Kapitel 3

Natsumi, 40 Jahre, ehemalige Zeitschriftenredakteurin

J eder von uns sollte in seiner Kindheit irgendwann zu der Erkenntnis gelangt sein, dass es keinen Weihnachtsmann gibt, trotzdem fehlen jegliche Anzeichen dafür, dass er aus den Köpfen verschwindet. Seine Existenz besteht aber nicht darin, dass die Kleinen an ihn glauben, vielmehr sind es die heutigen Erwachsenen, die den Weihnachtsmann aus ihrer Kindheit in ihren Herzen bewahren und in dieser Glaubenswelt weiterleben.

 

Wie oft mag ich diese Passage in dem Buch wohl schon gelesen haben?

Wenn man den Schutzumschlag abnimmt, kommt ein schlichter weißer Einband zum Vorschein. Auch das gefällt mir. Manchmal trage ich das Buch wie einen Talisman bei mir. Meine Post-its ragen bunt zwischen den Seiten heraus.

Heute Morgen habe ich den Kalender zum 1. Dezember umgeblättert. Was soll ich meiner Tochter Futaba dieses Jahr schenken? Es macht Spaß, sich in den Weihnachtsmann hineinzuversetzen und sich seinen Kopf zu zerbrechen.

Ich schaue aus dem Fenster.

Drei Monate sind inzwischen vergangen, überlege ich beim Anblick der Wintersonne.

Die blasse Sichel des zunehmenden Mondes hängt noch am Himmel.

 

August.

Die Sommerferien waren vorbei, und in der Firma herrschte wieder Normalbetrieb.

Ich arbeitete in der Dokumentationsabteilung des Verlagshauses Banyusha, wo ich Publikationen archivierte, von Mitarbeitern angefordertes Material heraussuchte und notwendige Unterlagen beschaffte. Außerdem erstellte ich Unternehmensprofile für die Website und anderes PR -Material zur externen Verwendung.

Fünf weitere Kollegen arbeiteten in meiner Abteilung, alles Männer mittleren Alters. Keiner von ihnen zeigte sich sonderlich gesprächig, weshalb ich mich selbst zwei Jahre nach meiner Versetzung hierher nicht sonderlich wohlfühlte. Zuvor hatte ich in der Redaktion der Mila gearbeitet – einer Zeitschrift, die sich an junge Leserinnen um Mitte zwanzig als Zielgruppe richtete.

Dreizehn Jahre lang hatte ich dort wie eine Blöde geschuftet. Dann wurde ich überraschend, aber nicht ungewollt schwanger. Als 37-Jährige erschien es mir damals als der ideale Zeitpunkt, in anderen Umständen zu sein. Ich hoffte, die Risiken und Schäden für meinen Körper und meine Karriere so gering wie möglich zu halten, wenn ich in diesem Alter ein Kind bekäme und möglichst schnell wieder in den Beruf zurückkehrte.

Ich muss gestehen, dass ich mich damals etwas überfordert habe. Von dem Moment an, wo ich es wusste, bis zur zwölften Schwangerschaftswoche hatte ich außer dem Chefredakteur niemandem davon erzählt, da ich keine Sonderbehandlung haben wollte. Stillschweigend ertrug ich die morgendliche Übelkeit und unterdrückte die hormonell bedingte Müdigkeit mit Unmengen an Pfefferminz-Kaugummis. Als dann mein Bauch so dick war, dass sich die Schwangerschaft nicht mehr verbergen ließ, bemühte ich mich mit aller Kraft, die Zusammenarbeit mit den Kollegen nicht zu belasten.

Ich war bis zum letzten Monat vor der Entbindung im Januar im Dienst. Obwohl ich Anspruch auf sechzehn Monate Mutterschaftsurlaub gehabt hätte, war ich fest entschlossen, meine Arbeit bereits im April wieder aufzunehmen. Zuerst zögerte ich, meine erst zwölf Wochen alte Tochter in die Krippe zu geben, doch ich musste einfach schleunigst in den Verlag zurück.

An meinem ersten Arbeitstag ging ich wie gewohnt schnurstracks in die Mila -Redaktion. Nach so langer Abwesenheit begrüßten mich die Kollegen mit einem leicht gezwungenen Lächeln: «Willkommen zurück.»

Ich wunderte mich noch über diese Distanziertheit, als mich der Chefredakteur zu sich rief.

«Frau Sakitani, darf ich Sie kurz sprechen?»

Er lotste mich in den Konferenzraum, um mir unverzüglich mitzuteilen, dass ich ins Archiv versetzt werden sollte.

«A-ber warum?», wagte ich schließlich mit zittriger Stimme zu fragen, worauf er lapidar erwiderte: «Weil es schwierig ist, Redaktionsarbeit zu leisten und zugleich Kinder großzuziehen.»

«A-ber ich …»

Unverständnis und Wut tobten in mir, Gefühle, die ich nicht in Worte fassen konnte.

Warum? Warum? Warum?

