dass wir Hannes und Federsen unversehrt zurückerhalten.«
Clarissa nickte. »Auch die stückweise Lieferung von Hannes ist unkonkret formuliert. Haben wir schon bemerkt.«
»Das heißt, selbst wenn wir Juliane in sein Elternhaus bringen, heißt das noch lange nicht, dass wir damit Hannes und Federsen retten.«
»Davon wäre ich noch nicht mal ausgegangen, wenn Lukas es behauptet hätte«, meldete sich Lauer zu Wort. »Seit wann glauben wir den Beteuerungen von Wahnsinnigen?«
»Weil selbst Wahnsinnige nicht aus ihrer Haut können«, entgegnete Isabell. »Lukas kommt aus gutem Elternhaus, was man sogar seiner Sprache in den Drohbriefen anmerkt. Er hat es verinnerlicht. Genauso vielleicht, dass er nicht lügen soll.«
»Das heißt, er hat es bewusst so vage formuliert?«
»Wäre denkbar. Ich gehe davon aus, dass Lukas jedes einzelne Wort mit Bedacht gewählt hat. Und das lässt nichts Gutes hoffen.«
»Auf etwas Gutes hoffe ich in seinem Zusammenhang schon lange nicht mehr«, knurrte Marcel. Unter seinen Nasenflügeln klebten Reste von einem blutverschmierten Papiertaschentuch. »Es ist ausgeschlossen, dass wir ihm Juliane aushändigen. Von den juristischen Hürden, die dafür überwunden werden müssten, will ich gar nicht erst anfangen.«
»Trotzdem könnten wir Juliane benutzen.« Isabell wandte sich ab. »Lasst mich mal kurz nachdenken.« Sie blendete das Wiederaufflammen der Diskussion aus und ging zum Fenster. Lukas dürfte klar sein, dass man ihm Juliane nicht wehrlos ausliefern würde. Warum sollte sie ausgerechnet zu seinem Elternhaus gebracht werden? Dieser Ort wurde seit Tagen überwacht, ohne dass man auffällige …« Abrupt drehte sie sich um.
»Das Haus der Krontals! Es muss durchsucht werden.«
»Wurde doch schon gemacht.« Marcel sah sie verwundert an.
»Ja, weil wir nach Lukas suchten. Aber wieso will er, dass wir Juliane dorthin bringen? Er würde sich dort im Leben nicht blicken lassen. Er kann das Haus aber präpariert haben.«
»Zum Beispiel mit einem Sprengsatz? Das wäre aufgefallen. Außerdem wird das Haus seit dem Wochenende ununterbrochen observiert. Da kam keiner rein oder raus.«
»Denkt daran, wie lange Lukas schon an dieser Rache feilt. Er kann bereits vor Wochen etwas vorbereitet haben. Das Haus ist eine Falle für Juliane, da leg ich mich fest.«
»Wenn du schon so gut in seine Psyche eintauchen kannst …« Clarissas Ton war angriffslustig. »Angenommen, es stimmt und Juliane käme im Haus ihrer Eltern ohne Lukas’ aktives Zutun zu Tode: Was macht Lukas als Nächstes?«
»Hannes und Federsen nutzen ihm dann nichts mehr.« Per bekam rote Backen. »Wenn wir die Falle im Haus der Krontals kennen, können wir so tun, als sei sie erfolgreich zugeschnappt.«
»Womit wir Hannes’ und Federsens Tod aber nicht automatisch verhindern.« Isabell schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Lukas sie wieder laufen lässt. Sie sind nicht nur Druckmittel, sondern ebenfalls Ziel der Rache. Er lässt sie nur noch am Leben, um Juliane freizupressen.«
»Also dürfen wir nicht nachgeben«, forderte Per. »Dann verlängern wir schon mal …«
»Wir verlängern vielleicht Hannes’ Leben«, fiel ihm Clarissa ins Wort. »Nicht aber das von Federsen. Lies dir den Wisch noch mal durch.«
»Verfluchter Mist!«, polterte Lauer los. »Der Kerl erlaubt uns keinen einzigen Schachzug! Ich will jetzt zumindest Klarheit, was in dem Haus der Krontals los ist. Organisieren Sie eine blitzschnelle Untersuchung. Vielleicht bringt sie Erkenntnisse, die uns weiterhelfen.«
»Wir müssen Lukas irgendwie an die Oberfläche zerren«, meinte Clarissa, nachdem Per den Raum verlassen hatte, um Lauers Auftrag weiterzugeben. »Was wäre ein passendes Lockmittel?«
»Das einzig wirksame Lockmittel können wir nicht einsetzen, da es Juliane ist.« Marcels Nase erwachte wieder zum Leben, und er zog ein frisches Taschentuch hervor, um das Blut zu stoppen. »Nichts anderes dürfte ihn im Augenblick interessieren.«
»Seine beste Freundin«, schlug Isabell vor.
»Hatten wir schon. Bisher ist der Videoappell verpufft. Außerdem wird er nicht ohne Grund den Kontakt zu ihr abgebrochen haben.«
»Dann fallen mir nur noch seine Eltern ein.«
»Willst du die wieder ausbuddeln?«
»Nein, aber …« Isabell nagte auf der Unterlippe. »Wenn etwas Heftiges passiert … etwas, das ihn seinem Ziel näherkommen lässt, dann … wem würde er das anvertrauen wollen?«
Alle sahen sie fragend an.
