NEIN HEISST NEIN

Ich habe mich zu Hause verkrochen. Erzähle allen, ich hätte Fieber, in Wirklichkeit habe ich Angst und schinde nur Zeit. Ich will diese Arbeit nicht verlieren: Man steht in der Welt draußen ja nicht gerade Schlange, um mich einzustellen. Aber jetzt schäme ich mich, als hätte ich und nicht er diesen schrecklichen, absurden Satz ausgesprochen (»Du hast mich zum Masturbieren gezwungen«), der mir in den Ohren klingt.

In der Zeit meiner Selbstisolierung ruft Giulia an, um mich mit einem Artikel zu beauftragen. Sie schimpft mit mir wie eine Grundschullehrerin nach zu vielen Absenzen, sagt, es sei nicht gut, so lange zu unterbrechen.

»Der Chef hat gesagt, dass du bei ihm nicht rangehst, er macht sich Sorgen.« In vertraulichem Ton fügt sie hinzu: »Du bist ihm sehr wichtig, weißt du.«

Ich nehme den Auftrag an und beende den Anruf, ohne eine Erklärung abzugeben oder um eine zu bitten. Während ich mich verabschiede und auflege, frage ich mich nur eins: Was hat er gesagt, was weiß Giulia? Dieses geflüsterte »du bist ihm sehr wichtig« hallt in meinem Kopf nach und wird es noch lange tun. Agiert sie immer oder nur in diesem Fall als Übermittlerin sämtlicher, wirklich sämtlicher Mitteilungen des Chefredakteurs? Ist sie naiv oder eine üble Kupplerin? Ich beschließe, es lieber nicht wissen zu wollen.

Am nächsten Tag kümmere ich mich um den gewünschten Artikel. Ich muss an einer langweiligen Pressekonferenz teilnehmen, für einen dieser typischen Gefälligkeitsartikel, mit denen das letzte Rad am Wagen beauftragt wird, weil man sich die Hände nicht selbst schmutzig machen will. Kurz gesagt, die Art von Bericht, die bei der Suche nach Kontakten und Geldgebern hilft. Es geht um Migranten – die Tageszeitung ist, wie alle ständig wiederholen, ein Sozialprojekt – und die Sache interessiert mich zum Glück. Veranstalter ist ein katholischer Verein. Im Verlauf des Vormittags ziehen eine Menge Leute über die Bühne – man dankt sich gegenseitig, schüttelt sich die Hände, klopft sich auf die Schulter –, aber von Migranten merkwürdigerweise nicht die Spur. Ich sitze ganz hinten und mache mir die ganze Zeit Notizen, unsichtbar in meinem üblichen Kapuzenpulli in Übergröße und gänzlich ungeschminkt. Mit dem Schminken tue ich mich in letzter Zeit schwer. Mir widerstrebt alles, was dazu führen könnte, dass ich, ohne es zu wollen, wie eine Blume wirke, die Bienen anlocken will. Es wird daran liegen, dass sich mir nur Schmeißfliegen nähern, als wäre ich ein Hundehaufen. So verzichte ich zugunsten der verlässlicheren Unsichtbarkeit auf die Schönheit, so verlockend und wertvoll sie mir früher erschienen war.

Als die Konferenz zu Ende ist, gehe ich zum Tisch mit den Pressemappen. Ich will mir gerade eine nehmen, da klopft mir eine feiste Hand so aufdringlich auf die Schulter, dass ich mich gezwungenermaßen umdrehe. Wie ich sehe, gehört sie einem nicht minder feisten Priester, der mich vorwurfsvoll anherrscht: »Fräulein, geben Sie mir einen von diesen Prospekten!« Ich schaue mich ungläubig um. Stelle seufzend fest, dass niemand sonst da ist und er tatsächlich mich im Visier hat. Ich antworte kühl: »Ich bin Journalistin, nicht Hostess.« Er hört es gar nicht. Die Sache ärgert mich – darauf hätte ich verzichten können, schon wieder ein Mann, der nicht das in mir sieht, was ich bin. Ich schnappe mir eine Pressemappe – den Prospekt, wie der Priester sagen würde – und will gerade gehen, als ich erneut unterbrochen werde, diesmal vom Handy. Auf dem Display leuchtet die Nummer des Chefredakteurs. Innerhalb einer Mikrosekunde überfällt mich Übelkeit. Ich muss rangehen: Für immer kann ich mich ihm nicht entziehen, er ist schließlich mein Chef. Also atme ich tief ein wie vor einem Tauchgang und drücke die grüne Taste.

»Hallo?«

»Hallo, Mira!«, ruft er fröhlich. »Dreh dich mal um!« Plötzlich habe ich das Gefühl, dass seine Stimme aus zwei Richtungen zugleich kommt, aus dem Telefon und – ich drehe mich um, in der Hoffnung, mich zu täuschen – von hinten. Da steht er, der Chefredakteur. Mit seinem Gesicht eines schnell gealterten Gassenjungen, mit Sakko und Dienstkrawatte. Ich versuche, mir ein Lächeln abzuringen, kriege aber nur eine Grimasse hin, als hätte ich einen Magenkrampf, einen besonders schmerzhaften noch dazu.

