Es sind erst wenige Wochen vergangen, seit ich es dir gesagt habe. Ich spreche nicht mehr gern mit dir. Du sprichst nicht mehr gern mit mir. Wenn wir am Tisch sitzen, befindet sich ein Golem auf dem Platz zwischen uns: das erste Tabu.
Nun kommt das zweite.
Seit Tagen beschäftige ich mich mit nichts anderem als dem Verwüsten meiner Beine. Ich habe mich so in mich zurückgezogen, die Vergewaltigung hat mich so entgrenzt, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, und in diesem Prozess nimmt der Spiegel eine zentrale Rolle ein. Ich bin eine moderne Märchenhexe, nur umgekehrt: Unablässig schaue ich mich im Spiegel an, will von ihm aber nicht, dass er mir sagt, ich sei die Schönste im ganzen Land, vielmehr will ich wissen, was an mir nicht funktioniert. Schlimmer: Ich weiß es.
Aber ich habe einen Entschluss gefasst. Ich werde mit euch reden. Am gleichen Tag noch, beim Mittagessen. Ich kann nicht mehr warten.
So sitze ich nun mit euch in der Küche, das Tabu sitzt oben am Tisch, schaut uns an und findet es lustig, ich schenke ihm keine Beachtung und starre eindringlich auf den Teller. Seit Tagen vermeide ich es, euren Blicken zu begegnen. Und nun ist da diese Sache. Dieser Versuch zu reden. Mama schöpft Verdacht und fragt, ob alles in Ordnung sei.
»Du benimmst dich schon den ganzen Sommer so merkwürdig. Freust du dich nicht auf die Universität?«
Ich gebe keine Antwort, sehe auf den Teller.
Papa hört weiter Nachrichten: Ihm genügt es, wenn ich esse. Mit anderen Worten, wenn ich nicht sterbe. Der ganze Rest ist seiner Meinung nach nur die Pubertät, was sich aber einrenken wird. Wie die Akne, die mit dem Erwachsenwerden verschwindet. Er hat keine Ahnung. Nur du weißt etwas.
»Sag schon, Vale, was ist los?« Mamas Stimme klingt eine Oktave höher, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Warum willst du nicht mit mir reden?« Erst jetzt wird mir klar, wie nervtötend es für sie sein muss, dass ich seit jenem Tag so beharrlich schweige. Ich kann mich nicht von außen sehen. Aber mein Schmerz hat einen Zeugen. Ich hebe den Kopf. Schaue dich an.
Du wendest den Blick sofort ab, enttäuschst mich noch einmal.
Weil ein kleiner, klitzekleiner Teil von mir hoffte, du würdest es ihr sagen. Ehrlich. Aber das ist nicht passiert: Du hast mein Geheimnis, G.s Geheimnis, für dich behalten, hast es nicht geglaubt oder ihm keine Bedeutung beigemessen, keine Ahnung. Vielleicht warst du einfach nur loyal, wer weiß. Die Frage ist einfach: Loyal wem gegenüber?
Als ich sehe, wie du mit der Gabel hantierst, frage ich mich, ob du befürchtest, ich könnte etwas sagen. Du wirkst so nervös, als handelte es sich um ein Geheimnis von dir.
»Vale«, unterbricht Mama gewaltsam meine Gedanken. »Wenn du mir nicht sagst, was mit dir los ist, werde ich verrückt, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
Okay. Ich hole Luft. Es ist so weit. Ich sage: »Ich will mir die Nase operieren lassen.«
Geklirr von Besteck, das in den Teller fällt.
Du hast etwas anderes erwartet, oder? Ich sehe, dass du dich fast an deiner Cola verschluckst, aber nicht wie früher, wenn ich dich so zum Lachen brachte, dass sie dir aus der Nase kam. Nein, diesmal ist es überhaupt nicht lustig. Weder für mich noch für dich.
»Hör auf, was soll der Quatsch«, platzt du heraus.
»Mir ist nicht mehr wohl mit diesem Scheißgesicht«, sage ich und sehe dir in die Augen. Du weißt, was darin mitschwingt, und mir kommt eine Träne. Nur eine. Hässliche Gesichter suhlen sich nicht in Selbstmitleid. Weil sie wissen, dass sie niemandem das Herz erweichen würden. Nicht in einer herzlosen Welt.
Mama und Papa scheinen nichts dagegen zu haben. Vielleicht ist es für sie einfacher, diese Angst zu akzeptieren als andere Ängste. Letztendlich hat Mama schon immer gesagt, dass sie sich, als sie jung war, hätte operieren lassen, wenn sie gekonnt hätte. Und Mama ist schön. Oma war schön. Aber wegen ihrer Nasenparanoia hat sich keine von beiden je die Haare zusammengebunden.
Und Papa? Papa reißt sich kurz von den Nachrichten los, schaltet sogar den Fernseher aus. Er ist immer mit Mama einverstanden, und sie gibt nach ein paar Schmeicheleien, die ich ihr überhaupt nicht abkaufe – »du bist doch so schön, das sind einfach deine Proportionen, ich mag dein Näschen« –, ihre Zustimmung.
»Warum nicht, wenn du dafür wieder lächeln kannst.«
Die richtige Reaktion kommt zu meiner Überraschung von dir. Richtig und falsch zugleich. In deinem Stil.
»Fuck, du bist doch schön, du gefällst sogar meinen Freunden!«
Du meinst G., ich verstehe es und mir wird kotzübel. Ich schaue dich feindselig an. Gleichzeitig würde ich dich am liebsten fest umarmen: Du hast mir noch nie gesagt, dass ich schön bin. Aber dann verdirbst du sofort alles: »Wenn Valentina die Nase kriegt, müsst ihr mir die Motorrad-Runden bezahlen.«
Die Nase. Das Motorrad. Das Geld. Seit wann bist du wie er? Seit wann ist für dich der Körper einer Person, das grenzenlose Unbehagen, das sie nach einem Erlebnis empfindet, das sie dir als Vergewaltigung offenbart hat, zum Äquivalent eines Ersatzteils oder einer Runde auf der Rennstrecke geworden?
Aber dann ist es Papa, der mir das Gefühl gibt, ein Gegenstand zu sein.
»Wir werden sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, uns das Geld von der Versicherung zurückerstatten zu lassen«, sagt er routiniert. »Du hast doch als Kind mal einen heftigen Ball abbekommen? Vielleicht hat sich damals die Nasenscheidewand verschoben.«
Während er spricht, fühle ich mich haargenau wie ein teures Auto, das ein Ersatzteil braucht.
»Ich kann tatsächlich schlecht atmen«, antworte ich mit leerem Blick.
»Wir lassen dich mal röntgen.«
Er denkt vielleicht ebenfalls, dass bei mir etwas nicht in Ordnung ist. Dass etwas seine Erwartungen von Perfektion zunichtegemacht hat. Ein heftiger Ball. Nicht eine Vergewaltigung: ein heftiger Ball.
Vielleicht wird die Röntgenaufnahme bestätigen, dass ich einen Fabrikationsfehler aufweise, wer weiß. X-Strahlen für den Schmerz, den ich empfinde. Für meine Art, den Schmerz, den ich empfinde, mit dem Körper auszudrücken. X-Strahlen für den Feind. X-Strahlen für den Feind, der inzwischen ich selbst bin.