Während meines kurzen Mutterschaftsurlaubs hatte ich doch jedes Monatsheft von Mila Zeile für Zeile durchgearbeitet, neue Beiträge ersonnen und Material dafür gesichtet. Ich hatte versucht, den Rückstand aufzuholen, um gut vorbereitet an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Über so viele Jahre hatte ich mir das hier aufgebaut, und nun? Hatte ich irgendetwas vernachlässigt, dass man nicht auf meine Rückkehr warten konnte? Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass ich meine Stelle verlieren würde.

«Die Personalabteilung wird überdies dafür sorgen, dass Sie Ihren Dienst erst um neun beginnen und um siebzehn Uhr nach Hause können», versicherte mir mein Chef in beschwichtigendem Ton, worauf ich sofort Einspruch erhob.

«Dazu besteht überhaupt kein Grund. Ich kann Arbeit und Kinderbetreuung durchaus unter einen Hut bringen. Mein Mann und ich haben verabredet, dass wir das gemeinsam machen. Ich habe sogar einen Babysitter für eventuelle Überstunden und abendliche Sitzungen organisiert –»

«Es ist bereits ausgemacht. Im Archiv haben Sie’s leichter, da brauchen Sie sich nicht so ins Zeug zu legen», unterbrach er mich hörbar gereizt.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich zutiefst verzweifelt. Aus Sicht meines Arbeitgebers schien es sich um eine wohlmeinende Entscheidung zu handeln. Ich hingegen wollte es mir gar nicht leicht machen. Mir kam es so vor, als würde man mir sagen, ich sei nicht mehr nützlich für den Betrieb, und ich hatte das Gefühl, in ein dunkles Loch zu stürzen.

Für Banyusha arbeiteten bisher keine Frauen mit Kindern. Es gab also keinen Präzedenzfall. War ich so naiv zu glauben, ich könnte in dieser Hinsicht eine Pionierin sein?

Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Mehrmals hatte ich erwogen, mich nach einem anderen Zeitschriftenverlag umzusehen. Tatsächlich lief die Kinderbetreuung – vor allem mit meinem Mann – nicht so reibungslos wie erhofft. Ich hatte gar nicht den nötigen Freiraum, um großartige Pläne zu schmieden.

Es war peinlich, es zugeben zu müssen, aber der Chefredakteur hatte vermutlich recht: Es war kaum machbar, wie bisher im Redaktionsteam weiterzuarbeiten, wo alles im Minutentakt erledigt werden musste. Wohl oder übel musste ich es im Archiv aushalten, bis meine Tochter größer war.

 

Der Minutenzeiger der Wanduhr sprang bereits auf kurz nach fünf. Ich warf mir die Tasche über die Schulter und verließ möglichst geräuschlos den Raum. Alle Kollegen saßen noch vornübergebeugt in ihre Arbeit vertieft an ihren Plätzen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich pünktlich ging, obwohl das ja kein Fehlverhalten war.

Wegen der langen Warteliste war es mir noch nicht gelungen, für Futaba einen Platz in der Krippe nahe unserer Wohnung zu ergattern. Um für meine Rückkehr in den Verlag gerüstet zu sein, musste ich mich deshalb mit einer Kindertagesstätte begnügen, die nur wenige Gehminuten von der Bahnstation entfernt lag. Doch selbst wenn ich pünktlich um fünf Schluss machte, war die Zeit knapp, denn wenn ich eine Bahn verpasste, würde ich den Anschlusszug nicht erreichen und käme dadurch zu spät zur Kita.

Es zerbrach mir fast das Herz, als Futaba neulich mutterseelenallein auf mich warten musste, nachdem bereits alle anderen Kinder abgeholt worden waren. Die ersten drei Minuten plagte mich mein schlechtes Gewissen, weil die Kollegen noch bei der Arbeit saßen, die nächsten vier, dass ich nicht rechtzeitig bei meiner Tochter sein würde.

Tut mir leid …. tut mir leid …

Mit diesem Refrain im Kopf ging ich reumütig durch die Ticketkontrolle. Mein Mann würde heute bestimmt wieder spät nach Hause kommen. Durchgerüttelt stand ich im Waggon und stierte ausdruckslos nach draußen, wo es noch hell war.

 

Erst gestern, am Freitag, hatte er mir eröffnet, dass er am Wochenende dienstlich verreisen würde.

Shūji arbeitet für eine Veranstaltungsagentur. Ich hatte das Gefühl, dass er in letzter Zeit öfter als früher auswärts zu tun hatte und auch mehr Überstunden machen musste. Vermutlich war die Dienstreise ad hoc beschlossen worden, trotzdem hätte ich es gern rechtzeitig gewusst.

Es gibt tagtäglich so viel Kleinkram, der erledigt werden muss. Es ist ja nicht damit getan, dass ich Futaba jeden Morgen zur Kita bringe und nachmittags wieder abhole. Gemäß der Einträge der Betreuerinnen im Kalender muss ich für die Kita Besorgungen machen und mich auf kommende Veranstaltungen vorbereiten. Am Wochenende wartet dann zu Hause die übliche Hausarbeit auf mich wie Futons lüften, das Badezimmer putzen und den Kühlschrank auffüllen.

