Hässliches hat mir schon immer gefallen. Mit hässlich meine ich: Dinge, die andere abstoßend finden, ohne dass es dafür einen Grund gibt, der mir einleuchtet. Als ich klein war, schenkte man mir Barbies, Trudi-Stofftiere, Polly-Pocket-Sets, fliegende Feen und diesen ganzen herrlichen Scheiß der neunziger Jahre. Ich spielte mit allem. Aber weißt du noch, was meine Lieblingsfigur war? Was ich sogar ins Bett nahm, obwohl es aus Hartplastik war und so klein, dass ich nach dem Aufwachen immer in den Laken danach suchen musste? Jede Nacht ging es in den Mäandern der Decke verloren, zumindest bis ich meine Hände dazu erzogen hatte, es nie loszulassen, nicht einmal im Schlaf.
Ich glaube nicht, dass du noch weißt, warum ich mich ausgerechnet in diese eine Figur verliebte. Du hattest Unmengen an Lego und bautest daraus immer kunstvollere Konstruktionen. Darin warst du große Klasse. Mir schenkte nie jemand Lego, und ich wünschte mir auch keines: Es galt ganz selbstverständlich als »Bubenspielzeug«. Einmal aber hattest du etwas aussortiert. »Das ist hässlich!«, hattest du entschieden. Du wusstest damit nichts anzufangen. Man konnte es nirgends einbauen. Es war grün, und diese Farbe fandest du schon immer scheußlich. Du mochtest es einfach nicht. Es war hässlich.
Mama sagte, man könne es auch wegwerfen, wenn es dir nicht gefalle. Und keine Ahnung, wirklich keine Ahnung, warum, aber in diesem Moment sagte ich, dass ich es haben wollte. Dahinter steckte kein frühreifes ökologisches Gewissen (ich wünschte, es wäre so, aber leider nein). Vielleicht gehörte ich einfach zu der Sorte Mensch, die die halb zermanschte Kirsche nimmt und die schönen den anderen überlässt – um niemandem lästig zu sein oder aufgrund einer merkwürdigen Form allumfassender Empathie, die sich sogar auf Gegenstände erstreckt –, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich in dem Moment, in dem ich es vor dem Mülleimer bewahrte, echte Zuneigung für das kleine Legokrokodil zu empfinden begann. Zärtlichkeit. Etwas Neuartiges, wie ich es für eine andere Spielfigur noch nie empfunden hatte. Kurz gesagt, hatte ich es gerettet und adoptiert und liebte es nun. Ich hätte nie zu ihm gesagt, es sei hässlich, wie du es getan hattest. Du dummes Kind, das keine Rücksicht nahm auf die Gefühle von Spielzeug.
Eines Tages jedoch war es verschwunden. Du erinnerst dich bestimmt daran: Ich habe Mama, Papa und sogar dich geradezu genötigt, mir beim Suchen zu helfen. Die Suchaktionen dauerten tagelang, bezogen die ganze Familie mit ein und verliefen erfolglos. Als ich bereits sicher war, dass ich es nie wiederfinden würde, verkündete Mama, sie hätte es unter dem Sofa entdeckt. Von diesem Moment an spielte ich nicht mehr damit – sei es aus Angst, es noch einmal zu verlieren, sei es, weil ich sein Verschwinden als Verrat empfand. Manchmal betrachtete ich es, bisweilen mit Argwohn, als hätte es einen anderen Geruch, bisweilen mit der Zuneigung, die speziellen Erinnerungen vorbehalten ist. Sein Platz war nun auf dem kleinen Altar der Stofftiere, die es, so hoffte ich, ein bisschen verwöhnten, weil ich selbst es nicht mehr konnte.
Als ich mich im Sommer der Vergewaltigung völlig in mich zurückzog, begann ich auf einmal, nach ihm zu suchen. Ich wollte mich vor Studienbeginn von ihm verabschieden, wollte dem, was ich als Symbol meiner Kindheit, meiner Jugend ansah, Lebewohl sagen, und das Erwachsenenalter, das auf die schlimmstmögliche Weise begonnen, aber sicher noch Verbesserungspotenzial hatte, ordentlich willkommen heißen.
Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Du sahst mich, wie ich besessen nach einem kleinen Legokrokodil suchte, und verdrehtest die Augen – ich sah ein überschaubares Problem, um das ich mich kümmern konnte, ein kleines, winziges, symbolisches, gut lösbares Problem, das ich mit Bedeutung auflud. All meine Energie in diese Suche zu stecken, half mir, nicht verrückt zu werden. Es bewahrte mich davor, mich in Dauerschleife an die Vergewaltigung zu erinnern. Die Urteilsverkündung am Gerichtshof meines Gewissens (»Wenn die Angeklagte keine Anzeige erstattet, begeht sie die Sünde der Feigheit! Sie ist somit schuldig!«) wurde aufgrund höherer Gewalt verschoben. Mir das wichtigste Stück meiner Kindheit zurückholen. Mir die Erinnerung zurückholen. Mir mein früheres Ich zurückholen und mich mit aller Kraft daran festhalten, um einen Neuanfang zu machen.
