WÖLFIN

Ich will dich etwas fragen. Nehmen wir einmal an, du lebst in einer umgekehrten, einer von Frauen dominierten Welt, in der deine Vorgesetzten immer weiblich sind. Du hast Jobs verloren, weil du die Avancen dieser Frauen abgewiesen hast, dieser merkwürdigen Raubtierfrauen, die es in der Realität nicht gibt, weil sie kaum je die Macht haben, sich so zu verhalten, und unsere Kultur das Gegenteil vorsieht, aber gut, du bist also mit solchen Frauen konfrontiert und sagst Nein, seit Jahren, immer wieder. Du hast dich von Leuten überholen lassen, die behaupten, nicht das Geschlecht, sondern die Arbeit zähle. Von Sprösslingen anderer mächtiger Frauen. Von Leuten, für die der Zweck die Mittel heiligt oder die finden, ein Fick sei bloß ein Fick, und sich einfach die Nase zuhalten. Du stehst auf einmal mit nichts da – buchstäblich mit nichts, keine Familie, keine Liebe, keinen Job – und erhältst eine Chance, die dir unendlich viel bedeutet. Angenommen, du hast es zum x-ten Mal mit einer Vorgesetzten zu tun, die dich anbaggert. Du sagst Nein. Sie insistiert. Knüpft deinen Job mehr oder weniger versteckt, mehr oder weniger explizit daran. Was würdest du dann tun? Ich sage es dir: Du weißt es erst, wenn es dir passiert.

Für einen Mann gilt es als cool, Sex zu haben. Man sagt, ein Schlüssel, der viele Türen öffnet, sei ein guter Schlüssel, ein Schloss hingegen, das sich mit mehreren Schlüsseln öffnen lässt, sei ein schlechtes Schloss. Man sagt, ihr wärt Schlüssel und würdet die Türen eures Lebens öffnen, während wir dumme Schlösser sind und immer in der Defensive spielen müssen. Ich habe schon vor längerem beschlossen, Schlüssel zu sein. Nie wieder in der Erwartung zu leben, dass andere mich aufschließen, sondern meine Türen lieber selbst zu öffnen. Wenn mir jemand gefällt, gehe ich in die Offensive wie ein Mann. Sex hat für mich schon vor langer Zeit, seit er mir abgerungen wurde, seine Bedeutung verloren. Liebe ist etwas anderes. Selten und wunderschön, rein. Aber wir können sie uns nicht alle leisten. Ich erzähle dir, wofür ich mich entschieden habe. Dann hasst du mich nicht mehr einfach so ins Blaue, sondern hast endlich ein Motiv dafür.

Von heute an können wir mich endlich zusammen hassen.

Ich gehe in die Redaktion und finde sie verwaist vor. Eröffnungsfest? Dass ich nicht lache! Die Zeitung hat ihre Arbeit noch gar nicht voll aufgenommen. Der Chefredakteur hat mich wie üblich arbeitshalber herbestellt, aber das Gespräch über meine Artikel ist schnell erledigt. Viel mehr interessiert ihn das Katz-und-Maus-Spiel, das für ihn zu einer Vollzeitbeschäftigung geworden zu sein scheint.

Er bringt sein ewiges Thema aufs Tapet: »Mira, Mira … wann lässt du dich endlich gehen? Verstehst du nicht, dass du mir wichtig bist?« Die Aussicht, mit einer ins Bett zu gehen, die er beim Nachnamen nennt, scheint ihn nicht zu stören, im Gegenteil. Er versucht, mich wieder zu küssen, und landet diesmal einen Volltreffer. Jetzt raste ich komplett aus. Gebe ihm einen Stoß, aber er bewegt sich um keinen Zentimeter. Wir reden von einem Mann, der einen Baseballschläger im Bad hat und sich selbst kümmern will, falls ein Dieb oder wer auch immer einbrechen sollte. Wir reden von einem, der diesem Baseballschläger einen Namen gegeben hat. Wir reden von einem Arschloch.

Einem Arschloch, das mich damit überrascht, dass es seine beste Karte ausspielt: »Siehst du? Wenn wir so streiten, können wir nicht mehr zusammenarbeiten. Du respektierst mich nicht. Dort ist die Tür: Wenn du gehen willst, Mira, dann geh.« Er hat soeben eine Erpressung ausgesprochen, im Tonfall eines eifersüchtigen, anmaßenden Ehemanns. Aber er ist mein Chef.

Und ich brauche diese Arbeit.

Ich bin müde, bin aufgeregt. Wütend. Verstehe nicht, warum ich immer aus Gründen, die außerhalb meiner Macht liegen, aufgeben muss, was ich gut kann. Bin unsicher, ob es falscher ist, mit ihm ins Bett zu gehen, um zugunsten der Schwächsten Artikel zu schreiben, oder mich damit abzufinden, selbst die Schwächste zu sein und mein Leben lang für ein Unternehmen Pizzas auszuliefern, das vielleicht niemanden belästigt, dafür aber zulässt, dass Mitarbeiter auf der Straße sterben, ohne dass ihre Familien eine Entschädigung bekommen. Für ein Unternehmen, das ungestraft tötet. Worin steckt mehr Gewalt? Gibt es ein erträgliches Mindestmaß an Gewalt? Oder sucht sich in dieser Gesellschaft von Brudermördern einfach jeder unter den Kompromissen denjenigen aus, der für ihn am wenigsten schlimm ist?