Andererseits war es nicht unbedingt nötig, alles auf einmal zu erledigen. Wenn mein Mann nicht daheim war, brauchte das Bad nicht blank gewienert zu sein, und mir reichten die vorhandenen Essenvorräte.

Schlimm für mich war, dass meine Hoffnungen, die Kinderbetreuung und Hausarbeit am Wochenende unter uns aufzuteilen, enttäuscht wurden und ich nun alleine damit fertigwerden musste.

Dabei ist Shūji ein größerer Kindernarr als ich. Es macht ihm nichts aus, Windeln zu wechseln, und nach der Stillzeit hat er sogar nach Rezepten für Babynahrung gesucht und sie selbst zubereitet. Und wie zärtlich und liebevoll sein Blick ist, wenn er nach unserer kleinen Tochter schaut.

Wenn etwas schiefging, fühlte ich mich wohler, wenn er bei mir war. Allein mit dem Kind war ich in ständiger Anspannung, weil ich jeden Moment auf der Hut sein musste und die Kleine nicht aus den Augen lassen konnte.

Natürlich liebte ich Futaba ebenso, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aber diese Liebe und das gleichzeitige Gefühl von Klaustrophobie, weil ich mit einem Kleinkind eingesperrt bin, sind zwei widerstreitende Gefühle.

 

Als ich mich in der Frühe von Shūji verabschiedet hatte und mich noch einmal hinlegen wollte, war Futaba bereits auf. Komisch, dass sie ausgerechnet am Wochenende immer eher aufwachte. Nach dem Frühstück kramte sie sämtliches Spielzeug aus der Box, um sich damit zu beschäftigen.

Die Gelegenheit nutzend, ging ich auf die Veranda, um Wäsche aufzuhängen. Futabas Futonbezüge nahmen den meisten Platz ein, sodass ich andere Sachen auf den Kleiderbügeln eng zusammenschieben musste.

Die Kindertagesstätte verlangte Bezüge mit Reißverschluss, die ich jeden Freitagnachmittag, wenn ich Futaba abholte, abziehen musste, um sie am Montagmorgen frisch gewaschen zurückzugeben. Als ich Shūji davon erzählte, reagierte er nur mit einem knappen «Aha». In seinen Ohren waren das Belanglosigkeiten, für die er kein Verständnis aufbrachte. Es frustriert mich, wenn ich daran denke.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Futaba vor dem Fernseher und schaute ein Anime. Sämtliche Spielsachen lagen wild verstreut auf dem Boden.

«Fu-chan, pack die Sache in die Box, wenn du fertig bist mit Spielen.»

«Nein!»

«Na gut, dann werfe ich alles weg.»

«Nei-ein!»

«Dann räum bitte auf!»

«Ne-in!»

Sie war in der Trotzphase. In allen Erziehungsbüchern stand, das sei typisch für rebellische Zweijährige. Man solle nicht schimpfen, sondern den Entwicklungsprozess mit Gelassenheit betrachten.

Also versuchte ich, meinen Erwachsenenärger zu besänftigen, und bahnte mir einen Weg durch die Spielsachen in die Küche. Ich musste Futabas Wasserflasche reinigen, die ich gestern Abend in der Spüle abgestellt hatte. Es war die schwer zu säubernde Sorte, bei der das Mundstück hochploppte, wenn man den Deckel öffnete. Ich weichte die Einzelteile in Chlorreiniger ein, um sie zu desinfizieren und die Teeflecken zu entfernen.

Auch dies war eine Wochenendaufgabe. Und gerade diese banalen Tätigkeiten nahmen mehr Zeit in Anspruch, als ich vermutet hätte. Deshalb konnte ich in meiner Freizeit nie richtig abschalten.

Muße. Muße? Wenn es so etwas zu kaufen gäbe, würde ich es mir anschaffen.

Ich seufzte. Vielleicht war ich nicht dafür geeignet, Kinder großzuziehen. Konnte ich es tatsächlich nicht besser machen? Aber zwei ganze Tage mit Futaba allein in unserer Wohnung erschienen mir endlos. Sollte ich mit ihr in den Park gehen? Tja, wenn man das Glück hätte, nur wenige Leute dort anzutreffen, doch für gewöhnlich tummelten sich dort Scharen von Müttern, die mich so einschüchterten, dass ich am Ende nur eine kurze Runde drehte. Bei dem Gedanken gab ich den Plan sofort auf.

Wie sollte ich mir also mit Futaba unbeschwert die Zeit vertreiben? Ins Aquarium oder in den Zoo zu gehen war zu aufwendig, und der Bus zur Stadtbücherei fuhr nur selten.

Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass die Leiterin der Kindertagesstätte einmal die Bücherei im Hatori-Gemeindehaus erwähnt hatte, wo es eine eigene Abteilung für Kinderbücher gebe. Es gehörte zu dem Komplex mit der Grundschule, auf die Futaba später gehen sollte.

Ich hatte damals nicht sonderlich darauf geachtet, weil ich gerade im Aufbruch war, aber die Suche nach der genauen Adresse auf meinem Smartphone verriet mir, dass es sich um eine ziemlich imposante Einrichtung handelte. Es gab sogar Tagungsräume im westlichen und japanischen Stil, in denen auch eine Reihe von Kursen für Erwachsene angeboten wurde.