»Du bist in den letzten Tagen krank gewesen, und dazu noch die Geschichte mit dem Auto: Ganz schön viel Pech, was?«, ruft er mit einem Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht zieht. Die Geschichte mit dem Auto ist der jüngste Quatsch, den ich mir ausgedacht habe, um ihn nicht sehen zu müssen. Ich habe behauptet, es sei kaputt. Dabei steht es draußen vor der Tür. Ein Glück, dass er nicht weiß, wie mein Auto aussieht. Aber wie zum Teufel komme ich hier weg?

»Ich bin hergekommen, um dich abzuholen, freust du dich nicht?«

Nein.

»Ich lade dich zum Mittagessen ein, gleich um die Ecke gibt es ein hervorragendes kleines Restaurant.«

Nein. Nein, nein und nochmals nein. Ich versuche, es in Worte zu fassen: »Das ist nett von dir, aber nein danke. Das ist nicht nötig.«

»Ach komm, sei nicht so umständlich! Wir sind doch eine Familie, weißt du nicht mehr?«

»Eine Familie, soso …«, lächle ich sarkastisch, worüber er hinwegsieht.

»Vielleicht können wir auch das von neulich klären.«

Oha. Ja, wir sollten wirklich darüber sprechen, wir sollten einiges klarstellen.

Nach weiteren vier oder fünf rituellen Ablehnungen entscheide ich mich dafür, die Einladung anzunehmen. Es ist immerhin ein Gratis-Essen.

Wir laufen nebeneinanderher, ich schleppe mich stumm vorwärts, den Blick gesenkt, während er redet und redet und redet. Und sich rühmt, sich immer rühmt. Er beglückwünscht sich zu den neuen Deals, die er abgeschlossen hat, zur fantastischen Location für das offizielle Eröffnungsfest der Zeitung (»Aber bitte niemandem erzählen. Top secret, bis wir das definitive Okay haben.«). Wenn du wüsstest, wie egal mir dieses Eröffnungsfest ist, würde ich ihm am liebsten sagen. Und frage mich, ob er eigentlich Journalist oder Unternehmer ist – oder einfach ein unglaubliches Großmaul. Sicher ist nur: Falls er blufft, blufft er sehr gut.

Das Restaurant ist eine Touristenfalle, ich bestelle eine klebrige Pasta und versuche, sie rasch runterzufuttern, um so schnell wie möglich gehen zu können.

»Wir sollten über neulich reden«, bringe ich mutig vor.

»Später. An einem ruhigeren Ort, wenn es dir nichts ausmacht«, sagt er und blickt sich argwöhnisch um. Hätte er noch hinzugefügt, »ich habe einen Ruf zu verlieren«, dann hätte uns das buchstäblich in einen Camorra-Film katapultiert und sein Verhalten hätte wenigstens ein bisschen Sinn ergeben.

Einen Moment lang fühle ich mich gefangen: Ich kann nicht in mein Auto steigen, weil er sonst merkt, dass ich ihn angelogen habe, dass es in Wirklichkeit gar nicht kaputt ist. Aber ich kann auch nicht abhauen, weil ich früher oder später mit ihm reden muss, vor allem, wenn ich weiterarbeiten will. Und ich will weiterarbeiten. Es ist richtig, dass ich weiterarbeite.

So lasse ich ihn einfach machen. Er ruft ein Taxi, das Taxi kommt. Er steigt ein, ich steige auch ein. Während der Fahrt tippe ich auf meinem Handy herum, um mich nicht mit ihm unterhalten zu müssen.

In der Redaktion kommt er auf das Thema zu sprechen. Auf die schlimmstmögliche Art und Weise.

»Wie du bestimmt schon gemerkt hast, gefällst du mir sehr«, sagt er und schiebt nach, als hätte er meine Gedanken gelesen: »Aber fasse das bitte nicht negativ auf, es ist überhaupt nicht in einem schmutzigen Sinn gemeint.« Und weiter: »Es gibt unzählige Journalistenpaare, und niemand käme auf die Idee zu behaupten, sie sei weniger wert als er, nur weil sie zusammen sind.« Zusammen spricht er so luftig neapolitanisch aus, dass es nach etwas Fröhlichem klingt. Es steht allerdings in einem deutlichen Kontrast zu den Empfindungen, die diese Perspektive in mir auslöst. Wir kennen uns doch kaum, denke ich. Es ist so absurd, wie er mit mir redet.

Ich versuche, das Richtige zu sagen. Die richtigen Worte zu wählen. Schließlich will ich ihn weder beleidigen noch meine Arbeit verlieren. Aber auch nicht mit ihm zusammen sein.