»Denkt an den Strand und die Flaschenpost. Das dürfte der einzige Ort sein, zu dem wir ihn treiben können.«
»Wegen dieser Pulle geht Lukas nie im Leben ein Risiko ein.« Clarissa ging zu ihrem Stuhl zurück. »So doof ist der nicht.«
»Er weiß doch gar nicht, dass uns dieser Ort bekannt ist. Und erst recht nicht, dass wir dort den Brief an seine Eltern gefunden haben.«
Lauer zeigte sich an ihrer Theorie nicht uninteressiert. »Bleibt nur die Frage, was dieses heftige Ereignis sein könnte.«
»Der Tod seiner Schwester.«
»Haben Sie …?«
»Natürlich darf sie nicht wirklich sterben. Aber wir können es so aussehen lassen. Hängt ganz davon ab, ob und was man in dem Haus seiner Eltern findet.«
Passenderweise erschien in diesem Moment Per wieder in der Tür. »Gar nichts«, verkündete er. »Das Haus wurde am Wochenende schon gründlich gefilzt, weil man auf irgendwelche Hinweise zu Lukas’ Vorgehensweise hoffte. Zwar wird jetzt noch mal alles auf den Kopf gestellt, aber die Chance, dass etwas übersehen wurde, ist minimal. Ein großer Sprengsatz kommt schon mal nicht infrage.«
»Dann erfüllen wir ihm seinen sehnlichsten Wunsch eben auf andere Weise«, schlug Isabell vor. »Selbstmord. Juliane wurde tot in ihrer Zelle gefunden. Kurz bevor sie sich in einer Videobotschaft an ihren Bruder wenden sollte. Sie war verzweifelt, zu welchen Taten sie ihn getrieben hat.«
»Und das soll er uns glauben?« Lauers Optimismus war verflogen. »Wie würde er überhaupt davon erfahren?«
»Wieder über die Presse.«
»Der riecht doch den Betrug. Kaum schickt er uns die Forderung … schon baumelt seine Schwester am Bettlaken … Also mich würde das nicht überzeugen.«
»Sie sind aber nicht er«, sprang nun überraschend Clarissa ihrer Kollegin bei. »Sie können noch klar denken, er dagegen hat einen Tunnelblick. Und selbst wenn er den Beschiss riecht, ist ihm klar, dass wir seine Forderung nicht erfüllen werden. Er müsste also zur Tat schreiten und … und Federsen töten. Dass er vorher das Bedürfnis hat, weiter an dem Brief an seine Eltern zu schreiben … ist nicht ausgeschlossen.«
»Aber unfassbar riskant.« Lauer blies die Backen auf, langsam entwich die Luft, während er die Decke fixierte. »Das Dumme ist, dass wir wohl keine andere Wahl haben. Ihm seine Schwester auszuliefern, ist ausgeschlossen. Die Frist würde also verstreichen. Dann klammere ich mich lieber an einen Rest von Hoffnung. Marcel, was denkst du?«
Der Ermittlungsleiter hatte das Nasenbluten wieder unter Kontrolle gebracht. »Wir sollten einen Psychologen hinzuziehen, bevor wir uns zu einer Verzweiflungstat hinreißen lassen. Räumt er Isabells Vorschlag eine realistische Chance ein, sollten wir es wagen. Ist immer noch besser, als nichts zu tun oder nur auf einen Erfolg der Suchtrupps zu hoffen.«
Dass ihr Vorschlag so schnell aufgegriffen worden war, sorgte bei Isabell für gemischte Gefühle. Nüchtern betrachtet, schätzte sie ihn nämlich weniger als Geistesblitz, sondern eher als Wunschdenken ein.
In schwachen Momenten wirkte das Ticken des Weckers wie eine nicht enden wollende Abfolge von Donnerschlägen, dann wieder nahm Hannes es gar nicht wahr. Die Phasen der mentalen Stärke schwanden jedoch im gleichen Tempo, wie sich die Zeiger über das Zifferblatt bewegten. Um die verbleibenden Stunden der von Lukas gesetzten Frist abzulesen, musste er sich – soweit es seine Fesseln erlaubten – hochstrecken und über Federsens Bauch spähen. Noch war Zeit übrig, von den vierundzwanzig Stunden war erst die Hälfte vergangen.
Anfangs hatte er trotz der Fesseln immer wieder versucht, Körperkontakt zu Federsen herzustellen. Fast so, als wollte er sich überzeugen, dass sein Vorgesetzter tatsächlich tot war – obwohl daran kein Zweifel bestand. Mal stieß ihn der leblose Körper ab, dann wieder hätte er ihn am liebsten gestreichelt. Mehrmals hatte er dazu angesetzt, Federsen tröstende Worte mit auf den Weg zu geben, nur für den Fall, dass es überhaupt irgendeinen Weg nach dem Tod gab. Doch jedes Mal war es bei dem Vorsatz geblieben, denn seine Kehle war wie zugeschnürt gewesen.
Erneut glitt sein Blick zur Trinkflasche. Was würde Lukas tun, wenn er Hannes lebend vorfand? Nichts an seinem bisherigen Verhalten ließ darauf hoffen, dass er leere Drohungen ausstieß. Hannes’ Freunde und seine Verwandtschaft standen unter Polizeischutz. Würde sich Lukas dann einfach jemand Unbeteiligten herauspicken? Einen Passanten, der zufällig seinen Weg kreuzte, einen Rentner in seinem abgelegenen Häuschen?
Es war eine erschütternde Vorstellung, dass Lukas Tag für Tag ein Opfer auswählte, nur weil Hannes weiterleben wollte. Die Wolldecke lieferte ihm nur oberflächliche Wärme, in seinem Inneren tobte ein arktischer Wintersturm. Er verstand nicht, weshalb seine Kollegen nicht auftauchten, machte dafür aber nur sich selbst verantwortlich. Entweder hatte er die Stärke des Peilsenders falsch eingeschätzt, oder er befand sich an einem Ort, an dem das Signal nicht nach außen dringen konnte. Er hatte sich selbst ins Verderben gestürzt und dadurch alles nicht besser, sondern nur noch schlimmer gemacht. Die Wurzel allen Übels war aber seine Entscheidung vor gut zwölf Monaten gewesen, sich überhaupt ins Morddezernat versetzen zu lassen.
Die Sehnsucht nach einem spannenderen Tagesablauf hatte sich zweifelsohne erfüllt, die Begleitumstände hatten ihm aber von der ersten Ermittlung an zugesetzt. Er dachte an Fritz, der ihn für ein vielversprechendes Talent gehalten hatte. Aus kriminalistischer Sicht war das vielleicht so. Hannes neigte selten zu Eigenlob, wusste aber, dass er mit jedem Fall an Souveränität gewonnen hatte. Ausgerechnet jetzt, wo er allmählich Gefallen an seiner Tätigkeit gefunden hatte und auch die Beziehung mit Anna einer gemeinsamen Zukunft entgegenging, brach alles zusammen. Wie sollte er jemals wieder Opfern von Verbrechen oder deren Angehörigen gegenübertreten? Jetzt, da er wusste, wie sich reale Todesangst anfühlte, wie bitter Selbstvorwürfe schmeckten, wie beklemmend Einsamkeit war und wie dunkel es in der Seele werden konnte.
Was Fritz zu diesen Gedanken gesagt hätte, lag auf der Hand. Aus der Theorie ist Praxis geworden, sieh diese Erfahrung als den letzten Feinschliff an! Von einer derart pragmatischen Sichtweise war Hannes zumindest im Augenblick weit entfernt, zumal er diese Erfahrung erst einmal überleben musste. Die körperlichen Auswirkungen waren trotz Hunger und immer quälender werdendem Durst das geringste Problem. Die wirklich relevanten Schmerzen pochten hinter seiner Stirn und in seinem Herzen. Während er wieder auf Federsens halb offenen Mund – an dem der Schaum mittlerweile getrocknet war – starrte, fragte er sich, ob er die Dämonen jemals wieder loswerden würde. Vielleicht war es doch besser, sich beizeiten davonzumachen, anstatt jahrelang als Seelenwrack durchs Leben zu wanken? Zumindest hier und jetzt fühlte sich alles trost- und ausweglos an. War die Zeit in der Lage, alle Wunden zu heilen?
Er wollte weiterleben, er wollte es mit jeder Faser seines Körpers. Zugleich fragte er sich auf einmal, weshalb das so war. Welcher Sinn lag darin? Warum traf man Entscheidungen, kämpfte ständig um den vermeintlich richtigen Platz im Leben, litt, drohte, stritt oder liebte? Wieso versuchte man Reichtümer anzuhäufen oder Macht zu erlangen, wenn man irgendwann doch zu Humus wurde? Weil man so lange wie möglich überleben wollte?