Der Gebäudekomplex lag nur zehn Minuten Fußweg von uns entfernt. Es würde ein netter Spaziergang sein, und ich bekam schon mal, wenn auch etwas verfrüht, einen Eindruck von der Atmosphäre rund um Futabas zukünftiger Grundschule.

«Fu-chan, lass uns rausgehen.»

Futaba, die immer noch vor dem Fernseher hockte, sprang vom Sofa auf. Gott sei Dank, diesmal kein «Nein».

 

Wir gingen Hand in Hand, während Futaba neben mir hüpfte. Ihr Strohhut auf dem Kopf wippte mit.

«Fu-chan trägt Söss-chen.»

Futabas fröhliches Gesicht, als sie zu mir aufschaute, brachte mich zum Lächeln. «Söss-chen.» Sie meinte ihre Lieblingssöckchen mit dem Katzenmotiv. Sie konnte so süß sein.

Wir passierten den Schuleingang und liefen weiter am Zaun entlang, bis uns ein Schild mit einem Pfeil und dem Hinweis Zum Gemeindehaus hier entlang den Weg wies. Es war offenbar das weiße Gebäude am Ende eines schmalen Pfads.

 

An der Rezeption trug ich unsere Namen, den Zweck des Besuchs und die Uhrzeit in eine Liste ein, bevor wir hineingingen. Die Bibliothek befand sich im Erdgeschoss am Ende des Flurs.

Als wir den Saal betraten, erblickte ich sogleich hinten rechts die Kinderbuch-Abteilung mit niedrigen Regalen und einem Bodenbelag aus Gummimatten. Die kleinen Tische hatten runde Ecken. Die Schuhe musste man außerhalb des Bodenbelags stehen lassen.

So früh waren noch keine anderen Besucher da. Erleichtert zog ich mir und Futaba die Schuhe aus und ließ mich mit ihr in der Kinderecke nieder. Es war so entspannend, von all den Bilderbüchern umgeben zu sein. Ich zog ein paar von denen, die mir zufällig ins Auge sprangen, aus den Regalfächern.

Automatisch schaute ich nach den Verlagen. Himmelsklänge. Ahorn. Sternennebel – was für hübsch klingende Namen Kinderbuchverlage hatten.

Futaba fing an, ihre Söckchen auszuziehen, obwohl sie sie eben noch freudestrahlend getragen hatte.

«Fu-chan, ist es dir zu warm?»

«Bafus … bafus … Jelop …»

«Jelop?»

Das meiste von ihrem Geplapper konnte ich deuten, manchmal musste ich aber passen.

Ich rollte die Söckchen zusammen und verstaute sie in meiner Tasche. Futaba begann, vor den Regalen hin und her zu laufen. Eine junge Frau mit Pferdeschwanz lugte hinter einem hervor.

«Ich glaube, sie meint Gelob.»

Die Frau trug eine marineblaue Schürze und hielt mehrere Bücher in den Händen. Offenbar war sie eine Bibliotheksangestellte. Auf einem Schild an ihrer Kleidung stand ihr Name: Nozomi Morinaga.

Mit einem Lächeln, so frisch wie junge grüne Sprösslinge, fuhr sie fort: «Es ist ein Bilderbuch-Klassiker namens Barfüßiger Gelob . Die Titelfigur ist ein Tausendfüßler.»

«Ach, ein Tausendfüßler?»

Kichernd zog Nozomi ihre Schuhe aus und trat zu uns. Nachdem sie den Stapel auf einem der niedrigen Tischchen abgelegt hatte, zog sie zielstrebig ein Bilderbuch aus dem Regal.

«Jelop!»

Futaba stürzte sich begeistert auf das Buch. Sie kannte es vermutlich aus der Kita. Als sie es aufschlug, sah ich auf dem Bild einen Tausendfüßler, der verzweifelt versuchte, seine Füße in Schuhe zu stecken. Zur Hälfte war er noch barfuß, während die andere Hälfte seiner Füße bereits verschiedenes Schuhwerk trug.

Als ich verstört auf die groteske Darstellung starrte, die man kaum als niedlich bezeichnen konnte, meinte Nozomi: «Erwachsene mögen die Figur befremdlich finden, aber Kinder lieben Gelob. Es gibt auch anderes Ungeziefer wie Fliegen und Kakerlaken in der Geschichte, die sehr liebevoll dargestellt werden. Ich finde das Buch wundervoll, weil es unvoreingenommen aus Sicht der Kinder gezeichnet ist, für die Insekten nicht nur Schädlinge sind.»

Sie versteht was von ihrem Fach, dachte ich bewundernd und nickte.

«Können wir die Bücher auch ausleihen?», fragte ich.

«Ja, sofern Sie hier im Bezirk wohnen. Sollten Sie noch etwas anderes suchen, wenden Sie sich bitte an die Bibliothekarin dort drüben.»

Nozomi zeigte auf die gegenüberliegende Seite. Eine Trennwand versperrte die Sicht, aber von der Decke baumelte ein Schild mit der Aufschrift Auskunft .

