X

Dieses Buch ist nicht das, was meine Mutter lesen möchte.

Es ist auch nicht das, was mein Vater lesen möchte.

Und obendrein wird mein Bruder es nie lesen.

Vor allem, weil man ihn nicht gerade einen guten Leser nennen kann. Aber auch, weil er seit sieben Jahren nicht mehr mit mir spricht.

Um ehrlich zu sein, ist es auch nicht das Buch, das ich schreiben möchte. Ich muss aber. Das Bedürfnis ist so groß geworden, dass ich nicht mehr anders kann. Als wäre jetzt der Moment gekommen. Ich weiß nicht, ob man das versteht. Als hätte in der verfluchten Sanduhr, in der ich wie ein Strauß leben konnte, mit dem Kopf im Sand, nun endlich auch das letzte Sandkorn beschlossen, sich in Bewegung zu setzen und wie alle anderen runterzufallen. Was den Strauß im Sand der Uhr tötet. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als das Glas, die Zeit, zu zertrümmern. Oder wenigstens zu versuchen, die Sanduhr umzudrehen. Und neu anzufangen. Zumindest dafür zu sorgen, dass ich eine Chance habe, es zu tun.

Während ich schreibe, betrachte ich das kleine X, das ich mir auf den Ringfinger habe tätowieren lassen. Davor befand sich an dieser Stelle ein winziges Muttermal: Mein Bruder hatte – hat? – ein genau gleiches.

Wenn mich jemand fragt, was das X bedeute, ob es ein Buchstabe oder eine römische Zahl sei, gebe ich keine Antwort. Ließe sich das, was hinter einem Tattoo steckt, in wenigen Worten mitteilen, hätte man gar kein Bedürfnis, es sich stechen zu lassen. Dafür sind Symbole doch da: Synthese. Das Unbewusste von Individuen fischt im kollektiven Unbewussten, um mit dem Unbewussten anderer Individuen zu kommunizieren.

Ich werde hier zum ersten Mal erzählen, was hinter diesem Tattoo steckt. Um das Erlebte nicht zu vergessen, es zu verarbeiten, es zu begreifen. Das Motiv – der Grund, warum ich mir diese kleine Marke auf den Finger setzen lassen wollte – ist viel simpler als das Erlebte. Ich wollte immer vor Augen haben, dass ich Nein sagen kann. Dass ich manchmal Nein sagen muss. Das war für mich nie eine Selbstverständlichkeit, und als mir das bewusst wurde, beschloss ich, mit meinem Körper einen Pakt zu schließen, um es nicht mehr zu vergessen.

Aber, um noch einmal zurückzukommen auf die Symbole, auf das individuelle und das kollektive Unbewusste, die immer miteinander kommunizieren, auch wenn sie nicht wollen: Ein X bedeutet sehr vieles.

X ist das Tabu, das Verdrängte. Mein Verdrängtes, dein Verdrängtes, das Verdrängte aller. Nur wenn man aufhört, sich so zu verhalten, als würde es nicht existieren, kann man weitermachen. Davon bin ich überzeugt.

X markierte auf den Landkarten, die wir als Kinder zeichneten, den Piratenschatz.

X ist die Lust, Geheimnisse auszugraben. Alle. Und mit diesen Geheimnissen endlich Schluss zu machen.

X sind zwei Wege, die sich kreuzen und dann wieder voneinander entfernen, aber den einen gemeinsamen Punkt gab es, er bleibt. Zuerst war an diesem Kreuzungspunkt ein kleines Muttermal. Am Kreuzungspunkt zweier gleicher, gegenläufiger Linien. Wie Schwester und Bruder.

X ist ein stilisierter Schmetterling, der früher eine Raupe war und nun wie das schöne Wesen behandelt wird, das er nicht ist, als das er sich nicht fühlt. Vielleicht hat sich dieser Schmetterling gerade die Nase korrigieren lassen. Vielleicht lag das in seinem Schicksal – eine Operation als Verpuppung, ein neues Gesicht für alte Lügen. Es lag vielleicht in seiner Natur, vielleicht übt die Natur selbst Gewalt aus, und die Schmetterlinge üben am meisten Gewalt aus von allen. Aber auch sie verdienen es, sich erklären zu dürfen, damit sie endlich aufhören, sich wie Raupen zu fühlen, die alle anderen mit festlich bemalten Ikarusflügeln zum Narren halten.