Vielleicht, so dachte er, war es lediglich die Angst vor dem Tod, die man zwar auszublenden versuchte, die aber dennoch vorhanden war. In seiner Situation war diese Furcht sogar omnipräsent, sodass die Frage nach dem Sinn des Lebens eine Bedeutung wie nie zuvor erlangte. Zugleich war diese Frage auch deshalb quälend, weil es keine Antwort auf sie gab. Alle entsprechenden Erklärungsversuche waren letztlich nur Irrlichter. Seit Ewigkeiten wurde sie von den Menschen gestellt und hatte unterm Strich nur Elend, Leid und Krieg hervorgebracht. War dies aber die Schuld dieser einen zentralen Frage oder die Schuld derjenigen, die sie stellten? Hannes runzelte die Stirn. Schuld waren wohl eher diejenigen, die sich zu der Behauptung erdreisteten, die Antwort zu kennen. Und die Dummköpfe, die solchen Lügen glaubten und blind folgten.
Er drehte den Kopf zur Seite, um Federsen nicht mehr ansehen zu müssen. Es musste doch auch positive Aspekte geben! Forschung, der Drang nach Wissen, die Entwicklung von Moral und Toleranz. Wäre all das ohne die Frage nach dem Sinn des Lebens ebenfalls Bestandteil des Menschseins? Wo Schatten waren, musste es zwangsläufig Licht geben. Es war ein Naturgesetz, das wohl ebenso für die Psyche galt. Der Antwort kam er damit aber auch nicht näher. Alles wirkte noch sinnloser, als es ohnehin schon war. Hannes schloss die Augen und grübelte weiter. Wenigstens dachte er so nicht ununterbrochen an den Leichnam neben sich.
Der Abend zog herauf – und mit ihm das Wissen, dass die Stunde der Entscheidung näher rückte. Die Überprüfung des Wohnhauses der Krontals war abgeschlossen, weder war ein Sprengsatz noch etwas Vergleichbares mit durchschlagender Wirkung gefunden worden. Einem Techniker war dann aber doch ein ungewöhnlicher Gegenstand aufgefallen. Klein, unauffällig und dennoch tödlich. Lukas schien in gewisser Weise Gefallen an dem Gift gefunden zu haben, an dem erst seine Eltern gestorben waren und mit dem er auch das Fleisch am Hundeknochen versehen hatte.
Der Wasserhahn in der Küche war auf eine Weise manipuliert worden, die selbst dem erfahrenen Kriminaltechniker einen Ausruf des Erstaunens entlockt hatte. An der Zuleitung des Kaltwassers war ein kleiner Behälter angebracht worden, mit dem das Leitungswasser kontaminiert wurde. Wer auch immer den Wasserhahn geöffnet hätte, um sich ein Glas Wasser einzuschenken, er hätte das Stillen des Durstes mit dem Leben bezahlt. Lukas’ Anweisung, Juliane in das Haus seiner Eltern zu bringen, ergab auf einmal Sinn – zumindest aus seiner Perspektive. Der Behälter enthielt eine ausreichende Menge der todbringenden Substanz, um mehrere Liter Leitungswasser zu vergiften. Die Chancen, dass Lukas Juliane auf diesem Wege tatsächlich hätte umbringen können, hätten nicht schlecht gestanden.
Dem Fund der Kriminaltechniker war eine längere Diskussion gefolgt, ob man den fingierten Selbstmord der jungen Frau abblasen und stattdessen zum Schein Lukas’ Falle zuschnappen lassen sollte. Den Ausschlag hatte die Meinung des Psychologen gegeben, der darauf setzte, dass Lukas ab sofort auf ungeahnte Hindernisse stoßen sollte. Ohne Zweifel wäre der Selbstmord seiner Schwester eine derartige Blockade, die ihn mit einer unerwarteten Situation konfrontieren würde. Dass er sich in diesem Augenblick der zerplatzten Racheträume an seine Eltern wenden könnte, hielt der Psychologe nicht für unwahrscheinlich, nachdem er den Text der Flaschenpost gelesen hatte.
»Sehr aufschlussreich«, hatte er dazu gemeint.
»Aufschlussreich?« Marcel war anzusehen gewesen, dass er gegensätzlicher Meinung war. »Für mich ist das einfach nur ein Riesenhaufen Scheiße. Einerseits quält Lukas Menschen und schreckt vor Gewalt nicht zurück. Dann verhält er sich wieder wie ein … wie ein … dieser Brief klingt so, als habe ihn ein Kind geschrieben und kein Siebzehnjähriger! Ist der Kerl schizophren?«
»Davon gehe ich nicht aus. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Eine Flaschenpost an die Eltern zu schreiben, wirkt kindhaft und steht scheinbar im Widerspruch zu seinem gnadenlosen Vorgehen. Tatsächlich passt es aber ins Bild. Lukas ist hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Er sehnt sich nach Geborgenheit, ist aber mit der aus seiner Sicht grausamen Realität konfrontiert und überfordert.«
»Besonders überfordert kommt er mir nicht vor.«
»Seine Überforderung äußert sich in seiner drastischen Vorgehensweise. In einem Siebzehnjährigen steckt durchaus noch ein Kind, und der traumatische Verlust der Eltern hat es bei Lukas – bildhaft gesprochen – auch noch neu mit Leben gefüllt. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass er als hochbegabt gilt. Hochbegabte sind intellektuell oft sehr weit entwickelt, befinden sich aber emotional auf alterstypischem Niveau. In Lukas’ Fall vielleicht sogar unter dem alterstypischen Niveau – ausgelöst durch das Trauma. Das kann auch erklären, wie er sich seine eigene verquere Wahrheit zusammengebastelt hat. Es gibt nur Schwarz und Weiß. Gut und Böse.«
»Dann wird es Zeit, ihm die Nuancen zu verdeutlichen.«
»Aus der Distanz wird das nicht möglich sein. Was Sie brauchen, ist eine neue Strategie. Bringen Sie Lukas aus dem Konzept! Denn wenn Sie ihn weiter – wenn auch nur zum Schein – seinen Plan verfolgen lassen, wird er den Brief an seine Eltern wohl erst beenden, sobald er endgültig am Ziel angelangt ist. Da Sie befürchten, dass dieses Ziel erst mit dem Tod Ihrer Kollegen erreicht ist, rate ich dringend davon ab, ein Schauspiel in seinem Elternhaus abzuziehen. Der vorgetäuschte Selbstmord seiner Schwester erscheint mir besser geeignet.«
Diesen angeblichen Suizid über die Presse bekannt zu machen, stellte keine Herausforderung dar, wohl aber die genaue Formulierung des Textes. Eine ganze Stunde hatte Isabell mit dem Psychologen an jedem Satz gefeilt, bis er ihn als wirksam und zugleich glaubhaft einstufte. Grundtenor war die Verzweiflung der jungen Frau, und dass sie seit ihrer Inhaftierung von schweren Depressionen – ausgelöst von den Schuldgefühlen gegenüber ihren Eltern und dem Bruder – geplagt worden war. So weit entsprach die Darstellung noch den Tatsachen.
