Du hast immer gesagt, das Leben sei absurd: Entweder passiert nichts – die Zeit verrinnt, Meerwasser liegt auf dem Quai, die Sanduhr scheint verstopft, der Sand rieselt so langsam hinunter, dass man es gar nicht wahrnimmt – oder dann passiert alles gleichzeitig. Hässliche Dinge scheinen ein besonderes Talent dafür zu haben, lawinenartig über einen hereinzubrechen. So gesehen ist das Leben ein kontinuierliches »Fickmich«, manchmal im positiven, manchmal im negativen Sinn. Unnötig, zu erwähnen, wo im Spektrum der Gefühle mein »Fickmich« in diesem Sommer verortet war.
Keine vierundzwanzig Stunden nach meiner gefühlvollen Erfahrung mit dem Polizisten sehe ich dich mit G. vor unserem Haus stehen. Ihr plaudert neben euren Motorrädern, er wie üblich mit Zigarette im Mund. Ein Gedanke geht mir durch den Kopf, als ich euch so vertraut reden sehe, aber er tut weh und ich verjage ihn. Trotzdem ist er da. Ihr seht aus wie Brüder. So lautet der Gedanke. Mein Bruder und mein Vergewaltiger sehen aus wie Brüder. Unerträglich.
Es wird daran liegen, dass ihr dieselbe Sprache sprecht, die Sprache der Motoren, eine Sprache, die mir verwehrt ist, von der ich mich ausgeschlossen fühle. Dabei war G. die letzte Person auf der Welt, von der ich dachte, dass ich sie je beneiden könnte. Ich beobachte dich von weitem, und du überraschst mich: Hast du gerade den römischen Gruß gemacht? Ausgerechnet du, auch du, im Ernst? Es wirkt so, als würdest du wie immer herumalbern. Aber ich bin alarmiert, weil ich weiß, dass das keine Sprache wie jede andere ist – sie hat nichts mit Motoren oder Fußball zu tun oder mit einer Komplizenschaft, die, warum auch immer, vorwiegend Männern vorbehalten ist; sie ist ein Krebsgeschwür. Der Faschismus ist ein Krebsgeschwür, denke ich. Schlimmer sogar, weil er ansteckend ist. Mich packt das Verlangen, dich vor diesem Freund-Feind zu retten, der dich, ich weiß es, an einen Ort führen wird, an den du nicht willst, weit weg von der Wahrheit. Mich überkommt das Bedürfnis, es dir zu sagen. Dir zu sagen, wer er wirklich ist. Gerade als ich denke, dass ich mich dir öffnen, mich dir vielleicht öffnen könnte, selbst auf die Gefahr hin, dich zu erschüttern, dir wehzutun, wenn ich dir erzähle, was G. mir angetan hat, sieht er mich.
Und grüßt mich. Dieses Stück Scheiße grüßt mich, als ob nichts gewesen wäre. Das Schlimmste daran? Dass auch ich ein Ciao knurre. Aber zum Glück schaffe ich es, mich in die Wohnung zu flüchten.
Eine Minute später kommst du nach und protestierst: »Du hättest ruhig auf mich warten können.« Du seist auch gerade am Gehen gewesen, kein Grund also, einfach davonzulaufen. Ich sage nichts. Weiß nicht genau, was ich sagen soll. Du hörst nicht auf, mich zu mustern, als wäre ich irgendein tollpatschiges Tier, ein Tintenfisch, der sich in einem Netz verheddert hat, eine Katze, die sich von ihrem Halsband zu befreien versucht, ein Tier, über das du ein wenig schmunzeln musst, aber ein wenig sorgst du dich auch, es könnte sich wehtun. Du versuchst zu begreifen, welches Netz mich gefangen hält, was für ein Name auf meinem zu engen Halsband steht. Aber dann sehe ich dein Halsband: Mein Blick fällt auf einen neuen Gürtel. Aus Leder, mit deinen Initialen. Die Frage, woher du ihn hast, ist überflüssig, aber ich frage trotzdem: »Ist das ein Geschenk von ihm?«
»Wen meinst du?«
Aus deiner Antwort schließe ich, dass es dir ein wenig peinlich ist, sonst würdest du nicht so tun, als hättest du mich nicht verstanden.
