Es gibt eine weitere Erinnerung, die mein Unbewusstes, dieser undressierte Hund, auszugraben beschlossen hat. Schwanzwedelnd hat er mir die Knochen dargebracht. Und gesagt, sie sei fundamental, andernfalls würden wir uns nicht verstehen. Ich müsse dir aber zuerst das Spiel in Erinnerung rufen, das wir oft zusammen spielten. Entweder sagtest du mir jedes Wort nach oder ich dir, im genau gleichen Tonfall, bis zur Erschöpfung. Es machte Spaß, fing ohne Vorankündigung einfach plötzlich an und konnte ewig weitergehen. Oder aufhören: Es endete nicht, wenn wir müde waren, sondern dank des safe word, das wir uns ausgedacht hatten. Weißt du noch? Klar weißt du noch. Manche Dinge brennen sich hoffnungslos in die Erinnerung ein und lassen sich partout nicht vergessen. »Es ist ernst«: Mit diesem Satz war das Spiel zu Ende. Das Schönste war, dass man einander nicht hintergehen durfte: Alles basierte auf Vertrauen. Sobald jemand »es ist ernst« sagte, war es fertig, hörte das Nachahmspiel auf.
Jetzt kann ich die Knochen der anderen Erinnerung ausgraben – auf diese hier komme ich später zurück.
Ein Abend wie viele andere. Einer jener Abende, an denen Mama »Zeit zum Schlafengehen!« ruft und wir mit vereinten Kräften darauf beharren, dass keineswegs Zeit zum Schlafengehen ist. Keine Ahnung, wie man die Kindheit ohne Geschwister überleben kann. Vielleicht überlebt man dann das Erwachsenenalter besser, würde ich heute sagen. Wie auch immer. Wir sitzen jedenfalls wieder auf dem orangen Sofa – ich links, du rechts, die Plätze sind fest vergeben – und wollen uns unbedingt nochmals alle Star-Wars-Folgen ansehen. Mama drückt ein Auge zu, sie hat sich von unserem Drängen erweichen lassen und ist auch einverstanden, dass wir uns vor Leia, die zum x-ten Mal »Du bist meine einzige Hoffnung« zu Obi-Wan sagt, mit Süßigkeiten vollstopfen.
Du schiebst ein Kinder Délice nach dem anderen rein, bist ein Fass ohne Boden, von-Natur-aus-schlank auf Lebzeiten. Ich mache mich über die Kinder Pinguì her, genieße die süße Creme aus künstlicher Milch, das herrliche Geräusch, jenes kaum hörbare crunch, das der Schokoüberzug beim Reinbeißen macht. Wir schauen uns die Episoden auf einer Videokassette an, und sobald Werbung kommt, spulen wir vor, wissen aber nie genau, wann es Zeit ist, auf die Play-Taste zu drücken. Um bloß keine Sekunde des Films zu verpassen, stoppen wir lieber einen Moment vor Ende der Werbespots.
Und jetzt fängt sie an.
Die Werbung, die für uns total Kult wurde. Die vom Boot an der Mole. Weißt du noch? Aus dem Nichts und mit einer wenig plausibel zusammengeschnittenen Tonspur erklingt eine bekümmerte, viel zu bekümmerte Stimme, als dass sie glaubwürdig wäre, eine Stimme, die theatralisch sagt:
Ein Boot.
Klein-und-marode.
Das Wort »Boot« spricht der Synchronsprecher mit weichem B aus, es klingt fast wie »ein Woot«. Wir hören es. Du stellst auf Pause. Wir schauen uns an. Und schon sehe ich in deinen Augen das amüsierte Flackern, das ich bei dir so schnell erkenne und du bei mir, ein gigantisches Riesengelächter bricht los, wir machen uns fast in die Hosen – »spul zurück, spul zurück, ich will es noch mal hören!« –, ein wunderbares Gelächter, ein Gelächter, das wir einander gegenseitig zuspielen, du mir, ich dir, ein (positiver? negativer? keine Ahnung, spielt auch keine Rolle) Kreislauf, der uns vergessen lässt, worüber wir ursprünglich gelacht haben.
Jedes Mal, wenn wir daran zurückdachten oder die Videokassette noch einmal abspielten, war es gleich, und immer erreichten wir den Punkt, an dem wir nur noch deswegen lachten, weil der andere auch lachte, weil es schön war zu lachen, weil Lachen, wenn man es genau bedenkt, das Schönste der Welt ist, aber nicht allein lachen, sondern zusammen mit jemandem, der weiß, dass darin der Sinn des Lebens liegt: im Lachen über das kleine, marode Boot. Also über nichts. Über alles. Über das Leben. Über die an diesem Tag noch einmal abgewendete Einsamkeit.
Ich habe im Internet nach dieser Werbung gesucht und sie gefunden.
Na ja, oje.
Zuerst musste ich lachen, ich gebe zu, dass ich lachen musste. Dann wurde mir bewusst, dass mein Lachen über diese Werbung zum ersten Mal einsam war. Das Echo deines Lachens fehlte. Eigentlich war es nur lustig gewesen, weil du lachtest. Und am Ende fühlte ich mich wie dieses Woot. Klein-und-marode. Mit seiner schlecht zusammengeschnittenen Tonspur und dem Schicksal, in den Werbeunterbrechungen zwischen Neunziger-Jahre-Filmen wie Casper und Flipper eingeblendet zu werden.
Aber vielleicht – ich sage, vielleicht – haben wir noch eine Chance. Vielleicht können diese Briefe den Kreislauf durchbrechen. Die Möglichkeit, das Schweigen nachzuäffen, war bei unserem Spiel, bei dem einer dem anderen jedes Wort nachsagt und umgekehrt, nicht vorgesehen. Damals mussten es Worte sein. Schweigen zählte nicht. Möglicherweise funktioniert es trotzdem: neues Spiel, neue Regeln.
Gilt es, wenn ich nach all diesen Jahren »es ist ernst« sage? Komme ich noch rechtzeitig?