Dass sie sich aus Verzweiflung über die Taten ihres Bruders, für die sie sich darüber hinaus selbst verantwortlich machte, die Pulsadern aufgeschnitten hatte und trotz sofort eingeleiteter Rettungsmaßnahmen im Krankenhaus verstorben war, hatte man so nüchtern wie möglich und zugleich so plakativ wie nötig dargestellt. Die Pressestelle des Präsidiums hatte alle Redaktionen gebrieft, keine Änderungen am Text vorzunehmen. Ob dies auch so umgesetzt wurde, blieb abzuwarten.
Bisher hatten sich alle Redakteure an die Vorgaben gehalten, seit zwei Stunden wurde die Meldung im Radio und Internet wiedergegeben. Ob sie ihre Wirkung entfaltete? Isabell hatte daran ihre Zweifel, obwohl sie selbst die Idee aufgebracht hatte. Zu arrangiert kam es ihr nun vor und viel zu offensichtlich. Funktionieren konnte es trotzdem. Selbst wenn Lukas die Finte durchschaute, würde er das erste Mal echten Gegenwind verspüren. Was mochte dies in ihm auslösen?
Bislang offenbar nicht das Verlangen, den einsamen Strandabschnitt aufzusuchen. Bewusst hatte man darauf verzichtet, die zu diesem Ort führenden Straßen zu überwachen. Lukas sollte nicht abgeschreckt werden, am Strand konnte er sowieso nicht entkommen. Isabells Blick glitt über das Wrack des Fischerbootes. Es fühlte sich so an, als läge es Wochen zurück, seit sie zum ersten Mal mit Per hier gewesen war. In Wahrheit waren es erst zwei Tage.
Per hatte sich auf den Rücken gedreht und sah in den Himmel zu den vorbeiziehenden Schäfchenwolken hinauf. »Was Hannes und Federsen wohl gerade sehen?«
»Hoffentlich sehen sie überhaupt noch was«, rutschte es Isabell heraus. »Lukas könnte lediglich behaupten, dass sie noch am Leben sind. Und wenn er uns Julianes Selbstmord nicht abnimmt … na ja. Dann hätten wir das Leben der beiden auf dem Gewissen. Hätte ich nur diesen Vorschlag nicht gemacht!«
»Hannes hat sein Haupt selbst aufs Schafott gelegt. Wie konnte er nur so blöd sein?«
»Blöd?« Isabell schluckte eine heftige Erwiderung herunter. »Was hättest du an seiner Stelle getan? Versetz dich mal in seine Lage! Es war der einzige Ausweg, den er sah. Ich kann es nachvollziehen. Weiß nur nicht, ob ich den Mut dazu gehabt hätte.«
»Mut? Todesverachtung trifft es wohl eher. Ich hätte …«
»Psst!« Isabell fasste ihn am Arm. »Sieh mal nach unten!«
Per wälzte sich zurück auf den Bauch und spähte über den Rand der Klippe. Sie lagen dicht neben dem windschiefen Baum, der sich mit letzter Kraft an der Landzunge festklammerte. In regelmäßigen Abständen ertönte das Brechen der Wellen, der Wind hatte aufgefrischt. Erste weiße Schaumkronen waren draußen auf der Ostsee zu erkennen. Dazu ein dunkler Fleck, der näher kam. Als kurz darauf das Schreien einer Möwe verklang, war auch das Tuckern eines Motors zu hören.
»Da kommt ein Boot«, sagte Per überflüssigerweise. »Eher ein Kahn mit einem Außenborder.«
»Seh’ ich selbst. Was denkst du, fährt es hierher?«
»Wirkt zumindest so. Kann aber jemand ganz anderes sein.«
Schweigend verfolgten sie das sich dem Strand nähernde Gefährt, bis sich eine Stimme in Pers Funkgerät meldete. In Abständen von fünfzig Metern hatten sich Kräfte eines Spezialeinsatzkommandos verteilt und Deckung hinter Büschen gesucht. Im Gegensatz zu Isabell und Per waren sie gut ausgerüstet.
»Das ist der Gesuchte.« Die Stimme klang neutral. »Durchs Fernglas klar erkennbar. Die Küstenwache ist informiert, soll aber vorerst außer Sichtweite bleiben.«
»Nicht zu fassen! Der Mistkerl taucht tatsächlich auf!« Per klopfte Isabell euphorisch auf die Schultern. »Kannst deine Schuldgefühle einpacken.«
»Das mach ich erst, wenn ich Hannes und Federsen wiedersehe. Lebend.«
»Eins nach dem anderen. Jetzt kann man ihn fast schon mit bloßem Auge erkennen. Was für ein Hänfling das doch eigentlich ist.«
»Ist ja nicht so, dass du neben ihm wie ein Bulle wirken würdest.« Isabell ging die zunehmende Hibbeligkeit des Kollegen auf die Nerven. »Er verlangsamt das Tempo und sucht den Strand ab. Hoffentlich hat er keinen Verdacht geschöpft.«
»Auch egal. Jetzt entkommt er uns nicht mehr!«
Während das Boot die letzten Meter bis zum Strand zurücklegte, scannte Isabell den Strandabschnitt ab. Selbst von ihrem erhöhten Beobachtungspunkt aus konnte man nichts erkennen, was Lukas’ Misstrauen hätte wecken können. Kein Mensch war zu sehen, Möwen kreisten über der Wasserlinie, aus der Ferne erklang das Geräusch eines Traktors. Alles wirkte friedlich, als Lukas von dem Boot ins Wasser sprang und es ein Stück den Sand hinaufzog. Erneut sah er sich um, dann steuerte er das Wrack an.
»Zugriff?«, ertönte leise die Stimme aus dem Funkgerät.
»Nein.« Marcels Antwort klang bestimmt. »Lasst ihn erst die Flasche ausbuddeln und seine Botschaft aufschreiben. Vielleicht hilft uns das später weiter.«
»Verstanden.«
Unterdessen versuchte Isabell, ihre Gefühle für den jungen Mann einzuordnen, der da unterhalb von ihr über den Sand stapfte. So intensiv wie erfolglos hatten sie nach ihm gefahndet, und jetzt … war er auf einmal da. Fast schon zum Greifen nah. Das warme Licht dieses Sommerabends und der harmlos wirkende Jugendliche ließen es surreal erscheinen, dass gerade ein Gewalttäter, der seit Tagen die Polizei in Atem hielt, in eine selbst gebaute Falle marschierte. Wie würde er reagieren? Mit einem Fluchtversuch? Der wäre zum Scheitern verurteilt. Selbstmord? Das würden die Kollegen hoffentlich zu verhindern wissen. Gegenwehr?
Per hatte nicht unrecht, Lukas wirkte schwach und verletzlich – nicht nur wegen des Körperbaus. Isabell mochte sich kaum vorstellen, wie es in ihm aussehen musste, dass er sich zu einem solchen Irrsinn angetrieben fühlte. Der Polizeipsychologe hatte es zwar wissenschaftlich zu begründen versucht, es wirklich nachzuvollziehen gelang ihr aber nicht. Die Wut über seine Taten rang weiter mit dem Mitleid für seine gequälte Seele, auch wenn der Zorn längst überwog.
