Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Sieben Jahre Funkstille sind echt lang. Ich muss mich auf meinen Instinkt verlassen. Und der führt mich – warum auch immer – zu einer Erinnerung, oder genauer gesagt zum Detail einer Erinnerung. Ich schreibe sie am besten einfach mal auf.
Die Erinnerung bist du im Wohnzimmer, das Detail ist die Art, wie dein rotes Power-Ranger-Kostüm sich mit dem Orange des Sofas beißt.
Es ist Karneval, und meine Mutter hat mich gezwungen, ein Sissi-Kleid anzuziehen. Ich kann noch nicht wissen, dass sie ein völlig untaugliches Vorbild ist, die magersüchtige österreichische Prinzessin Sissi, deren lila-perlweißes Kleid der große Renner unter uns Mädchen der neunziger Jahre ist, dieser Generation, die eine der höchsten Todesfallzahlen wegen Magersucht aufweisen wird. All das kann ich noch nicht wissen: Ich bin acht Jahre alt, bin noch klein. Ich weiß aber, dass der Stoff juckt und das Kleid unangenehm zu tragen ist mit diesem Reif, der es in Form hält und zwingt, offen zu stehen wie die Kronblätter der Blüte, die ich nicht sein will, als die ich mich nicht fühle, die ich als langweilig empfinde – ich fühle mich zu Bewegungslosigkeit verurteilt, damit andere mich anschauen können. »Was für ein schönes Mädchen«, puh. Ich laufe, ohne dass Mama es merkt, ins Zimmer und ziehe das Sissi-Kostüm aus. Du hast mir vom Sofa aus noch zugezwinkert, du, mein Bruder, mein Komplize. Ich mache ganz schnell, aber doch mit dem Gefühl, das Recht auf meiner Seite zu haben, öffne den Schrank und ziehe deinen orangen Goku-Anzug an. Und dann fühle ich mich endlich – endlich – frei. Frei zu spielen, zu springen, zu hüpfen.
Wir verbringen den Nachmittag damit, miteinander zu kämpfen, machen die beiden Sofas vor dem Fernseher zu unserem Archipel des Vergnügens, unserem Wrestlingring. Du spielst Rey Mysterio, einen quirligen kleinen Akrobaten. Ich bin John Cena, der harte Kerl aus Übersee. Aber unsere Ringkämpfe sind konfus – ab und zu schleudere ich dir eine Energiewelle entgegen, beziehe mich auf die falsche Fernsehsendung, und du kitzelst mich, statt mich zu Boden zu werfen und bis zehn zu zählen. Aber wir haben Spaß, lachen viel. Bei unseren Spielen ist am Schluss nie jemand wirklich k. o.
Eine andere Erinnerung. Nachdem du gegangen warst, wurde mir bewusst, dass ich die Erinnerungen hätte konservieren sollen, solange es noch möglich war. Und dass es weniger sind, als ich gerne hätte. Fast alle sind etwas albern.
Sie gehören zu den wertvollsten Dingen, die ich habe.
Nun also diese Erinnerung: Wir verbringen den Nachmittag damit, uns Trickfilme anzusehen, die Papa als »Mädchenzeug« einstufen würde: Rossana, Mila Superstar, Sailor Moon. Du machst mir die Türen auf zur Freiheit, ein bisschen Junge zu sein, und umgekehrt öffne ich dir die Türen zur sogenannten Mädchenwelt. Mit der Zeit wird uns klar werden, dass das eh alles Quatsch ist. Wir haben einfach mehr Wissen über die Welt, über den anderen. Mein erster Anderer warst du.
