Das durchsichtige, blutende Monster, das an meine Stelle getreten ist, friert. Es ist Winter, im Sommer. Ich setze mich mechanisch in Bewegung – bin nicht hier, bin nirgends.
Bin eine Hülle, wie das Kondom, auf das er verzichtet hat.
Ich hebe das Iron-Maiden-Poster auf, das sich im ekelhaftesten Moment von der Wand gelöst hat. Iron Maiden, was für eine Ironie des Schicksals. »Eiserne Jungfrau«, so hieß ein Folterinstrument für Hexen. Es hatte die Form eines Frauenkörpers mit barmherzigem (oder vielleicht auch nur heuchlerischem) Marienblick und innen Dutzende scharfer, rostiger Dornen. Ein Stachelschwein auf links, mit Stacheln, die nicht zur Selbstverteidigung dienten, sondern zur Verletzung gegen innen. Damit wurden Körper und Geist einer Person vernichtet. Die Folter führte nicht unbedingt zum Tod. Aber immer zum Wahnsinn. Der Frauenkörper kann eine Falle sein: War das die Botschaft?
Auf dem Poster steht der Text eines Songs, Fear of the Dark. Angst vor der Dunkelheit. Als Kind hatte ich eine Heidenangst davor. Ich lese den Text. Lesen ist immer besser als leben.
Have you run your fingers down the wall
And have you felt your neck skin crawl
When you’re searching for the light?
»Hast du je deine Finger über die Wand gleiten lassen und im Nacken Gänsehaut gespürt, während du nach dem Licht suchtest?«
Vorher hätte ich Nein gesagt, und jetzt? Jetzt Ja. Wo ist das Licht?
Ich möchte mit der Kraft von tausend Wölfinnen schreien, dem Mond meinen Schmerz entgegenheulen. Stattdessen höre ich in mir nur einen Klang wie von einem nassen Finger, der dem Rand eines Trinkglases entlangfährt. Ein stiller, beständiger Pfeifton. Von der Sorte, die niemand beachtet. Bei der man die Welt anhalten müsste, um ihn zu hören.
Angst vor der Dunkelheit.
Ich will weg. Gehe auf den Balkon. Keinen einzigen Stern gönnt mir diese furchtbare Stadt, nicht einmal hier, im sechsten Stock. Alles ist nur Schein. Der Himmel schwarzes Eis. Eine Platte, die es zu zerschlagen gilt, aber ich weiß nicht, wie. Und der Mond? Fuck, wo bleibt der Mond? Warum sagt man »Neumond«, wenn kein Mond da ist?
Ich blicke hinunter. Dort sind sie, die Sterne, die Autos, die auch zu dieser Stunde unaufhörlich fahren. Künstliche Sterne. Ein kopfstehender Himmel für eine kopfstehende Welt. Ich will zu ihnen. Will an einen Ort, wo es keinen Schmerz gibt, keinen Körper, nichts. Alles ist besser als das, was ich gerade fühle. Das Besetztzeichen, das mein Herz von sich gibt, soll aufhören. Falls das Ganze ein Albtraum ist, werde ich aufwachen, bevor ich den Boden berühre. Weil das alles nicht wahr ist. Das Leben ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein, es ist eine Posse. Ich habe keine Angst vor dem Tod. Vielleicht ist das Leben nur ein Traum, in dem uns fünf Sinne zugestanden werden, danach wachen wir auf und fühlen alles. Und ich will fühlen. Denn jetzt – in genau diesem Augenblick, diesem Moment – fühle ich nichts.
Man spüre, heißt es, keinen Schmerz, wenn man sich am Kopf verletzt. Du stirbst vielleicht, fühlst aber keinen Schmerz. Die Seele macht es gleich. Sie betäubt. Neumond – Neuseele. Eine abwesende Seele. Schwarzer Himmel.
Ich klettere auf die Brüstung, setze mich auf die Steinplatte. Mir ist schwindlig: Endlich empfinde ich etwas. Es geht ein leichter Wind. Ich schließe die Augen, wippe mit einem Fuß. Leere. Angst. Das Herz klopft mir im Brustkorb wie ein Vogel, der wegfliegen will. Möchtest du springen, Herz? Wirklich? Oder möchtest du nur dem Gerippe entfliehen, das dich in Geiselhaft genommen hat? Du hast natürlich recht. Mach es ruhig. Verstumme. Verstumme jetzt. Mir fehlt der Mut, mich in die Tiefe zu stürzen. Ich schaffe es nicht einmal, runterzuschauen. Ich Feigling.