Lukas hatte das Wrack erreicht und stieg über die Reste der Bordwand. Isabell hielt den Atem an. Würde er bemerken, dass sich jemand an der Flasche zu schaffen gemacht hatte? Erleichterung durchflutete sie, als Lukas sich hinsetzte, den Verschluss öffnete und das Papier herausfallen ließ. Neben sich platzierte er einen Rucksack, aus dem er einen Stift zog. Dann streifte er den Faden ab und entrollte das Papier.
»Jetzt schreib schon!«, flüsterte Per, als Lukas regungslos dasaß und aufs Meer hinaussah.
Doch es vergingen weitere Minuten, bevor der Teenager den Kopf senkte und den Stift über das Papier gleiten ließ. Immer wieder setzte er ab, so als suche er nach den richtigen Worten. Eine Möwe landete dicht neben ihm und blickte mit schräg gelegtem Kopf zu ihm auf. Sekundenlang schienen sich die beiden in die Augen zu sehen – ein Bild, das Isabell berührte. Schließlich erhob sich der Vogel mit einem heiseren Schrei, und Lukas sah ihm noch lange hinterher, bevor er sich wieder der Flaschenpost widmete. Erst nach weiteren zehn Minuten verstaute er den Stift im Rucksack und rollte das Papier zusammen.
»Wartet, bis er die Flasche vergraben hat«, erklang Marcels Stimme.
Lukas hatte andere Pläne. Er verknotete zwar den Faden und zwängte die Papierrolle in den Flaschenhals, aber dann stand er auf und ging zum Boot zurück.
»Zugriff!«
Sekundenbruchteile nach Marcels Aufforderung kam Bewegung in die Szenerie. An mehreren Stellen rutschten Polizisten in Kampfmontur die Steilküste hinunter. Isabell war fasziniert, wie lautlos und schnell der Einsatz ablief. So war es nicht verwunderlich, dass Lukas gar nicht mitbekam, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Erst als sich die Einsatzkräfte mit gezogenen Waffen nur noch wenige Meter von ihm entfernt befanden, schien er ihre Anwesenheit zu spüren.
Er drehte den Kopf nach hinten, seine Augen wurden groß, der Mund stand offen. Dann sprintete er los und schleuderte im Davonrennen die Flasche mit voller Kraft ins Meer. Sekunden später wurde er von zwei Männern überwältigt und auf den Sandboden gedrückt. Dies war der Moment, in dem sich auch Isabell und Per erhoben. Vorsichtiger, aber auch ungeschickter als die anderen, kletterten sie zum Strand hinunter. Eine Frau, die sich die Sturmhaube bereits vom Kopf gezogen hatte, näherte sich. Ihre Hosenbeine waren nass.
»Kein besonders weiter Wurf«, kommentierte sie lapidar und drückte Isabell die Flasche in die Hand.
Isabell öffnete den Verschluss, bekam das Papier aber nicht heraus. Lukas hatte es diesmal nur lose zusammengebunden, sodass es nicht mehr aus dem Flaschenhals rutschen konnte. Auch Marcel war inzwischen eingetroffen. Wortlos nahm er ihr die Flasche aus der Hand und zerschlug sie an einem Felsen. Er rollte das Papier auf und las mit zusammengepressten Lippen. Dann wurde er bleich.
»Was ist?«, fragte Isabell alarmiert.
»Lukas schreibt, dass er seine Eltern gerächt hat. Alle, die an ihrem Tod Schuld hätten, seien jetzt selbst tot.«
Isabells Beine wurden schwach, sie musste sich an Per festklammern. »Das darf nicht wahr sein«, flüsterte sie. »Wir haben versagt!«
Marcel wischte sich mit dem Handrücken die Nase, eine rote Spur zog sich über seine Oberlippe bis zur Wange. »Dieser verdammte kleine Scheißkerl!« Er stürzte nach vorn und packte Lukas an den Schultern. Heftig schüttelte er ihn, sodass die beiden Einsatzkräfte Mühe hatten, den jungen Mann weiter fest im Griff zu behalten.
»Was hast du mit unseren Kollegen gemacht, du erbärmlicher Drecksack? Die beiden haben damals alles getan, um deine Eltern zu retten!«
»Sie haben versagt«, wiederholte Lukas Isabells Aussage – ohne es zu wissen.
»Der Einzige, der versagt hast, bist du! Ist es wahr, was du auf diesen Zettel gekritzelt hast?« Er wedelte mit dem Papier vor Lukas’ Gesicht.
Lukas’ dunkle Augen starrten ausdruckslos zu Boden, sein Gesicht wirkte wie eine Maske. Blass und regungslos. »Ihr solltet mich gehen lassen. Noch sind sie nicht tot.«
»Noch nicht?«
»Nein. Aber sie werden es sein, wenn ihr mich festnehmt.«
»Wieder eins von deinen Spielchen?« Marcel sah aus, als würde er seine Faust am liebsten mit aller Kraft zuschlagen lassen. Doch es war weiterhin nur seine Nase, aus der das Blut rann. »Hast du dir fein ausgedacht, aber noch mal lassen wir uns nicht verarschen.«
»Dann seid ihr selbst schuld.«
Isabell trat hinzu. Selbst wenn es unwahrscheinlich war, dass er die Wahrheit sprach, sollte man Lukas nach ihrer Meinung besser zuhören. »Wieso hast du geschrieben, dass alle tot sind? Wer sind alle?«
»Meine Schwester. Wenn auch anders als gedacht. Spielt aber keine Rolle.«
Isabell empfand keine Genugtuung, dass er wie erhofft auf die Falschmeldung hereingefallen war. »Wer noch, wenn unsere Kollegen angeblich noch am Leben sind?«
»Du sagst es. Sie sind noch am Leben. Ich habe aber dafür gesorgt, dass sie sogar ohne meine Anwesenheit in wenigen Stunden tot sein werden.«
»Kannst du mal mit deinem geschwollenen Gelaber aufhören?«, fuhr Per ihn an.
Nicht nur Isabell, auch Lukas sah ihn verdutzt an. Isabell, weil emotionale Ausbrüche nicht zu den Merkmalen ihres Kollegen gehörten, und Lukas, weil ihm vermutlich gar nicht bewusst war, dass er sich in den Ohren anderer gewählt oder gar affektiert ausdrückte.
»Fühlst dich wie ein Held, oder was?«, ereiferte sich Per weiter. »In Wahrheit bist du nur ein Muttersöhnchen mit einem riesigen Dachschaden. Dabei hast du Glück! Noch kannst du einigermaßen glimpflich davonkommen. Noch hast du keine Mordanklage am Hals. Und wahrscheinlich mildernde Umstände wegen dem, was dir passiert ist … dieser ganze Psycho-Scheiß eben.«
Abwartend sah Lukas ihn an. Per atmete einmal tief durch.