»Mama, weißt du, wo das Legokrokodil ist?«
»Mmm, nein.«
»Überleg mal ein bisschen! Du hast es doch hoffentlich nicht weggeschmissen!«
»Ich habe nichts weggeschmissen.«
»Und wo ist es dann?«
»Schau mal dort nach«, sagt sie und zeigt auf den Horrorschrank im Flur. »Wenn es noch irgendwo ist – und ich bin sicher, dass es noch irgendwo ist –, dann dort.«
Ich nehme einen Stuhl, steige hinauf. Öffne den Wandschrank und der Reihe nach prasselt Folgendes auf mich herunter: Sämtliche Dragon-Ball-Figuren, meine Dinosaurier, das Sailor-Moon-Zepter, ziemlich viel von dem Papierkram, den Papa nie wegschmeißt, sogar das vom Satan besessene Spielzeug, das nachts einfach so zu sprechen anfing (oje, weißt du noch? Schlaflose Nächte, dabei hätten wir einfach die Batterien rausnehmen können), und dann endlich …
»Da ist es!«
Nein. Warte.
Da sind zwei Legokrokodile. Ich gehe mit den Reptilienzwillingen zu Mama und halte sie ihr vor die Nase, auch wenn mir völlig klar ist, dass sie meine nachträglichen Vorwürfe lächerlich finden muss.
»Es sind zwei.«
»Du hattest zwei.«
»Nein, ich hatte eins.«
»Ach«, sagt sie leichthin, »jetzt erinnere ich mich. Ich hatte dir eins nachgekauft, weil du es verloren hattest. Du warst am Boden zerstört …«
»Und das erzählst du mir einfach so? Du lügst mich fünfzehn Jahre lang an und erzählst es mir dann so beiläufig?«
»Vale, ich wollte doch nur, dass du glücklich bist. Es war eine gut gemeinte Lüge.«
Eine gut gemeinte Lüge.
»Es gibt keine gut gemeinten Lügen.« Lügnerin. Was tust du denn anderes mit deiner Vergewaltigung? Du lügst, um die Bombe nicht platzen zu lassen, verheimlichst die Wahrheit, bist ein Feigling, Feigling, Feigling … Indem ich meine Mutter als Lügnerin bezeichne, kann ich den Gedanken vertreiben, selbst eine zu sein. Der Mechanismus der Projektion ist eine merkwürdige Sache: Am meisten hassen wir andere, wenn sie uns Seiten von uns zeigen, die wir am liebsten vergessen möchten.
Du weißt bestimmt noch, was danach passierte. Weißt noch, dass ich wegen dieser Halbwahrheit – der Entdeckung, dass Mama mir fünfzehn Jahre zuvor ein neu gekauftes Legokrokodil untergejubelt hatte, als Trostpflaster, um mich zum Schweigen zu bringen –, dass ich deswegen Gift und Galle spuckte. Kein Wunder, dass ihr mich für verrückt hieltet. Ihr konntet nicht wissen, wie wichtig es in diesem Sommer für mich war, die Wahrheit über mein ganz persönliches Stücklein Hässlichkeit zu kennen, es lieb haben oder wenigstens Zärtlichkeit empfinden zu können, mich darauf verlassen zu können, dass mich niemand angelogen hatte.
Stattdessen wusste ich nun nicht einmal mehr, welches meins war.
Ich glaube nicht, dass du das verstehen kannst. Du bist wohl aus ähnlichem Holz geschnitzt wie Mama und Papa.
Hässliches schmeißt du weg. Lässt es hinter dir. Ich muss es immer im Auge behalten. Und niemand darf mir Lügen darüber erzählen.
*
Im selben Sommer geschah noch etwas anderes, und zwar überzogen auch mich zunehmend Schuppen. Nicht gerade Krokodilschuppen, aber immerhin. Keine Ahnung, ob du das weißt, aber vor allem bei empfindlicher Haut passiert es beim Epilieren manchmal, dass sich Bläschen bilden. Besonders auf der Innenseite der Schenkel. In jenem Sommer begann ich, an den Beinen rumzufummeln, die Bläschen zum Platzen zu bringen – zwei Bläschen, drei Bläschen –, anfangs war es ein Spiel, aber dann wurden es immer mehr Blasen, mehr und mehr, und ich konnte nicht aufhören, daran rumzufummeln, mir wehzutun. Sie wurden zahlreicher und sie schmerzten, und irgendwann konnte ich nicht mehr unterscheiden, ob meine Schmerzen von der Haut herrührten oder ob ich sie mir selbst zugefügt hatte. Es war ein Ritual: Ich setzte mich auf den Computerstuhl, am Fenster in unserem Zimmer, und verbrachte selbstversunken Stunden damit, mich an den Beinen zu verletzen. Ich wäre froh, von mir behaupten zu können, dass ich wusste, was ich da tat – das Problem verlagern, wie Dr. House, der sich mit dem Hammer auf die Hand schlägt, um die Schmerzen am Bein nicht zu spüren –, aber das kann ich nicht. In diesem Sommer herrschte allein der Instinkt. Und der Instinkt sagte: Alles ist besser als das, was du jetzt empfindest. Besorg dir einen anderen Schmerz. Konzentrier dich auf kleine Dinge. Auf Sichtbares. Verleih Bedeutungslosem eine Bedeutung, sonst pustet dir das, was einen Sinn haben sollte, derzeit aber keinen Sinn ergibt, den Schädel weg. Und dann verlierst du völlig die Kontrolle.