»Dulefu bilefist dolefof!«, rufst du fröhlich. Durch deine Eckzahnlücke erspähe ich schon die Zunge, die du mir gleich rausstrecken wirst. Als wäre das nötig: Du hast eben du bist doof in Löffelsprache zu mir gesagt. Ich habe sie dir heute beigebracht, eine Neuigkeit aus der Schule, und du bist davon ganz besessen. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Altersvorsprung von gerade mal einem Jahr etwas Neues nach Hause bringe, bist du hin und weg. Mich macht es stolz, Stückchen der Welt vor dir zu entdecken und sie dir mitbringen zu können, zu sehen, wie deine Augen leuchten, wenn du du bist doof in einer Sprache sagst, die zu Hause allein uns gehört, die Mama und Papa nicht verstehen können, weil sie bei uns zu Hause nur mir und dir und sonst niemandem gehört.
Wir können Geheimsprachen brauchen, du und ich. Weil Papa in letzter Zeit immer schlecht gelaunt ist. Auf seine Weise hat auch er eine Geheimsprache erfunden. Aber sie gefällt mir nicht, und dir ebenso wenig. Papa spricht diese Sprache nur, wenn er traurig ist. Vielleicht hat er Probleme auf der Arbeit, vielleicht hat er Schwierigkeiten, genug für uns vier zu verdienen – für dich, mich, Mama, die zwar studiert hat, aber ganz für die Familie da ist, weil sie die Rollen so verteilt haben. Wenn er in diesem Zustand ist, spricht er die Sprache der Stille. Wir nehmen die Anzeichen inzwischen schon im Voraus wahr – gewöhnlich kommt er später nach Hause und schließt die Tür ganz langsam, fast lautlos. Als hätte er Angst, auf wer weiß was zu stoßen, als müsste er sich hereinschleichen. Als wäre das hier nicht sein Zuhause. Oder als hätte er Angst vor sich selbst, vor den Geräuschen, die er verursacht, und wollte sie daher in Watte packen oder sich selbst in Watte packen, zum Schutz vor unserem Kinderlärm oder um uns zu schützen vor dem, was er tun könnte.
Wir sitzen am Tisch. Stille kehrt ein. Nur du kapierst es nicht und machst weiter. Wiederholst: »Dulefu bilefist dolefof!« Ich versuche, dir mit meinem Blick zu sagen: Hör auf, siehst du nicht? Siehst du nicht, dass jetzt nicht der Moment ist? Der wird heute alles zu Kleinholz schlagen, Bruderherz, wer weiß, was ihm auf der Arbeit passiert ist. Wer weiß, was generell mit ihm los ist. Sei still. Du weißt doch, was sonst passiert.
»He, gibst du keine Antwort? Klar, vor Mama und Papa kämpfst du nicht mehr, nein, nein, du aufgeblasene Pute.« Du provozierst mich mit deinen gespielten Kinderbeleidigungen. Ich weiß, dass sie nicht echt sind, aber du darfst jetzt nicht. Niemand darf jetzt.
Aus dem Augenwinkel registriere ich Papas Bewegungen. Sehe, wie er nervtötend langsam die Rotweinflasche vor sich auf den Tisch stellt, nachdem er sich zum vierten, vielleicht fünften Mal eingeschenkt hat. Für die jungen, empfindlichen Sinne eines abstinenten Wesens ist Wein widerlich: Er riecht nach Eisen, ein bisschen wie Blut.
»Höleför auleff«, murmle ich in Löffelsprache und werfe dir einen Blick zu, der vielsagend sein soll. Hör auf. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht vor ihm.
Papa knirscht mit den Zähnen. Ich habe mir angewöhnt, das als gereizte Ungeduld mir gegenüber aufzufassen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ihn allein schon meine Stimme reizt. Dieser Mann ist Lichtjahre entfernt von meinem alten Papa, der mir den Handstand beibrachte und vor dem Schlafengehen Märchen erzählte. Die Wahrheit ist, dass Papa vor dieser schlimmen Zeit die sanfteste Person der Welt war. Aber jetzt ist mir schleierhaft, warum er sich so verändert hat und was mit ihm los ist.