»Was ich sagen will: Du hast jetzt noch die Chance auf eine milde Strafe. Also spuck’s aus! Wo hältst du unsere Kollegen gefangen?«
Lukas zuckte mit den Schultern. Hatte er eben noch wie ein in die Ecke getriebenes Kind gewirkt, war er nun wieder selbstsicher, fast schon arrogant. »Es bleibt dabei. Lasst mich frei, dann lasse ich die beiden auch frei.«
»Nichts da.« Marcels Zeigefinger landete auf Lukas’ schmächtiger Brust. »Dass wir dich laufen lassen, kannst du vergessen. Ansonsten kann ich nur jedes Wort meines Kollegen unterstreichen. Zieh die Reißleine, bevor …«
»Lasst mich gehen, sonst seid ihr am Tod eurer Kollegen schuld.«
Marcel brachte sein Gesicht dicht an das von Lukas heran. »Nicht wir sind schuld, sondern du! Hör auf damit, dir Sündenböcke zu suchen. Das funktioniert nicht.«
»Ändert nichts daran, dass ihr sie hättet retten können.«
»Rede endlich!«, brüllte Marcel.
Lukas reagierte weder mit einer Antwort noch mit einem Zusammenzucken.
»Arschloch!« Jetzt landete Marcels Faust doch einen Treffer. Lukas sackte zusammen, als ihm der Schlag auf den Magen die Luft herauspresste. Düster sah Marcel zu seinen Kollegen hinüber, und Isabell entdeckte in seiner Mimik, dass er zu der gleichen Erkenntnis gelangt war wie sie selbst: Lukas war es egal, was mit ihm passierte. Er wollte, dass die Botschaft an seine Eltern wahr wurde. Alle, die in seinen Augen für ihren Tod verantwortlich waren, sollten sterben. Wenn es nicht schon längst passiert war.
Ohne die Anwesenheit von Socke und Hannes fühlte sich das Gartenhaus leer und deprimierend an, sodass sich Ben auf die Terrasse verzogen hatte. Die Dämmerung war der Dunkelheit gewichen, knisternd sprangen Funken aus dem Feuerkorb nach oben. Kurz überlegte er, ob er die beiden Personenschützer an seinen Tisch bitten sollte, entschied sich aufgrund der Marihuana-Krümel in seiner Tabakmischung aber dagegen.
Tief inhalierte er den ersten Zug, er hatte nur eine geringe Dosis gewählt, um nicht völlig weggetreten zu sein, sollte Isabell ihn erreichen wollen. Seit er sie vor Stunden im Krankenhausflur verlassen hatte, wartete er vergeblich auf einen Anruf, was seine Stimmung nicht aufhellte. Er malte sich aus, welche Qualen Hannes gerade erleiden mochte – an das Schlimmste wollte er gar nicht denken und tat es natürlich trotzdem. Dass Anna ahnungslos im Krankenhaus lag und ihren Freund in Sicherheit wähnte, setzte ihm zusätzlich zu. Natürlich sah er ein, dass es so am besten war. Ihr jetzt gegenüberzutreten, wäre ihm allerdings unmöglich gewesen.
Wieder und wieder dachte er darüber nach, ob Hannes irgendetwas gesagt hatte, woraus Rückschlüsse über seinen Aufenthaltsort gezogen werden könnten. Doch Hannes hatte selbst keine Ahnung gehabt, wohin ihn Lukas hatte locken wollen. Isabells Worte hallten in Bens Kopf nach. Hannes ist wie vom Erdboden verschluckt. Es war eine treffende Beschreibung und würde auch erklären, weshalb das Signal des Peilsenders nicht empfangen werden konnte. War Lukas schneller als erwartet zur Tat geschritten? Hatte er Hannes irgendwo verbuddelt? Das hätte allerdings ein sehr tiefes Loch sein müssen, wenn man den Beteuerungen des Technikers, der ihm das Gerät ausgehändigt hatte, Glauben schenken konnte.
Doch der Gedanke setzte sich in Ben fest. Isabell hatte ihm zwar berichtet, dass in den letzten Tagen schon hunderte leer stehende Bauten und auch Kellerräume durchsucht worden waren, aber was war mit den bewohnten oder anderweitig genutzten Gebäuden? Man konnte nur auf einen Zufallsfund hoffen. Doch selbst wenn Lukas einen derartigen Unterschlupf nutzte, blieb es merkwürdig. Der Sender war der stärkste im Polizeisortiment gewesen. Was für ein Bau konnte dermaßen abgeschirmt sein, dass das Signal nicht nach außen drang?
Er wusste, dass sich die Polizisten ähnliche Gedanken machten und bereits Überprüfungen vorgenommen hatten. So zum Beispiel auf einem ehemaligen Militärgelände, das zu Lukas’ Faszination von lost places gepasst hätte. Ben stand auf und ging ins Haus, um seinen Laptop hochzufahren. Eine Weile klickte er sich durch Videos von ehemaligen Krankenhäusern, Landsitzen, Schwimmbädern oder Industrieanlagen aus aller Welt. Es musste aber ein Ort sein, der sich ganz in der Nähe befand. Dass die Ermittler ein komplettes Gebäude übersehen hatten, war unwahrscheinlich. Der Radius war eingegrenzt und damit …
Bens Finger blieb über der Tastatur hängen, als er die Beschreibung eines weiteren Videos las. Ein unterirdischer Bunker! So ein Überbleibsel aus der Zeit des Naziregimes oder des Kalten Krieges wäre natürlich denkbar! Ben griff zum Telefon. Er selbst hatte dazu nur rudimentäre Kenntnisse, aber als Anti-Nazi-Aktivist war er gut vernetzt. Zehn Minuten später hatte er genügend Informationen, um Isabell anzurufen.
»Sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe.« Sie klang erschöpft. »Wir konnten endlich Lukas verhaften und …«
»Das ist ja fantastisch!«
»Freu dich nicht zu früh. Wir versuchen seit Stunden, etwas aus ihm herauszupressen, aber er weigert sich, das Versteck zu verraten.«
»Schade, dass ihr nicht die CIA seid.« Ben meinte diese Worte nicht mal zynisch. »Isabell, mir ist eine Idee gekommen, die euch weiterhelfen könnte. Habt ihr an unterirdische Bunkeranlagen gedacht?«
Einen Moment herrschte Stille in der Leitung. Dann klang Isabells Stimme schon wacher. »Kannst du konkreter werden?«
»Es gibt ober- und unterirdische Bunkeranlagen. Manche wurden restauriert und sind heute Museen oder werden anderweitig genutzt. So ein Hochbunker steht in Hamburg auf dem Heiligengeistfeld. Aber es gibt natürlich auch unterirdische Anlagen. Viele sind vergessene Ruinen, aber einige sind bekannt.«
»Ich muss das überprüfen. Es wurden aufgegebene Militäranlagen durchsucht, das weiß ich. Ob auch Bunker darunter waren – keine Ahnung.«
»Es könnte ein bislang unbekannter Bunker sein.« Ben ging in seinem Wohnzimmer auf und ab. »Ich hab grad mit ein paar Leuten telefoniert, einer davon jobbt beim Landesamt für Denkmalpflege. Dort sind dreiundfünfzig Bunker bekannt, das heißt aber nicht, dass es nicht noch mehr geben könnte.«
»Wie kommen wir an die Liste?«
»Bekomm ich gleich per Mail, dann leite ich sie dir weiter. Aber wichtiger dürften die unbekannten Bunker sein.«
»Und du denkst, dass Lukas über einen gestolpert ist?«
Bens Stimme überschlug sich vor Tatendrang und kaum zurückgehaltener Euphorie. »Das würde erklären, weshalb man den Peilsender nicht orten kann. So ein Ding ist aus meterdickem Beton und Stahl gebaut, und wenn er dann noch unterirdisch ist …«
»… hätte selbst der stärkste Sender keine Chance.« Isabell ließ sich hörbar von Bens Aufregung anstecken. »Ich bin bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. Das Problem ist nur … was machen wir, wenn Lukas keinen bekannten Bunker benutzt hat?«
»Wendet euch an Leute, die sich mit lost places beschäftigen. Ich kenne leider niemanden aus dieser Szene, aber vielleicht gibt es sogar Gruppen, die sich auf solche Anlagen spezialisiert haben.«
»Ich klemme mich dahinter. Schick mir die Liste, sobald du sie hast.«
Isabell beendete das Gespräch, und Ben aktualisierte wieder den Posteingang seines Mail-Accounts. Noch immer war die Auflistung nicht eingetroffen, aber sein Kontaktmann hatte von zu Hause auch keinen Zugriff auf das Dokument. So verging eine weitere halbe Stunde, in der sich Ben fragte, ob er die Ermittler nicht gerade auf eine falsche Fährte führte, die am Ende nur kostbare Zeit verschwendete. Aber so wie Isabell geklungen hatte, gab es ohnehin keine aussichtsreichere Variante. Zumindest wenn man die Option, Lukas den Ort unter Folter herauszupressen, nur als Wunschgedanken zuließ. Ben drehte mit zitternden Fingern an seinem dritten Joint, als endlich ein Aufblinken den Empfang einer Mail signalisierte.
