HUNGER

Ich habe mir eine Pagenfrisur machen lassen. Um abgefallenes Laub zu simulieren. Einen Rückschnitt, nur für einen Winter. Ich erkannte mich selbst nicht wieder, wollte mich vielleicht nicht wiedererkennen.

Doch das Leben geht weiter, und ich habe verstanden, dass man wirklich von den Bäumen lernen kann. Sich auf das nackte Gerüst reduzieren, um die seltenen Knospen und das ihnen innewohnende Versprechen, Blätter zu werden, früher zu entdecken. Um mit anderen Worten offen zu sein für Illusionen. Die jüngste stammt von gestern Abend. Ich habe eine E-Mail bekommen. Nicht irgendeine. Ich empfinde sie als eine Art Wiedergutmachung des Schicksals (oder wessen auch immer) für den Antiweihnachtsmann, der uns dieses Jahr anstelle von Geschenken nur Kummer brachte. Eine neue Zeitung, der ich vor Monaten meinen Lebenslauf geschickt habe, lädt mich zu einem Vorstellungsgespräch ein – heute Mittag, im Viertel Prati –, sie gibt mir eine Chance. So sitze ich nun in meinem verrauchten, meinem von mir selbst verrauchten Zimmer und denke leise (geht das, leise denken? ich denke es jedenfalls leise), denke ganz, ganz leise, dass es diesmal vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, klappen wird. Ein bisschen hasse ich mich dafür, wie umstandslos ich mich an die erstbeste Hoffnung klammere, ein bisschen weiß ich aber auch, dass gerade diese Empfänglichkeit für Illusionen meine Rettung ist. Vielleicht klappt es diesmal, vielleicht habe ich genug gestrampelt, und die Milch verwandelt sich in Butter. Vielleicht klappt es und ich kann meine Haut wirklich retten.

Ich mache mich bereit. Kämme mir die kurzen Strähnen, die auf meinem Kopf noch übrig sind. Schminke mich ein wenig, nur gerade so viel, wie es braucht, um die Augenringe zu kaschieren, die meine Sorgen darüber verraten, dass die Zukunft auf sich warten lässt. Rouge auf die Wangen, um eine Jugendlichkeit vorzugaukeln, die meinem Gefühl nach mit jeder Enttäuschung unweigerlich ein bisschen mehr aus meinem Gesicht entschwindet. Wimperntusche. Kapuzenpulli, meine Uniform für Vorstellungsgespräche, meine Uniform im Leben. Die Uniform einer Frau, die für ihre inneren Werte beurteilt werden will und deshalb das Äußere immer verhüllt.

Draußen gebe ich auf Google Maps die Adresse ein und mache mir in Gedanken eine Notiz: den linken Autoscheinwerfer flicken lassen! Er funktioniert schon seit Monaten nicht mehr. Ich darf mir gar nicht vorstellen, dass mir unglücklicherweise ein Fahrradkurier unter die Räder geraten könnte, bloß weil ich als Autokurierin in unserem sozialen System einen halben Rang höher gestellt bin. Deshalb gelobe ich: Wenn sie mich nehmen, lasse ich als Erstes den Scheinwerfer flicken. Nichts von dem Geld, das ich in meinem Leben verdienen werde, soll anderen je zum Nachteil gereichen. Es ist eine Art Gelöbnis, ich wiederhole es nochmals und nochmals, während ich die Handbremse löse und hoffe, dass es mir wenigstens ein klein bisschen Glück bringen wird.

Vierzig Minuten später erreiche ich den Redaktionssitz. Ein Blick aufs Handy: Es ist noch zu früh. Ich fühle mich wie eine Katze, die an der Tür Krallenpflege betreibt und hofft, dass jemand aufmacht und ihr ein paar Bröckchen Futter gibt. Hunger. Ich habe Hunger, warum sollte ich es abstreiten. Habe Hunger nach Leben und Arbeiten, einen Hunger, den ich seit meinem Uniabschluss, ach was, seit dem Abitur mit mir herumtrage. Einen Hunger, der jede Chance in die letzte verwandelt. Der mir bewusst macht, dass es wirklich die letzte Chance sein könnte. Das ist meine Art, das Leben anzupacken.

So befinden ich und mein Hunger und mein zu dicker Kapuzenpulli uns nun also hier. Vor der Tür dieser x-ten Redaktion. In Erwartung von Futter. Bereit, für dieses Futter die Krallen auszufahren.

Hunger.

Ich klopfe an.