Ich habe Durst. Nehme die Wasserflasche von der Tischmitte, sehe, wie er mich beobachtet. Als wollte er meine Bewegungen kontrollieren. Schlimmer: Als würde er erwarten, dass ich gleich einen Fehler mache. Schrecklich. Es erinnert mich an damals, als ein alter Mann Mama beim Parken zusah und ihr eine ordinäre Bemerkung rausrutschte (»Echt jetzt, leck mich am Arsch!«). Sie entschuldigte sich bei uns für das Fluchen, doch der Typ schaute immer noch und schien überzeugt, dass sie einen Fehler machen würde, dass sie alles falsch machen würde, und dann päng! fuhr sie gegen ein Mofa, das tatsächlich umfiel. Sie war rot vor Scham, als sie es wieder aufstellte. Und statt ihr zu helfen, machte der alte Mann Sprüche über Frauen am Steuer. »Das wird teuer«, so was, und noch ein paar weitere billige Beleidigungen. Was wollte er von ihr? Was will Papa jetzt von mir? Ich bin acht, ich werde mir doch was zu trinken einschenken können, wiederhole ich in Gedanken, vor allem, um mich selbst davon zu überzeugen. Mit der Flasche in der Hand und diesen Gedanken im Kopf drehe ich den Deckel auf und merke, dass mir die Finger zittern. Sein Blick ist schwieriger zu ertragen, als ich gedacht hätte. Ich will gerade einschenken, da rutscht mir die Flasche – einfach so, ohne Grund – aus den Händen, es poltert, und am Ende ist das Wasser überall, außer in meinem Glas.
Papa wettert: »Zwei linke Hände, wie deine Mutter!«, und knallt das Messer so übertrieben laut auf den Tisch, dass er mir Angst eingejagt. Warum das Messer? Er hatte es davor doch gar nicht in der Hand. Mama sagt nichts, sie geht nicht auf ihn ein, wenn er sich so aufführt. Wenn er diesen bestimmten Blick hat – den bösen. Sie nimmt eine Serviette und hilft mir mit gesenktem Kopf, das Tischtuch zu trocknen.
Du hingegen kicherst nervös, das ist dein (heiliger, sakrosankter) Trick, Situationen ihre Dramatik zu nehmen: »Haha, zwei linke Hände, hahaha!« Ich blitze dich wütend an. Papa ärgert sich über deinen allzu fröhlichen Ton, packt die Flasche und hebt sie rabiat in die Höhe, bedrohlich, als wollte er sie dir über den Kopf hauen.
Alles passiert in Sekundenschnelle. Der Wein hat ihn in einen Wolf verwandelt, wie der Vollmond in den Geschichten, die wir uns vor dem Schlafengehen erzählen. In der Schule bin ich für meine Wortkargheit bekannt, aber jetzt flippe ich aus, flippe total aus und schreie ihn an: »Du darfst ihn nicht anrühren! Du darfst ihn nicht anrühren, verstanden?«
Ich stürze mich auf Papa, ohne mir Gedanken zu machen, wie klein ich bin, und Mama geht dazwischen.
Er flüchtet sich ins Schlafzimmer, aber erst, nachdem er auch sie mit dieser leeren Scheißflasche bedroht hat.
Abends kannst du nicht einschlafen, also erzähle ich dir eine Geschichte. Von einem Kind, das sich als roter Power Ranger verkleidet, dadurch unschlagbar, superstark wird und alle Bösen besiegt. Du schläfst ein, bevor ich zu einem Ende komme. Als auch ich schlafe, träume ich vom Wolf. Er verfolgt mich durch die Zimmer der Wohnung. Ich habe weder eine Ahnung, was er von mir will, noch, wer sich unter diesem Fell versteckt. Als ich aufwache, schlägt mir das Herz so heftig in der Brust, dass ich den Eindruck habe, es könnte sich jeden Moment wie ein Kolibri in die Lüfte erheben. Aber leider ist es nur ein Herz. Das hierhergehört: an diesen Ort der Geheimnisse, des Schweigens und der kleinen Freude, im Unglück wenigstens einen Gefährten zu haben, ein kleines Licht im Dunkeln. Dich.