Per war es zu verdanken, dass in den frühen Morgenstunden eine weitere Bunkeranlage in den Fokus geriet. Zuvor hatte man die Liste abgearbeitet, die Ben kurz nach Mitternacht übermittelt hatte. Von den dreiundfünfzig Bunkern, die dem Landesamt für Denkmalpflege bekannt waren, lagen immerhin zwanzig in dem infrage kommenden Radius. Acht davon waren schon in den letzten Tagen überprüft worden, bei allen handelte es sich um oberirdische Anlagen. Die verbleibenden zwölf waren noch in der Nacht aufgesucht worden, aber die Vermutung, dass man sich vergeblich auf den Weg machte, hatte sich bestätigt. Alle Gebäude dienten modernen Zwecken, so war in einem eine Diskothek untergebracht, ein anderes war zu einem Wohnhaus ausgebaut und aufgestockt worden.
Parallel war eine Internetrecherche gestartet und Kontakt zu Liebhabern von lost places gesucht worden, was sich angesichts der Uhrzeit als schwieriges Unterfangen herausgestellt hatte. Per war auf eine Gruppe gestoßen, die sich zwar nicht auf Bunker spezialisiert, aber zumindest des Öfteren welche aufgesucht und Videos davon bei YouTube hochgeladen hatte. Als der Kontakt endlich hergestellt worden war, hatten die Ermittler immerhin drei weitere Orte genannt bekommen, einer davon hatte besonders vielversprechend geklungen, da er unterirdisch gelegen war. Die ernüchternde Nachricht, dass auch dieser Tipp nicht zum Erfolg geführt hatte, war vor fünf Minuten eingetroffen.
Per gelang es kaum, die übermüdeten Gesichter in Regung zu versetzen, als er den Konferenzraum betrat – oder vielmehr erstürmte.
»Es gibt einen Bunker, den wir noch nicht durchsucht haben!«
Clarissa hob kaum den Blick. »Wir sollten lieber einen anderen Psychologen auf Lukas ansetzen, der bisherige bringt nichts aus ihm heraus.«
»Sollen wir etwa aufgeben?« Ernüchterung breitete sich auf Pers Gesicht aus.
»Natürlich nicht.« Marcel nickte ihm zu, er sah aus, als sei er selbst gerade erst aus einem Kerker entkommen. »Wie bist du darauf gestoßen?«
»Hab mir die halbe Nacht YouTube-Videos reingezogen. Die meisten zeigten bekannte Bunker oder solche, die weit außerhalb des möglichen Gebietes liegen. Bis eben.«
Vielsagend sah er in die Runde, und Clarissa hob drohend die Faust. »Wenn du jetzt wieder mit deinen Kunstpausen anfängst, schlag ich dir in die Fresse, das schwör ich. Das ist grad so was von fehl am Platz, das …«
»Wo liegt diese Anlage?«, ging Marcel besänftigend dazwischen.
»Genau kann ich das nicht sagen, ihr müsst euch den Clip gleich mal selbst ansehen. Der Zugang ist von einer schrägen Stahltür versperrt gewesen, dort machte die Kamera einen Schwenk. Ist zwar ein zugewuchertes Gelände, aber in der Entfernung konnte ich einen Leuchtturm erkennen, der mir bekannt vorkam. Nur wurde das Video in der Dämmerung aufgenommen, ich kann mich also täuschen.«
»Von wem wurde der Clip eingestellt?«
»Der Nutzername ist fantastico LoPla , das LoPla steht wahrscheinlich für lost places . Der User ist nicht besonders aktiv, hat nur noch vier weitere Videos von anderen Orten hochgeladen. Alle vor zwei Jahren.«
»Und wer verbirgt sich dahinter?«, fragte Isabell.
»Keine Ahnung. Der Kameramann ist nicht zu sehen. Wir könnten natürlich eine offizielle Anfrage an YouTube schicken, aber …« Er winkte ab. »Das Interessanteste an dem Clip ist neben dem Leuchtturm das eigentliche Bauwerk. Es ist ein eher untypischer Bunker. Hinter der Stahltür führt eine Treppe steil nach unten, dann geht ein Gang ab, der in einen Raum mündet. Der Gang macht eigentlich keinen Sinn, ist aber trotzdem da.«
»Und was ist daran interessant?«
»Der Gang ist nicht interessant, aber der Raum. Ich hab mir die Fotos angesehen, die Lukas uns geschickt hatte. Das zweite mit Hannes bringt nicht viel, da steht das Bett an einer anderen Stelle. Aber das erste, auf dem nur Federsen zu sehen ist …« Er ging zum Whiteboard und nahm die vergrößerte Fotografie ab. »Hier in der Ecke: Da ist ein Stück von der Wand herausgebrochen. Und genau so was sieht man auch in dem Film.«
Marcel stand auf. »Klingt tatsächlich nach einer heißen Spur! Zeig uns das Video, und dann führ es Lukas im Beisein des Psychologen vor. Clarissa, du gehst mit und achtest auf seine Reaktion. Isabell und ich, wir machen uns auf den Weg in das Gebiet. Lässt sich der Ort grob eingrenzen?«
»Bestimmt.« Per deutete auf einen Kartenausschnitt an der Wand. »Ungefähr hier. Ich bin aber kein Experte. Bestimmt kann man aufgrund der Entfernung des Leuchtturms, des Bewuchses und der Himmelsrichtung die Position noch näher bestimmen.«
»Kümmere dich darum, und informiere dann Isabell und mich.«
»Und jetzt führ uns dieses Video endlich vor«, forderte Clarissa und deutete auf einen Laptop, der an einen Beamer angeschlossen war.