»Vom Faschisten.«
»He, ihr seid doch auch befreundet!«
»Nicht mehr.«
»Ach so. Und warum?«
»Keine Lust, darüber zu sprechen«, sage ich lakonisch. Dafür überhäufe ich dich mit Fragen. Habt ihr schon lange angefangen, euch wieder zu treffen? Uhm. Hat er denn keine Freunde an der Uni? Was ist mit der Ortsgruppe, hat er dich mal mitgenommen?
Ich erfahre, dass dich diese Faschistenhöhle zwar nicht überzeugt, aber ja, dass er dich mitgenommen hat. Was haben sie gemacht? Aber sorry, widert dich das rassistische Gerede nicht an? Findest du es nicht merkwürdig, dass dort auf zwanzig Männer zwei Frauen kommen? Doch, doch, klar. Du hast recht. Es ist deine Entscheidung, du entscheidest, wohin du gehen willst.
»Schon mal was von freier Meinungsäußerung gehört?«, sagst du.
»Freie Meinungsäußerung darf nicht bedeuten, dass man die der anderen einschränkt.«
»Aber ist das nicht genau das, was du in ihrem Fall verlangst? Du hast doch beschlossen, dass sie nicht mehr reden dürfen?« An dieser Antwort erkenne ich, dass G. dich gut vorbereitet hat. Der Faschismus der Antifaschisten, dieser Scheiß war schon immer sein Lieblingsthema.
Ich antworte nach bestem Vermögen. »Nein, warte«, sage ich, »wir reden aneinander vorbei. Wenn du denkst, dass Schwarze minderwertig sind, dass Frauen minderwertig sind, dass Juden minderwertig sind, dass diese und andere Kategorien es nicht verdienen, ich sage nicht mal, zu reden, sondern überhaupt zu existieren, dann ist das, was du denkst, kein Gedanke: Es ist der Tod des Denkens. Wenn deine Stimme ein Knebel für andere Stimmen ist, sorry, aber dann musst du den Mund halten.«
»Meinetwegen. Jedenfalls werde ich da nicht mehr hingehen, es ist langweilig.«
»Aber er umwirbt dich.«
»Hä?«
»Ich sage, er umwirbt dich.«
Es ist offensichtlich, dass er es tut: Halte deine Freunde in der Nähe, aber deine Feinde noch näher. Das ist sein Denken, so hat er schon immer gedacht. Du bist sein Trumpf im Ärmel, die Garantie für mein Schweigen.
»Umwerben?«, lachst du. »Wir sind doch keine Schwuchteln.«
»Bist du jetzt auch noch homophob?«
»Mamma mia, ich meine ja nur.«
Du meinst ja nur. Ich werfe noch einmal einen Blick auf den Gürtel mit deinen Initialen – das gleiche Modell, das er an jenem Tag aus seiner Hose gezogen hatte, um mich besser vergewaltigen zu können. Es widert mich an, dass er dich in eine Kopie seiner selbst verwandeln will, dass ein Stück Leder eine stille Entschädigung für das sein soll, was er mir angetan hat – weil du mein Bruder bist und ich dein Eigentum, so denken Leute von seinem Schlag –, ich bin so angewidert von diesem Gürtel, dass ich dich damit auch beinahe widerlich finde. Was ich auch sage.
»Dieser Gürtel ist scheiße.«
»Ach was«, sagst du. »Was ist denn schlecht daran?«
»Dass er ihn dir geschenkt hat.«
»Und was hat er dir angetan? Mal davon abgesehen, dass du offensichtlich beschlossen hast, nicht mehr mit Faschisten zu reden.«
»Kannst du mir nicht einfach glauben? Er ist ein Arschloch, ein großes Arschloch und fertig. Du darfst ihm nicht vertrauen.«
»Sag doch einfach mal, was er dir getan hat«, insistierst du.
»Ich sage es dir irgendwann, versprochen. Aber bring ihn bitte nicht mehr her, nicht vor unser Haus, ich will ihn nicht mehr sehen, erspar mir, ihn sehen zu müssen …«
Du pflanzt dich vor mir auf, eine Hand auf dem neuen Gürtel – dem Inaugurationsgürtel vom lokalen Peitschenfestanführer, diesem Mistkerl, diesem verdammten Mistkerl –, und sagst: »Du willst alle Freunde für dich allein haben. Weil du älter bist, weil du weißt, dass du ihm gefällst …«
Das ist zu viel.