«Oh, ich dachte, Sie seien die Bibliothekarin.»

Nozomi wurde rot und winkte ab. «Nein, nein, ich bin eine Praktikantin in der Ausbildung. Nach dem Abschluss der Oberschule muss ich drei Jahre Berufserfahrung sammeln, um Bibliothekarin zu werden. Ich stehe noch ganz am Anfang und habe einen langen Weg vor mir.»

Sie hatte große, schimmernde Augen. Sie war jung und sah blendend aus. Ich war jedoch auch davon beeindruckt, wie ernst sie ihre Aufgaben nahm, um sich zielstrebig ihrem Wunschberuf zu nähern. Es erinnerte mich daran, wie ich damals darum gekämpft hatte, meinen Traumjob zu finden. Ich wollte unbedingt im Verlagswesen arbeiten und Bücher gestalten. Mila war meine Lieblingszeitschrift, deshalb empfand ich es als ein Riesenglück, genau in dieser Redaktion eine Anstellung zu bekommen.

Vor fünf Jahren hatte ich die berühmte Schriftstellerin Mizue Kanata dazu bewegen können, eine Fortsetzungsgeschichte für Mila zu schreiben. Mizue war zu diesem Zeitpunkt bereits siebzig, und der Chefredakteur fand, dass unsere jungen Leserinnen nicht die passende Zielgruppe für ihre Story seien. Außerdem handelte es sich um einen Roman und nicht um eine informative Artikelserie, auch deshalb hielt er das Vorhaben für ungeeignet. Ich war mir jedoch hundertprozentig sicher, dass Mizues Stil Anklang bei der jungen weiblichen Leserschaft finden würde. Die optimistische kraftvolle Botschaft, die in ihren historischen und rein fiktiven Geschichten steckte, konnte durchaus Zwanzigjährige reizen. Ich dachte mir, wenn Mizue ihre Schauplätze und Protagonisten auf die Leserinnen von Mila abstimmte, würden diese, gespannt auf die Fortsetzung, den neuen Ausgaben der Zeitschrift entgegenfiebern.

Als Nächstes wandte ich mich an den Ressortleiter, der mich auslachte.

«Wenn du glaubst, sie dafür gewinnen zu können, probier’s doch!»

Das war die nächste Abfuhr, nur aus einem anderen Blickwinkel. Der Ressortleiter wollte mir damit zu verstehen geben, dass eine berühmte Autorin wie Mizue sich keinesfalls breitschlagen lassen würde, für ein Frauenmagazin zu schreiben.

Trotzdem setzte ich nun alles daran, Mizue dazu zu bewegen. Zunächst lehnte sie ab, indem sie vorgab, es sei ihr zu viel Arbeit, eine monatliche Fortsetzungsgeschichte zu schreiben.

Aber ich ließ nicht locker. Immer wieder versuchte ich, ihr klarzumachen, welchen Ansporn ihre Protagonistinnen dank ihrer Willensstärke und Leichtigkeit den jungen Leserinnen von Mila geben könnten. Und ich sicherte Mizue meine volle Unterstützung zu.

Bei meinem fünften Anlauf gab sie endlich nach. «Ich bin gespannt, was für eine Geschichte in der Zusammenarbeit mit Ihnen herauskommen wird», sagte sie.

Mizues Fortsetzungsroman, in dem es um eine Beziehung zwischen zwei Mädchen unterschiedlichen Typs ging, die weder als Freundschaft noch als Rivalität bezeichnet werden konnte, trug den Titel Die rosa Platane und wurde schnell zum Highlight von Mila . Der Anstieg der Verkaufszahlen war eindeutig auf diesen Erfolg zurückzuführen. Als die Serie sich nach anderthalb Jahren, in denen sie sich großer Beliebtheit erfreute, dem Ende zuneigte, beschloss man, sie anschließend in Buchform zu veröffentlichen. Da Banyusha über keine Belletristik-Abteilung verfügte, war es meine Aufgabe, mich um den Druck des Romans und um den Vertrieb zu kümmern.

Darüber hinaus musste ich noch meine üblichen redaktionellen Aufgaben erledigen. Es war meine intensivste Zeit im Verlag, und ich arbeitete bis zum Umfallen. Aber ich genoss jeden Tag.

Der Roman wurde dann mit dem Bookshelf Award, einem bedeutenden japanischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Wie zu erwarten war, zeigte sich das Unternehmen hocherfreut. Im Rampenlicht der Literaturszene zu stehen war für einen Zeitschriftenverlag wie Banyusha nichts Alltägliches. Der Geschäftsführer sprach mich zwischen Tür und Angel an, um mir eine Beförderung zur stellvertretenden Chefredakteurin in Aussicht zu stellen.

Kurz darauf war ich schwanger. Ich fand es zwar nicht ganz unbedenklich, für eine Weile zu pausieren, meine Verdienste für den Verlag gaben mir aber die nötige Zuversicht. Ich liebte meinen Job, hatte mir ein gutes Verhältnis zu Mizue aufgebaut und nahm mir vor, mich noch mehr ins Zeug zu legen, wenn ich an meinen Arbeitsplatz zurückkehrte. Redakteurin zu sein war für mich die Quintessenz all meiner Bemühungen.