Eine Frau macht mir auf, kleiner als ich. Sie hat Medusenlocken und das geübte Lächeln einer Person, die auf Kommando lächeln kann. Ein Lächeln, das die strahlend blauen, aber merkwürdig kalten Augen nicht ansteckt. Freundlich ist sie trotzdem.

»Bist du für das Vorstellungsgespräch gekommen?« Ich nicke. »Bitte«, sagt sie und geht voraus, obwohl zum Vorausgehen kaum Platz ist. Das Zimmer, in das sie mich führt, ist wirklich winzig, und die ganze Redaktion macht den Eindruck einer in aller Hast angemieteten Wohnung. Ich verkneife mir meine Fragen (Ist das die Redaktion oder macht ihr hier nur die Vorstellungsgespräche?). Dafür setze ich mein schönstes Lächeln auf. Vor mir habe ich drei Personen: den Chef, die Frau mit dem eiskalten Blick und eine andere, die zufällig hier zu sein scheint und mit gelangweilter Miene auf ihrem Handy herumtippt. Dass Frauen im Zimmer in der Überzahl sind, sollte mich beruhigen, stattdessen habe ich spontan das Gefühl, zwei Bedienstete an der Seite des Großen Bosses vor mir zu haben.

Dieser Mann undefinierbaren Alters – katastrophal gealterte vierzig oder würdevolle fünfzig mit ein paar ungeschickt versteckten Kilo Übergewicht – reicht mir die Hand und stellt sich vor. Er ist tatsächlich der Chef. Ich betrachte ihn. Er hat große, vom Rauch gelb verfärbte Zähne, ein Lächeln wie ein alter Wolf. In seinem stumpfen, schlecht rasierten Gesicht zeigen sich abwechselnd ein fast strenger Ausdruck und eine sanfte Offenheit. Zuckerbrot und Peitsche. Das Gesicht einer Person, die präzis zu dosieren weiß, einer machtgewohnten Person, genau das ist es. Etwas an seiner Art stößt mich ab, seine Aura übertriebener Sicherheit vielleicht. Doch der Chef lächelt. Und im Gegensatz zum Lächeln seiner Mitarbeiterin erfasst es sofort auch seine kleinen, aber lebhaften Augen. Der fröhliche Blick einer Person, der es ein Anliegen ist, dass man sich wohlfühlt.

Gewöhnlich wird man an Vorstellungsgesprächen mit Fragen bombardiert. Bei ihm ist das anders. Jedenfalls zunächst. Er spricht von sich, erzählt mir sein Leben. Wie sich herausstellt, war seine bisherige berufliche Laufbahn skurril, reich an Tricks am Rande der Legalität, was er nicht verheimlicht, im Gegenteil brüstet er sich damit. So soll er einmal in Neapel die Kioskbetreiber überredet haben, zusammen mit einer der großen Tageszeitungen eine Broschüre zu verkaufen, die er als Werbung ausgab. »Dann merkte die Zeitung, dass diese Broschüre als Beilage verkauft wurde, aber eigentlich keine war, weil niemand sie genehmigt hatte.« Er grinst. »Man rief mich aus der Hauptzentrale in Mailand an und machte mir einen Vertrag.« Die ganze Geschichte klingt merkwürdig, er hat aber etwas von einem Zauberkünstler an sich, und so glaube ich ihm ein Stück weit, dass er eine so große Tageszeitung hat hereinlegen können. Warum sollte ich es nicht glauben? Schließlich sagt er selbst voller Stolz: »Ich bin siebenunddreißig und damit der jüngste Chefredakteur Italiens.« Ich nicke ihm über den Tisch zu und lächle. Nehme Anteil. Übertreibe: »Oh, gratuliere! Wie toll!« In Wirklichkeit frage ich mich: Wann beginnt das eigentliche Vorstellungsgespräch? Als hätte er in meinen Gedanken gelesen, kommt er endlich zur Sache.

»Wir werden nur etwa zwanzig Leute nehmen. Ein paar Hundert laden wir zu einem Vorstellungsgespräch ein, insgesamt haben wir siebentausend Bewerbungen bekommen. Wir haben schon eine große Vorauswahl getroffen, aber wir wollen unbedingt die Besten finden.«

Er fängt mit den Fragen an, und einen Moment lang fühle ich mich in meine Studienzeit zurückkatapultiert.