»Du willst wissen, was er mir angetan hat? ER HAT MICH VERGEWALTIGT, das hat er mir angetan.«
Mama, Katholikin durch und durch, vergleicht die Wahrheit mit dem Licht, aber mir wird in genau diesem Moment klar, dass die Wahrheit alles andere als ein Licht ist. Sie ist eher eine pochende, schmerzende Eiterbeule, die immer größer wird, bis sie irgendwann platzt. Und in deinem Gesicht lese ich, dass meine Beule soeben direkt vor dir geplatzt ist.
»Was schwafelst du wieder für Scheiß zusammen?«, gibst du leise zur Antwort.
Dann bleibst du stumm. Es ist kein feierliches Schweigen, keines, wie man es erwarten würde, wenn man jemandem von einem Trauerfall oder etwas Ähnlichem erzählt – wir beiden reden nämlich gerade vom Tod im Leben, von einer Form von Tod im Leben, ich offenbare dir ein Trauma, das ich für immer in mir tragen werde, ein Trauma wie eine fleischfressende Pflanze, die meine Eierstöcke und meinen Lebenswillen verschlingt. Nein: Dein Schweigen ist unergründlich. Du zeigst ein halbes Lächeln, ziehst deine Lippen nur auf einer Seite hoch, während sie auf der anderen, vielleicht aus Schamhaftigkeit, ernst bleiben. Das gleiche Lächeln wie früher, wenn Mama merkte, dass du die Hausaufgaben nicht gemacht hattest. Das Lächeln der unrechten Dinge – aber der unrechten Dinge, die auf dein Konto gehen. Warum?
In genau diesem Moment bekommt die Schale, die ich mir zugelegt habe, einen Riss. Gerade groß genug für eine Umarmung von dir. Aber nichts geschieht, die Umarmung kommt nicht. Stattdessen fragst du: »Schwörst du es? Geht es dir nicht einfach nur um Aufmerksamkeit, wie so oft, wenn du dich als hässlich bezeichnest, obwohl du genau weißt, dass das nicht stimmt, nur weil du willst, dass jemand es bestreitet?«
Ich kann nicht glauben, dass du das ernsthaft gesagt hast. Aus der Schale des jämmerlichen Eis, das ich bin, tropft das Eiweiß – stille Tränen um die unbeholfen erflehte Hilfe, die einfach nicht eintreffen will. Mir ist schleierhaft, wo diese Hilfe bleibt, auch das mag meine Schuld sein, aber es tut weh. Es tut so weh.
»Ich schwöre es«, sage ich und schaue dir direkt in die Augen. Meine tränen noch, dicke Tropfen kullern an mir hinunter, ohne meinem Gesicht etwas anhaben zu können. Ich fühle mich wie bei diesem Spiel, das in unserer Kindheit alle spielten, das ich aber nicht mochte – wer zuerst lacht –, weil ich darin eine Niete, eine totale Niete war und du mich nur einen Moment anzuschauen brauchtest und ich sofort lachte, ich schaffte es nie, ernst zu bleiben. Jetzt hingegen bin ich ernst. Und du hast vielleicht verstanden, endlich.
Dann verhärtet sich dein Kindergesicht, das so schnell zwischen Lachen und Wut wechseln kann, und nimmt einen Ausdruck an, den ich nicht kenne. Einen Ausdruck, der mich beunruhigt.
Du stehst auf, ziehst den Gürtel aus der Hose, wirfst ihn auf das Bett und bindest dir die Schuhe, ohne mich nochmals anzusehen; stattdessen siehst du zu ihm, zum Gürtel; beäugst ihn argwöhnisch, als hättest du auf einmal gemerkt, dass er nicht nur aussieht wie eine Schlange, sondern tatsächlich eine Schlange ist; du siehst ihn an, als könnte er dich sehen. Als wäre er die Person, die ihn dir geschenkt hat.
»Wohin gehst du?«, frage ich. Du gibst keine Antwort. Aber ich habe es vielleicht verstanden.