Ich kehre auf die andere Seite der Brüstung zurück, die Füße berühren wieder den Boden. Doch das Herz will sich irgendwie nicht beruhigen. Es tut weh … warum tut es so weh? Ich keuche. Kriege keine Luft. Kurze, hechelnde Atemzüge. Wie meine erste Katze, die sich zum Sterben unter ein Möbelstück verzog, weit weg von uns. Wenn wir uns näherten, fauchte sie. Ich erinnere mich an ihre kleine rosafarbene Zunge zwischen den Zähnen, daran, wie sie beim Atmen zuckte. Vielleicht wird es nur kurz dauern. Bei ihr war das so. Vielleicht sterbe ich.
Keine Luft. Warum kriege ich keine Luft? Die Stacheln der unsichtbaren Eisernen Jungfrau verwandeln mein Herz und meine Lungen in Hackfleisch.
Plötzlich wird mir bewusst, ich erlebe gerade eine Panikattacke. Wenn weder Flucht noch Angriff möglich ist. Eine dysfunktionale Überlebensstrategie, für das dysfunktionale Tier, das ich bin.
Ich warte einen Augenblick, zwei, drei.
Dann lässt der gefangene Vogel in meinem Herzen nach und nach von seinem Fluchtversuch ab. Das Geflatter hört auf. Die Flügel schlagen nicht mehr so ungestüm. Es ist wieder Luft da. Ein Hauch Luft. Gierig atme ich sie ein. Ich muss leben. Muss durchhalten. Meine Fäuste ballen sich zusammen, die Fingernägel bohren sich ins Fleisch. Die Wahrheit ist, dass ich nicht sterben will. Nicht, weil ich das Licht liebe, sondern weil ich die Dunkelheit fürchte: Meine Angst vor dem, was danach kommt, ist zu groß.
Ich kehre ins Wohnzimmer zurück und stelle als Erstes fest, dass G. gegangen ist. Geflüchtet wie ein Dieb nach dem großen Coup. Fabio geht in sein Zimmer. Man hört ihn schimpfen: Offenbar hat er das blutverschmierte Laken entdeckt. Kapiert er? Hilft er mir?
Mit wutentbranntem Blick taucht er wieder auf. »Die Party ist zu Ende. Ich fahre euch nach Hause, wenn ihr wollt«, sagt er und sieht mich an.
Offenbar will er das Corpus Delicti so schnell wie möglich loswerden. Das Corpus Delicti, das, Pi mal Daumen und den Blutspuren nach zu schließen, ich bin.
Ich nicke. Allein zu Fuß durch die Nacht nach Hause zu gehen, scheint mir diesmal keine gute Idee. Es ist dunkel. Ich bin so gefühlsbetäubt, dass ich mich weniger vor dem berühmten schwarzen Mann fürchte als davor, mich vor eine U-Bahn zu werfen. Fuck: Der schwarze Mann ist der weiße Freund mit dem Keltenkreuz am Hals. Fuck. Fuck. All die Scheißlügen. Fuck.
Als wir im Auto sitzen, starrt Edoardo mich an – der dickleibige Trottel, der hier nur wegen seiner stattlichen Größe einen gewissen Respekt genießt. Ich wirke wohl sehr verstört, jedenfalls fragt er ganz fürsorglich: »Sag mal, alles in Ordnung?«
»Siehst du nicht, dass sie hackevoll ist?«, unterbricht Fabio ihn unsanft. »Ihr könnt eure Weibergespräche ein andermal führen. Ich will einfach so schnell wie möglich ins Bett.«
Edoardo verstummt.
Fabio dreht die Musik auf. Wieder Zetazeroalfa.
Drück dich ins Stadion, drück dich in den Ring!
Drück dich ins Leben, drück auch du dich rein!
Und »drück dich in die Frauen« singt er nicht?
»Meiner Liebe bleib ich treu, für dich bleibt mir nur Abscheu!«, trällert Fabio mit.
Die Panikattacke meldet sich zurück. Instinktiv packe ich Edoardos Hand. Weil ich einen Draht brauche, der eine Verbindung zur Welt herstellt, zu den anderen Menschen. Dieser Draht kann eine Hand sein. Eine Hand, die abgewiesen oder festgehalten wird. Zum Glück entscheidet sich Edoardo dafür, meine Hand festzuhalten.
»Es ist ein Albtraum«, flüstere ich. Wiederhole es zwei, drei Mal. Mir ist überhaupt nicht mehr klar, ob es der Alkohol ist, der redet, oder ob ich es bin. Mir ist nicht klar, ob ich alles geträumt habe und wann es aufhören wird. Ich möchte passende Worte finden, kenne jedoch keine. Vergewaltigung? Das ist es. Das Wort, nach dem ich gesucht habe. Aber es ist zu stark, und ich habe mich noch nie schwächer gefühlt.
Drück dich ins Stadion, drück dich ins Leben, drück auch du dich rein …