Ich treffe meine Entscheidung, ohne sie abzuwägen. Blitzschnell, instinktiv: Überleben. Vielleicht handelt es sich wirklich um einen Überlebensinstinkt. Ich weiß, dass dieser Augenblick nicht rückgängig zu machen ist. Ich werde die Tür nicht aufmachen, werde nicht gehen. Nicht noch einmal. Ich bin hungrig und habe gekämpft, um zu essen. Ich bin hungrig und habe gekämpft, um hier zu sein. Für ihn ist es nicht mehr als eine Laune, für mich geht es um Leben und Tod. Ihm diesen Sex zu verweigern, bedeutet für mich, auf meinen größten Traum zu verzichten, diesmal vielleicht für immer. Auf das Einzige, das mich davon abhält, an Selbstmord zu denken, mich als eine überzählige und auch nicht allzu gut an diese Welt angepasste, lebensuntaugliche Person zu betrachten.

Ich schaue ihn an und denke: Es wird einfach schlechter Sex sein. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist der Preis, den ich für mein Leben bezahlen muss. Schlimmer als eine Vergewaltigung kann es nicht sein. Das denke ich.

Da ich in dieser Zwickmühle stecke, lasse ich ihn gewähren. Dränge den Ekel zurück, richte ihn, genauer gesagt, gegen ihn. An meinen Gesten ist rein gar nichts sanft. Kein Kuss auf den Hals, keine Liebkosung, und die Zunge setze ich nur ein, um bei ihm wenigstens halb so viel Ekel hervorzurufen wie er bei mir. Ich empfinde nur Verachtung, nichts anderes als Verachtung. Er hat mich auf eine Prostituierte reduziert, und das soll er bekommen. Keine Leidenschaft, keine Fiktion. Ich behalte die Kleider an, zerre mir nur die Jeans ein wenig runter und ihm auch. Lasse nicht zu, dass er sie ganz auszieht. Ich will ihn nicht nackt sehen. Kurzer Blick nach unten, auf jenen Körperteil, dem ich das zugleich einvernehmliche und nicht einvernehmliche Eindringen erlauben soll. Er sieht aus wie ein Einsiedlerkrebs, ein blassblaues Tier, das ich keine Sekunde länger betrachten möchte: Es stößt mich ab. Während er sich ein Kondom überstreift, blicke ich anderswohin. Er möchte das Bett aufklappen, aber ich will nicht, will mich nicht hinlegen, will nicht, dass er mich so bekommt, wie er es möchte.

Er bleibt auf dem Sofa sitzen und ich besteige ihn. Mache ein paar wütende Stoßbewegungen und denke an etwas anderes. Nicht an ihn. Stelle ihn mir als Sexspielzeug vor, als Dildo oder so was. Vermeide es, in sein Gesicht zu schauen, das siegessicher, ekstatisch wirkt, und schaue über seine Schulter. Schließe die Augen. Denke an jemand anderes, an einen Jungen, den ich vor langer Zeit geliebt habe. Einen Jungen, der mir sanft den Rücken küsste, die Hände streichelte, meine Finger ineinander verschränkte und darauf malte, einer, dessen Augen Geschichten erzählten, der sich vor dem Sex die Zähne putzte und gut roch. Der das Licht löschte, aus Unsicherheit oder weil die Seele so ein bisschen freier ist und der Körper auch. Ich denke an ihn, mit geschlossenen Augen, während ich diese Sache geschehen lasse.

Wenn die Gesellschaft mich schon vergewaltigen muss, möchte ich danach wenigstens die Erinnerung haben, es sei einvernehmlich geschehen. Ich möchte wenigstens in Gedanken versuchen, die Gewalt umzukehren. Nichts kann mich daran hindern, dass ich mir vorstelle, ich wäre woanders, dass ich mir einrede, ich würde ihn für meinen Job benutzen – ja, genau, benutzen –, während ich an einen anderen zurückdenke, um einen Orgasmus zu haben, der nichts mit der Person zu tun hat, mit der ich gerade Sex habe, sondern nur mit mir selbst. Dann kommt er, zum Glück rasch. Ich natürlich nicht. Die Erinnerung an die vergangene Liebe war nicht stark genug, um die Realität dieses gemeinsamen Hasses auszulöschen.

So muss sie stinken, die dunkle Seite. Nach benutztem Latex und der im Regal vergessenen Willensfreiheit, dort neben den Hoffnungen. Nach einer zum letzten Mal in Erinnerung gerufenen und zum letzten Mal verlorenen Liebe, denn wer könnte eine wie mich jetzt noch lieben? Eine, die auf die Seite des Unrechts gewechselt hat. Eine, die zu dem geworden ist, was sie am meisten verabscheute. Eine Vergewaltigte, die zu Gewalt greift. Eine von einem Werwolf Gebissene, die zu einer Wölfin geworden ist, und das ganz ohne Vollmond.

Ich betrachte meine Fingernägel: Darunter ist Blut. Nicht von ihm, sondern von mir. Ich hatte sie mir die ganze Zeit in die Handballen gebohrt und es nicht gemerkt. Keine andere Wölfin beißt sich selbst anstelle der anderen. Ich verdiene nichts mehr. Keine Vergebung, weder von mir noch von meinen Freunden, den Leuten, die wirklich an mich geglaubt haben. Keine Vergebung von dir, meinem Bruder. Ich brocke es mir immer selbst ein. Du hast vielleicht gut daran getan, dich bei der Geschichte mit der Vergewaltigung nicht auf meine Seite zu stellen. Mein Inneres ist faul. Ich ziehe Finsteres an. Bin falsch gewickelt, bin eine Hure. Will diesen Job gar nicht mehr, will vielleicht nur, dass das alles aufhört. Dass das Leben aufhört. Weil das kein Leben ist.