Gebannt sahen die Ermittler schließlich fünf Minuten lang zu, wie ein Unbekannter in den Untergrund stieg und mit einer Taschenlampe Gang und Wände ableuchtete. Eigentlich war es nicht spektakulär, da sich in dem Bunker keine Gegenstände befanden, nicht einmal Zeichnungen an den Wänden. Als das Licht aber auf eine Ecke des Raumes fiel, stoppte Per den Film, und alle verglichen die Aufnahme mit dem Foto. Keiner sagte ein Wort, vermutlich dachten aber alle das Gleiche. Mit größter Wahrscheinlichkeit hatten sie den Ort identifiziert, an dem das Bild von Federsen aufgenommen worden war. Ob er und Hannes noch lebten, oder ob die beiden woandershin gebracht worden waren, würden sie erst erfahren, wenn sie selbst die steile Treppe hinabgestiegen waren.
Durst war schlimmer als Hunger. Lethargisch lag Hannes auf der Matratze und starrte in die Dunkelheit. Das Licht der Campinglaterne war schon vor Stunden erloschen, sodass ihm zumindest der Anblick seines leblosen Chefs erspart blieb. Allerdings hatte er sich schon daran gewöhnt, neben einer Leiche zu liegen, er war emotional abgestumpft. Noch immer tickte der Wecker, ohne dass er das Vorrücken der Zeiger beobachten konnte. Das Geräusch erinnerte ihn jede Sekunde daran, dass Lukas sich auf der Suche nach einem neuen Opfer befand.
Der war jedoch nicht mehr hier gewesen, wie konnte er dann überhaupt wissen, ob Hannes aus der Flasche getrunken hatte oder nicht? Vermutlich ging er einfach davon aus, dass der Selbsterhaltungstrieb die Oberhand behielt. Oder war in dem Raum eine Kamera angebracht worden, die sogar in der Dunkelheit Filmaufnahmen machte? Für den Fall der Fälle hatte Hannes beschlossen, sich tot zu stellen. Er hatte sogar simuliert, an der Flasche gesaugt und anschließend mit dem Tod gerungen zu haben. Ob er überzeugend gewesen war? Vermutlich würde er es nie erfahren. Die Resignation hatte schließlich dafür gesorgt, dass es ihm egal war. Was spielte es für eine Rolle angesichts der Gewalttaten, die sich Stunde für Stunde überall ereigneten? Ein Opfer mehr oder weniger fiel da nicht ins Gewicht. Nicht mehr lange, und er würde selbst dazugehören.
Ganz entfernt, am Rande seiner Wahrnehmung, meinte er, ein Geräusch zu hören. Er schloss die Augen. Wenn Lukas doch auftauchte, wollte er das Täuschungsmanöver fortsetzen, auch wenn es wohl nichts nützte. Er vernahm Schritte, dann spürte er einen Luftzug. Die Tür musste aufgegangen sein, durch die geschlossenen Lider nahm er einen Lichtschein wahr, der kurz darauf greller wurde. Lukas hatte also die Lampe auf ihn gerichtet, Hannes vermied jeden Atemzug.
Dann hörte er einen Schrei. »Da liegen sie. Beide … oh mein Gott! Zu spät!«
Das Schluchzen drang kaum zu Hannes durch, er versuchte, Herr über seine Sinne zu werden. Diese Stimme … klang bekannt, hoch und … Isabell! Seine Lider fühlten sich tonnenschwer an, als er sie langsam öffnete. Nach den Stunden in der Dunkelheit musste er ein paar Mal blinzeln, bevor er ein klares Bild erhielt. Der Schein einer Taschenlampe war auf die Decke gerichtet, sie wurde von Marcels Hand umklammert, der gerade Isabell in den Arm nahm. Im Hintergrund erkannte Hannes, dass weitere Gestalten den Raum betraten, ohne dass er sie zuordnen konnte. Er öffnete den Mund, aber kein Geräusch kam heraus. Die Zunge fühlte sich fremd an, genauso wie der Rest seines Körpers.
Er räusperte sich leise. Dann bewegte er seine Arme, sodass die Handschellen klirrten. Isabell und Marcel erstarrten, ruckartig bewegten sich beide Köpfe in seine Richtung. Mit schnellen Schritten traten sie an das Bett, das Licht war jetzt genau auf Hannes’ Gesicht gerichtet. Er schloss die Augen.
»Wasser …«, flüsterte er.
»Hannes! Das ist … mein Gott, was bin ich froh!« Er spürte Isabells Umarmung und ihr feuchtes Gesicht an seiner Wange.
»Wasser …«, wiederholte er.
»Natürlich, entschuldige … Marcel, gib mir die Flasche!«
Sekunden später spürte Hannes die Öffnung an seinen rauen Lippen, vorsichtig flößte Isabell ihm die Flüssigkeit ein. Die ersten Schluckversuche waren schmerzhaft, und er verschluckte sich, obwohl sie ihm den Kopf hielt. An seinen Handgelenken machte sich jemand zu schaffen, dann waren sie frei. Kraftlos fielen seine Arme zur Seite, der rechte landete auf Federsens Brustkorb. Hannes ließ ihn liegen und öffnete wieder die Augen. Isabells Gesicht war dicht vor ihm.
»Wie geht es dir? Wir haben Sanitäter dabei, die …«
»Federsen«, brachte Hannes hervor. »Er ist tot. Lukas hat ihm Gift gegeben … oder eigentlich war es für mich … also eigentlich sollte ich tot sein, aber ich dachte, er braucht es mehr als ich, das Wasser, aber dann … es war furchtbar, wie er … dabei hätte ich es trinken sollen, nur …«
»Ruhig, Hannes.« Marcel setzte sich neben Isabell. »Du kannst uns nachher alles erzählen. Komm erst mal zu dir.«
»Lukas!« Hannes versuchte sich aufzurappeln. »Er will … wenn ich nicht auch Gift trinke, bringt er jemanden um. Und ich habe nicht getrunken. Wenn jetzt … habt ihr schon jemanden gefunden?«
»Ja.« Sachte legte ihm Marcel eine Hand auf die Schulter. »Wir haben ihn gefunden. Er ist aus dem Verkehr gezogen worden, du kannst beruhigt sein.«
Hannes nahm noch einen Schluck, dann schloss er wieder die Augen. Beruhigt sein. Es klang zu schön, um wahr zu sein, und erreichte sein aufgewühltes Inneres noch nicht. Er hatte so viele Gedanken gewälzt, Befürchtungen gehabt – sollte es jetzt vorbei sein? Einfach so? Wie konnte es das, wo doch Federsen tot war!
Die Beantwortung dieser Fragen verschob er auf später. Im Moment war er einfach nur unglaublich müde. Halb zog er die Augenlider wieder nach oben und beobachtete, wie sich Sanitäter an ihm zu schaffen machen. Isabell hielt die ganze Zeit seine Hand, vermutlich wollte sie ihm Trost und Kraft gleichzeitig spenden. Aber Hannes spürte nichts. Sich endlich in den Schlaf fallen zu lassen, wirkte so verlockend. Bevor er wegdämmerte, drehte er noch einmal den Kopf zu Federsen.