»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sage ich, »wir haben neulich getrunken und gequatscht, und du hast bestimmt einen falschen Eindruck von mir bekommen« – obwohl ich einen Kuss von dir abgelehnt und du dich dafür entschuldigt hast, denke ich. »Aber ich bin es nicht gewohnt, Arbeit und Privatleben zu vermischen.«

Er lacht mir ins Gesicht. »Hui, wie scheinheilig! Ständig nur Feminismus hier, Feminismus da, und am Ende fühlst du dich nicht freier als eine Nonne im Kloster.«

Ich möchte ihm ins Gesicht schleudern, dass mir nie im Leben ein Mann beibringen wird, was Feminismus ist, und dass ich meine Freiheit sicher nicht dazu nutzen werde, das zu tun, was er sich wünscht, halte mich aber zurück. Stattdessen sage ich gleichmütig: »Ich bin nicht scheinheilig. Redaktionsflirts, besonders mit Vorgesetzten, sind einfach nicht mein Ding. Mehr nicht. Aber ich verurteile auch nicht, wenn das jemand anders hält, das ist ja klar.«

»Aber warum?«, fragt er plötzlich treuherzig. »Gefalle ich dir nicht?«

Sag ihm Nein. Sag ihm Nein. Sag ihm, dass du ihn zum Kotzen findest, verlier den Job, lass dich hassen, es ist egal. Sag. Ihm. Nein.

»Es geht nicht darum, ob du mir gefällst oder nicht«, antworte ich. »Es geht darum, dass ich mir klare Grenzen gesetzt habe, und wenn ich die nicht respektiere, fühle ich mich schlecht.«

»Grenzen, Grenzen, Mira … was sollen denn das für Grenzen sein? Du schränkst deine Gefühle ein, schränkst dich selbst ein und damit schränkst du auch mich ein!«

Tja. Er steckt schon tief im Sturm und Drang. Wie kommt man da wieder raus? Vor allem aber: Kommt man da überhaupt wieder raus?

Ich nehme einen neuen Anlauf: »Für mich ist es keine Beschränkung, mir ist wohl in meiner Haut, wenn ich die Dinge nicht vermische.«

»So? Dann lass mal hören, warum.«

»Keine Ahnung, warum«, rufe ich entnervt, »so bin ich nun mal!«

»Streng dich ein bisschen an, hilf mir zu verstehen, warum wir« – er sagt wir, dabei meint er ich – »auf etwas Schönes verzichten sollten.«

Einen Moment lang fällt mir keine Antwort ein. Das Problem ist, dass man nie gezwungen sein dürfte, sein Nein begründen zu müssen. Man dürfte nicht einmal gezwungen sein, sich mit Avancen eines Chefs auseinandersetzen zu müssen. Wenn er es nicht lassen kann, dann muss er nach der ersten Zurückweisung aufhören. Wie jeder andere auch – nein heißt nein. Aber er hört nicht auf.

Es geht ganz schnell. Ich merke, dass ich im wahrsten Sinn des Wortes mit dem Rücken zur Wand stehe: Ich lehne an der Wand, er steht vor mir, er ist groß, überragt mich. De facto ist es natürlich Quatsch, aber ich habe das Gefühl, er raubt mir allen Sauerstoff. Nun streckt er den Arm aus und stützt sich an der Wand ab, die Hand neben meinem Kopf. Ich sitze in der Falle. Er nähert sich mir. Nähert sich mir zu sehr. Ich kann gerade noch den Kopf in die Kapuze zurückziehen wie eine verängstigte Schildkröte. Ihm ist das egal, er ist in Fahrt. Ich drehe mein Gesicht weg, um ihm auszuweichen. Sein Kuss landet trotzdem auf meinem Mundwinkel.

»Nein, verdammt noch mal. Nein!«, platzt es aus mir heraus.

Er lacht. Wirkt überhaupt nicht wie ein zurückgewiesener Mann, eher wie einer, der gerade richtig Spaß hat.

»Überleg es dir, Mira. Überleg dir, was du verpassen könntest.«

Ich glaube keine Sekunde, dass er damit eine außergewöhnliche Liebesbeziehung zwischen mir und ihm, einem Halbfremden, meinen könnte. Ich denke auch keine Sekunde, dass er an den Quatsch glaubt, mit mir zusammen sein zu wollen. Nie war mir das klarer als jetzt.

Ich muss an das Kaninchen denken, das von einem Hund zerfleischt wurde – und der machte das nur, weil er dazu in der Lage war. Mir wird klar, dass es viele Arten von Beute gibt. Eine davon bin ich. Es gibt viele Arten von Raubtieren. Eine davon ist er.

So sieht es also aus, mein Leben als Beutetier, als Kaninchen, das von einem Hund zerfleischt wurde. So sieht es aus.

Ich werfe ihm einen letzten hasserfüllten Blick zu.

Dann suche ich das Weite, mit Tränen in den Augen und den Scherben zerbrochener Träume in den Händen.