»Was sagst du, wenn ich G8 in Genua sage?«

»Wer hat dieses Jahr den Friedensnobelpreis gewonnen?«

»Nenn mir eine Person, die den Pulitzerpreis gewonnen hat, und erzähl mir etwas über sie!«

»Was hältst du von Mentanas neuer Zeitung?«

»Die Hauptstadt von Kasachstan?«

Ich bin eine völlige Niete in Geografie, aber die Hauptstadt von Kasachstan passt perfekt: Ich hatte eine WG-Mitbewohnerin, die von dort kam. In den Monaten mit ihr erfuhr ich einiges über Kasachstan. In ungeordneter Reihenfolge: Die Frauen legen sich abends um acht schlafen (könnte eventuell auch nur auf Sabina, meine ehemalige Mitbewohnerin, zutreffen); sie bestehen auf einem Mietvertrag und haben kein Verständnis für das Konzept »schwarz zur Untermiete«; das Land ist sehr reich an Bodenschätzen, was bei vielen Appetit weckt; man kennt Tiziano Ferro!, und das erfüllt mich bis heute mit Freude; und schließlich weiß ich über Kasachstan: »Die Hauptstadt heißt Astana. Seit März heißt sie jedoch Nur-Sultan, nach dem ehemaligen Präsidenten der Republik, der Nur-Sultan hieß, er hatte wohl ein großes Ego«, lächle ich.

Der Chefredakteur geht auf meinen unbedarften Ironieversuch ein und lacht. Er wirkt positiv überrascht: Dass ich die Hauptstadt von Kasachstan kenne, hätte er nicht gedacht. Aber die wusste ich ja nur, weil ich Sabina kennengelernt hatte. Davor war Kasachstan für mich, ehrlich gesagt, nur ein Land, dessen Name sich für unanständige Wortspiele und albernes Gekicher im Geografieunterricht eignete. Wir sind nun mal eine merkwürdige Generation: Wir kennen die Welt, ohne uns von zu Hause wegzubewegen. Wer nicht selbst ein kluger Kopf auf der Flucht ist, teilt sich das Badezimmer mit einem.

Es geht weiter mit einem schriftlichen Englischtest, und mir wird bewusst: Bei den meisten Fragen läuft es gleich. Meine Ausbildung – altsprachliches Gymnasium, Jura – nützt mir herzlich wenig. Im Großen und Ganzen sind es die Leute, die ich kennengelernt habe, die den Unterschied machen, jene Menschen, mit denen ich mir ein Zimmer des Daseins oder ein reales Zimmer geteilt habe, mit denen ich gemeinsam den wirtschaftlichen und emotionalen Preis des Prekariats bezahlt habe. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das Gefühl, all die Schwierigkeiten, die ich durchlebt habe, hätten einen Sinn. Ich bin fast glücklich. Sind dieses Gespräch und diese Fragen wohl Schicksal? Ist diese Zeitung Schicksal?

Ich gebe den Test ab, und man beginnt, mich auszufragen. Ich habe schon lange beschlossen, mich an Vorstellungsgesprächen nicht zu zensurieren, aufrichtig zu sein. Wenn ich unbedingt abgelehnt werden muss, dann bitte dafür, wer ich bin, und nicht dafür, wer ich zu sein vorgebe. Ich spare also nichts aus, auch nicht, dass der Studienleiter im Journalismus-Master unseretwegen den Hut hat nehmen müssen, weil er seit Jahren jede Studentin anbaggerte. Es sind die Zeiten von #MeToo, die Zeitung ist progressiv. Ich weiß, dass er verstehen wird. Sein Wolfszahnlächeln wird breiter, und ich fühle mich ermutigt: Er scheint meinen kämpferischen Ton zu mögen, oder die Tatsache, dass ich völlig transparent und offen bin.

»Weißt du, wir suchen sozial benachteiligte Menschen«, sagt er überraschend. »Das hier ist ein Sozialprojekt, junge Menschen sollen eine Möglichkeit erhalten, die sie sonst nirgends finden.«

Ich fühle, wie in meinen Augen Sterne aufblitzen. Versuche, sie zu vertreiben, doch der Mangaeffekt bleibt hartnäckig. Diese Stelle ist perfekt für mich. Ich habe es verstanden, er hat es verstanden, die Frau, die auf dem Handy herumtippt, hat es verstanden und vor allem hat es die Frau mit den blauen-aberkalten Augen, anscheinend eine Art stellvertretende Chefin, schon verstanden, als ich anklopfte.

Sozial benachteiligt: Bitte schön, da bin ich. Hier ist eure ideale Kandidatin, direkt angeschwemmt aus der Welt des finanziellen und emotionalen Prekariats: Anwesend! Macht mit mir, was ihr wollt. Gebt mir einfach Futter, verdammt. Ich habe Hunger.