Aber dann …

… wurde nichts daraus.

Meine Erfahrungen und all meine Anstrengungen blieben ohne Anerkennung. Hätte ich gewusst, dass ich nicht in die Redaktion von Mila zurückkehren durfte, hätte ich mich während meines Mutterschaftsurlaubs vielleicht mehr um Futaba gekümmert, anstatt mit den Gedanken bei meinem Job zu sein. Die wenigen kostbaren Stunden, wenn die Kleine schlief, hätte ich mich ausruhen, koreanische TV -Serien ansehen oder einer anderen Freizeitbeschäftigung nachgehen können – ohne meine Energie damit zu verschwenden, mir neue Projekte für Mila auszudenken und Hintergrundmaterial zu sammeln. Nun befand ich mich in einer Situation, in der ich weder mit meinem Job noch mit dem Muttersein zufrieden war, und dennoch musste ich jeden Moment kämpfen, um beides unter einen Hut zu bringen.

Was blieb mir übrig? Was hätte ich besser machen können? Ich hatte das Gefühl, mich nutzlos im Kreis zu drehen und Trübsal zu blasen, ohne einen Schritt voranzukommen.

 

Futaba saß wie angewachsen auf dem Boden, vor sich ein aufgeschlagenes Bilderbuch.

«Fu-chan, wollen wir uns da drüben noch andere Bücher anschauen?»

Sie musste mich gehört haben, doch es kam keinerlei Reaktion, so versunken war sie in die Gelob -Geschichte.

«Ich kann inzwischen auf sie aufpassen, gehen Sie ruhig», bot mir Nozomi an.

«Oh, aber …»

«Nein, wirklich. Im Moment sind ja keine anderen Leser hier.»

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und schlüpfte in meine Schuhe. Wenn ich noch ein paar andere interessante Bilderbücher fände, würde ich das Wochenende vielleicht ganz entspannt überstehen.

Als ich über die Trennwand zur Auskunft spähte, die gleichzeitig als Schwarzes Brett diente, blieb ich abrupt stehen.

Hinter der Theke saß eine große blasse Frau, deren Alter sich schwer schätzen ließ. Vielleicht war sie um die fünfzig … Ihr weißes, langärmliges Hemd hatte eine Konfektionsgröße, die man hierzulande schwerlich in normalen Bekleidungsgeschäften finden konnte. Entweder war es eine Maßanfertigung oder Importware aus Übersee. Mit der elfenbeinfarbenen Schürze und ihrer makellos weißen Haut erinnerte sie mich an Disneys Baymax .

Völlig in sich gekehrt, schien sie in eine knifflige Arbeit vertieft zu sein. Neugierig trat ich näher und sah, wie sie mit einer Nadel in eine Wollkugel auf einer Schaumstoffunterlage pikte.

Das kam mir bekannt vor. Filzen. Es war zwar nicht mein Projekt gewesen, aber in einer Sonderausgabe von Mila war darüber berichtet worden. Eine Handarbeit, bei der durch Nadelstiche in Wollfilz eine bestimmte Form entsteht. Offenbar fertigte sie Maskottchen an. Es wirkte tatsächlich wie eine Szene im Zeichentrick, als diese groß gewachsene Frau ein so klitzekleines Ding fabrizierte. Fasziniert beobachtete ich ihre Hände.

Neben ihr befand sich eine tieforangefarbene Dose, die typische Verpackung von Honey Dome. Die halbmondförmigen Soft-Cookies haben eine cremige Honigfüllung, die einfach köstlich schmeckt. Sie erfreuen sich in jeder Altersgruppe großer Beliebtheit. In der Redaktion haben wir sie manchmal an die freien Autoren verschenkt. Der Gedanke, dass diese Nascherei auch der Bibliothekarin mundete, machte sie mir gleich sympathischer.

Urplötzlich hielt sie mit der Arbeit inne.

Ich zuckte zusammen, als sie blitzschnell zu mir aufblickte. «Oh, Verzeihung …»

Es bestand gar kein Grund, mich zu entschuldigen, dennoch wandte ich mich kleinlaut zum Gehen.

«Was suchen Sie denn?»

Sogleich fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Es war ihre Stimme. Weder freundlich noch heiter, sondern eher monoton und tieftönend. Und doch schwang etwas tief Vertrautes darin, dem ich mich bereitwillig mit Leib und Seele anvertrauen würde.

Bei der Frage, was ich suchte, hätte ich eine Menge aufzählen können: meine zukünftige Laufbahn; einen Weg, um mich aus dem gegenwärtigen Schlamassel zu befreien; Freiraum für die Erziehung meines Kindes … und noch einiges mehr.

Aber das hier war kein Beratungszentrum.

Deshalb lautete meine schlichte Antwort: «Bilderbücher.»

Auf dem Namensschild, das an ihrer Brust haftete, stand Sayuri Komachi .

Ko-machi – kleine Stadt . Was für ein drolliger Name für eine so üppige Gestalt. Bibliothekarin Frau Komachi.