Mama, die besorgt beobachtete, in welche Richtung es mit mir ging, verstand nicht. Sie interpretierte mein merkwürdiges Verhalten als Angst vor dem Studium, und ich ließ sie in diesem Glauben.
Papa hingegen schimpfte, wie in meiner Kindheit, wenn er mich beim Nägelkauen ertappte. Aber das hier war etwas anderes, als wenn man herausfinden will, was die Sitznachbarin am Geschmack ihres Glitterlacks so toll findet. Ich war wie besessen davon, den Schmerz, den ich hatte, den ich verkörperte, freizulegen und in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was die anderen hässlich nannten und was jetzt auch für mich hässlich war, um dann diese Hässlichkeit zu verletzen, den Schmerz auszuschalten, ihn zu bekämpfen, zu leugnen, für immer aus mir zu löschen. Ausgehend von der Innenseite meiner Schenkel. Mit diesem perversen Mittel verbat ich mir für lange Zeit, vor einem Jungen die Beine zu öffnen. Unbewusst wollte ich aussortiert werden wie dein Krokodil: Sie ist hässlich – das sollten die Leute denken, sie sollten es zugeben. Ich wollte mich vor Lügen über Hässlichkeit in Sicherheit bringen. Die Scham, die ich empfand, sollte mein Anker sein, ich wollte ihr eine Gestalt geben, gegen sie ankämpfen und gleichzeitig alle fernhalten, die keinen Sinn dafür hatten. Mama verstand weiterhin nicht, hörte aber nicht auf, sich Fragen zu stellen. Ich sah, dass ihr Blick nach und nach aufmerksamer, schärfer wurde. Es war, als ob sie verstehen würde, wieder einmal, immer, und dann machte sie eines Tages etwas, das mich rührte und beeindruckte und das irgendwie auch meine Rettung war.
Ich war gerade wieder mit meinem neuen Selbstreinigungsritual beschäftigt, darauf konzentriert, meine Haut zu drangsalieren, deren Schuld einzig darin bestand, zu empfindlich, noch reaktionsfähig zu sein. Du kamst an mir vorbei, und als du mich so zusammengekauert auf dem Stuhl sahst, sagtest du: »Was machst du denn? Du siehst ja aus wie Gollum.« Gollum. Das kleine Ungeheuer aus Der Herr der Ringe. Hässliche Wesen hast du noch nie gemocht. Ich war nicht das erste Krokodil, das du mit ein paar Wörtern abserviertest.
Keine Angst, ich war nicht beleidigt.
Ich wusste von meiner Hässlichkeit.
Arbeitete bloß daran, sie hinter mir zu lassen.
Aber Mama schimpfte an diesem Tag mit dir. Verteidigte mich vor dir, vor deinem Nichtsehenwollen. Dann kam sie, ohne etwas zu sagen, mit dem Öl zu mir, das sie in unserer Kindheit benutzt hatte, jenem duftenden Öl, das zum Einsatz kam, wenn du von den Windeln offene Wunden am Po hattest. Sie sagte wirklich kein Wort. Stoppte nur meine Hände. Gab mir einen Kuss auf den Kopf – sanft, sachte. Strich mir Öl auf die Beine und bestrich damit auch meine Wunden, meine ganze Ablehnung, meine Art, Schmerz, Gewalt, Böses, Hässliches zu verinnerlichen. Mama sang ein Wiegenlied, und ich war wieder ein kleines Mädchen. War ein Igel, der seinen Bauch zeigen und die Stacheln entspannen kann, oder zumindest aufhören, sie in Ermangelung eines passenderen, der Gesundheit zuträglicheren Ziels gegen sich selbst einzusetzen.
Gern würde ich sagen können, dass ich an diesem Tag aufhörte, mich an den Oberschenkeln zu verletzen. Es stimmt nicht. Ich machte jahrelang heimlich weiter, bis ich Narben hatte. Keiner der Männer, mit denen ich ins Bett gegangen bin, hat es je bemerkt, jedenfalls sagte nie einer etwas.
Aber dieser Tag war wichtig für mich. Zum einen, weil ich weinen konnte. Zum andern, weil er mir die Kraft gab, zu reagieren. Ich verdanke es Mama, dass ich beschloss, noch nicht kapituliert zu haben. Noch gegen meine Ungeheuer ankämpfen zu können, ohne mich von ihnen verschlingen zu lassen. An diesem Tag beschloss ich, G. anzuzeigen.