X ist ein Kreuz. Ein schiefes – so schief wie die Art und Weise, auf die manche Figuren in dieser Geschichte ihre Spiritualität leben. Ein zum Teil katholisches, zum Teil keltisches Kreuz. Manchmal ist es schwierig, die beiden voneinander zu unterscheiden, beide haben sich verzogen. Was ich erzählen werde, hat auch mit einer Handvoll Faschisten zu tun, vor allem aber mit dem unbewussten Faschisten in uns allen. Es geht um Tabus. Um die Schwierigkeit, sie zu brechen. Um die Notwendigkeit, es zu tun, es jetzt zu tun. Bevor sie uns zerbrechen.

X ist vor allem, und das gilt teilweise auch für mich, die ich darüber schreiben will, eine Unbekannte. Um die Gleichung zu lösen, muss die Unbekannte gefunden werden. Ich werde es versuchen.

Mir ist klar, dass der Piratenschatz nicht für alle interessant ist. Dass es mühselig ist, ihn zu finden, dass man sich auf eine alte Karte verlassen muss, die von irgendjemandem gezeichnet wurde. Dass dieser Irgendjemand sehr vage geblieben ist in Bezug auf das Ziel der Suche. Es scheint zu viel Zeug wild durcheinander unter dem Sand zu liegen.

Übrigens weiß ich genau, dass manche Leute der Meinung sind, die Tabus – die vielen X, die wir tagtäglich totschweigen – hätten Tabus zu bleiben. Sie glauben, dass es einen Grund gibt, warum über manches nicht gesprochen wird. Dass anständige Leute das nicht tun. Dass Familien zerbrechen, Beziehungen zerstört werden könnten. Man fürchtet die Schande, und das ist gut und richtig. Aber Scham und ein gesundes Schamgefühl sind nicht dasselbe. An Tabus sind Familien zerbrochen. An Tabus sind Personen zerbrochen. Ich könnte eine von ihnen sein. Auch du, Leserin oder Leser. Meines Wissens könnten wir alle eine von ihnen sein.

Ich habe unbändige Lust, im Leben weiterzumachen, aber mir ist bewusst geworden, dass ich das nicht tun werde, wenn ich nicht aufhöre, Strauß zu spielen. Und dass es vielleicht ratsam wäre, darüber zu sprechen. Ich verabscheue Scham, für mich ist sie nur fruchtbarer Boden für Mauern, Stillschweigen, omertà. Vor allem fruchtbarer Boden für Gewalt. Weil Gewalt Scham erzeugt. Und Scham wiederum Gewalt hervorruft. Ein mir wohlbekannter Teufelskreis, und ich bin es so leid, Spielfigur in einer fremden Partie zu sein. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden, damit man sich nicht in den eigenen Schwanz beißt wie Nietzsches Schlange der ewigen Wiederkunft, die sich nur von sich selbst ernährt, ohne je satt zu werden. Man muss vermeiden, es traumatisierten Kindern nachzumachen, die das Erlebte immer wieder nachspielen und vergeblich versuchen, es zu verarbeiten. Man muss den Mut finden, zu reden.

Wie vermutlich klar geworden ist, oder vielleicht auch nicht, ist das ein Buch über Gewalt. Aber auch über Liebe. Unter diesem X ist nämlich beides zu finden. Was mich betrifft, bin ich sicher, dass ich mich mit dem ersten Thema auseinandersetzen muss, um des zweiten je würdig zu sein. Weil ich mich, zuerst aufgrund einer Reihe von Zufällen und dann aufgrund mehr oder weniger frei gefällter Entscheidungen, zu sehr von dieser Gewalt habe durchdringen lassen. Irgendwann wurde ich zu etwas, was man als Gewaltstimulanz bezeichnen könnte. Vom Rotkäppchen zur Wölfin. Ich drohte es zu werden – eine Zeit lang sah es so aus, und die Gefahr ist noch nicht gebannt. Friss oder du wirst gefressen. Nachdem ich mich lange nicht hatte beugen wollen, wurde ich irgendwann, in einem heiklen Moment – sei es, weil mir die Kräfte ausgingen, sei es aus Feigheit – selbst zu einem Rädchen in diesem mir verhassten System.

Was ich hartnäckig »Geschichte« nenne, sind in Wirklichkeit Briefe, ist eine Flut, ein Tsunami an Briefen, die ich zu schreiben anfing, nachdem etwas bis heute Unerklärliches geschehen war. Auf jedem dieser Briefe steht der Name meines Bruders. Meines Bruders, der vor sieben Jahren einfach so verschwand, ohne jede Begründung. Eines Nachts – an Weihnachten 2018 – zeichneten die Überwachungskameras in der Garage unserer Eltern auf, wie er sich an ihren Autos ausließ. Während mein Vergewaltiger für ihn Schmiere stand.

Dieses Buch ist nicht das, was meine Mutter lesen möchte.

Es ist auch nicht das, was mein Vater lesen möchte.

Und obendrein wird mein Bruder es nie lesen.