Sie öffnete die Honey-Dome-Dose und legte ihre Nadeln hinein. Offenbar benutzte sie die leere Verpackung als Nähkästchen.

«Bilderbücher? Davon haben wir einen ganzen Haufen», sagte sie lapidar.

«Ich suche etwas Geeignetes für meine zweijährige Tochter. Sie liebt den Barfüßigen Gelob

Frau Komachis Körper wabbelte leicht, als sie seufzte. «Ach herrje, das ist ja ein Klassiker.»

«Vielleicht für Insider», murmelte ich. «Von mir kann ich allerdings nicht behaupten, eine Kinderbuch-Expertin zu sein.»

Frau Komachi neigte den Kopf zur Seite. Ihr Haar war zu einem festen Dutt gezwirbelt, in dem eine Haarnadel mit weißen Blumen und Troddeln steckte. Sie hatte offenbar eine Vorliebe für Weiß.

«Solange man es nicht selbst erlebt hat, kann man nicht beurteilen, was es bedeutet, ein Kind großzuziehen. Es ist in vielerlei Hinsicht anders, als man es sich vorgestellt hat.»

«Ja, genau, das finde ich auch.» Ich nickte nachdrücklich. Endlich gab es jemanden, der mich zu verstehen schien, und ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. «So wie man Winnie Puuh niedlich finden mag, aber mit einem Bären zu leben ist eine gänzlich andere Nummer.»

«Hahaha!»

Ihr schallendes Gelächter erschreckte mich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Stimme so laut werden konnte. Außerdem war mein Vergleich durchaus ernst gemeint gewesen. Dennoch fühlte ich mich irgendwie befreit. Es tat mir gut, offen sprechen zu können. Die Klagen sprudelten nur so aus mir heraus.

«Seit ich Mutter bin, stecke ich in einem Dilemma. Ich bin frustriert, weil ich nicht das tun kann, was ich gern möchte, und denke gleichzeitig, dass es so nicht sein sollte. Meine Tochter ist mir natürlich sehr wichtig, aber ein Kind zu haben ist viel schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe.»

Frau Komachi hörte auf zu lachen und sagte ganz sachlich: «Kinder kommen doch nicht so mir nichts, dir nichts auf die Welt. Eine Geburt ist doch ein einschneidendes Ereignis.»

«Ja, das stimmt. Und mir ist dabei klar geworden, was Frauen Großartiges leisten.»

«Das will ich meinen.»

Sie nickte kurz und hob ihren Kopf, um mir geradewegs in die Augen zu schauen.

«Ich sehe das so: Meine Mutter hatte es sicher schwer, als sie mich gebar, aber ebenso kann ich von mir behaupten, dass ich auch einiges zu ertragen hatte und meine sämtlichen Kräfte mobilisieren musste, um das Licht der Welt zu erblicken. Nachdem ich die lange Zeit der Schwangerschaft im Bauch meiner Mutter verbracht hatte und zu einem menschlichen Wesen herangewachsen war, ohne dass mir das jemand beigebracht hatte, wurde ich plötzlich in eine völlig neue Umgebung geworfen. Es war sicher ein unfassbarer Schock, plötzlich mit Luft in Berührung zu kommen. Wo bin ich hier gelandet? , mag ich empfunden haben. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Daher genieße ich jeden Moment, wenn ich glücklich bin oder mich über etwas freue, und denke mir, dass es sich doch gelohnt hat, geboren worden zu sein.»

Ihre tiefsinnige Rede verschlug mir die Sprache.

Frau Komachi drehte sich zu ihrem PC . «Sie haben dasselbe erlebt. Geboren zu werden ist wahrscheinlich das Schwierigste, was einem Menschenkind in seinem Dasein widerfährt. Alles, was danach kommt, ist mit Sicherheit leichter zu bewältigen. Wenn man eine solche Tortur überlebt hat, kann man jede Schwierigkeit meistern.»

Damit richtete sie sich auf und legte beide Hände auf die Tastatur. Ihr Anschlag war bemerkenswert, die Finger ratterten los wie eine Maschine. Ich schaute verblüfft zu, bis sie der letzten Taste einen leichten Klaps zu geben schien. Im nächsten Augenblick fing der Drucker an zu rappeln und spuckte ein Blatt Papier im B5-Format aus.

Ich las die darauf gelisteten Buchtitel mit Angabe von Autor oder Autorin und die dazugehörigen Signaturen.

In den ersten drei Zeilen standen eindeutig Bilderbuchtitel: Ponpon-san , Willkommen zurück, Piggy Tonton und Nanno Nonna . Bei dem untersten Titel stutzte ich. Er lautete: Das Tor zum Mond . Die Verfasserin war Yukari Ishii.

Ich kannte Yukari Ishii. Sie veröffentlichte Tageshoroskope auf Social Media. Einige Kolleginnen aus meiner Mila -Zeit gehörten zu ihren Followern. Ich selbst gebe nichts auf Horoskope, aber ich weiß, dass junge Frauen gerne wissen wollen, was ihnen die Sterne prophezeien. Ich hatte sogar schon mal eine Sonderausgabe über Wahrsagerbuden in der Stadt erwogen, hatte die monatliche Horoskop-Kolumne jedoch nie selbst zur Kenntnis genommen.

Hatte Yukari Ishii etwa auch Kinderbücher verfasst? Dann fiel mir auf, dass diese Signatur auf ein ganz anderes Regal verwies.

«Geht es in dem Buch um Wahrsagerei?», fragte ich Frau Komachi.

Ohne mir zu antworten, beugte sie sich leicht hinunter und öffnete nacheinander die Schubladen im Unterschrank des Schreibtisches. Aus der dritten kramte sie etwas hervor.

«Hier, bitte! Das ist für Sie.»

Es war ein kugelrundes Filzobjekt. Ein blauer Planet mit grün-gelben Sprenkeln … Unsere Erde ?

«Wie hübsch! Haben Sie das gemacht, Frau Komachi? Meine Tochter wird sich darüber freuen.»

«Das ist für Sie!»

«Wie bitte?»

«Als Zugabe zu dem Buch Das Tor zum Mond

Ich begriff es immer noch nicht so recht und blickte sie verwundert an.

Frau Komachi nahm die Nadeln wieder aus der Keksdose und erklärte: «Das Tolle beim Filzen ist, dass man mittendrin neu anfangen kann. Selbst wenn es schon eine gewisse Form angenommen hat, kann man den Kurs ändern, falls man sich spontan für etwas anderes entscheidet.»

«Verstehe. Es ist also durchaus in Ordnung, wenn etwas anderes herauskommt als das, was man ursprünglich im Sinn hatte.»

Frau Komachi schwieg. Ausdruckslos blickte sie auf das Filzobjekt, das sie nun wieder mit den Nadeln zu bearbeiten begann. Offenbar war ihr nicht mehr nach Plaudern zumute.

Da mir ihr Verhalten signalisierte, dass sie ihre Schuldigkeit getan hatte, verzichtete ich auf weitere Bemerkungen, steckte den Globus in die Tasche und ging zurück zur Kinderecke.

Nozomi las Futaba gerade ein Buch vor. Ich nutzte die Gelegenheit, um in der Abteilung für allgemeine Literatur nach dem Titel Das Tor zum Mond zu suchen.

Es war ein durch und durch blaues Buch, auf dessen ebenfalls blauem Einband eine verschwommene Mondsichel prangte. Auch der Buchschnitt war in Blau gehalten. Es war weder zu hell noch zu dunkel, sondern ein Blau von unendlicher Tiefe. Das Vorsatzpapier war schwarz wie Tinte, die cremefarbenen Innenseiten waren von einem tiefen Blau umrahmt. Ließ man den Blick über die gedruckten Zeichen gleiten, hatte man das Gefühl, mitten in der Nacht zu lesen.

Ich blätterte durch ein paar Seiten, bis mir das Wort «Mutter» ins Auge sprang, und ich las:

 

In der Astrologie steht der Mond für Ereignisse, Gefühle, den Körper und die Veränderungen bei einer Mutter, Ehefrau sowie in der Kindheit.

 

Der Mond symbolisiert die Mutter und Ehefrau? Während doch immer behauptet wird, die Mutter sei die Sonne im Haushalt. Weshalb sie stets gut gelaunt lächeln sollte. Erstaunt las ich die gesamte Passage weiter und fand sie höchst interessant.

Die Silhouette des Mondes entspräche dem weiblichen Körper, stand da, wobei das Anschwellen des Bauches einer Schwangeren und die Menstruation mit dem Mondzyklus zusammenfielen.

Es gab auch eine Betrachtung über die Symbolik von Jungfräulichkeit und Mutterschaft in Gestalt der jungfräulichen Mondgöttin Artemis und der Jungfrau Maria.

Das Buch begann, mich zu faszinieren. Seine ästhetische Aufmachung und sein klarer, verständlich geschriebener Text. Es handelte sich weniger um einen astrologischen Ratgeber als vielmehr um eine Erzählung, die einem den Mond nahebrachte. In der Kurzvita auf der Buchklappe wurde Yukari Ishii nicht als Astrologin, sondern als Autorin vorgestellt. Begeistert beschloss ich, mir das Buch auszuleihen und mich in die Lektüre zu vertiefen.

Ich ging zurück zu den Regalen im Kinder- und Jugendbuchbereich, um die drei anderen Titel auf der Liste von Frau Komachi herauszuziehen. Außerdem schnappte ich mir den Barfüßigen Gelob , den Futaba nicht mehr aus der Hand legen wollte. Nozomi hatte mir bereits einen Leseausweis ausgestellt. Insgesamt waren es fünf Bücher, die ich mit nach Hause nahm.

Futaba schlüpfte barfuß in ihre Schuhe und behielt ab da das Bilderbuch fest an sich gedrückt. Unser Wochenende war gerettet – durch einen Tausendfüßler und eine Kakerlake. Ich war dem Autor und dem Verleger zutiefst dankbar.

 

Erst wenn man Kinder hat, merkt man, wie schwer es ist, sich zu Hause auf das Lesen eines Buches zu konzentrieren. Und auch auf dem Weg zur Arbeit konnte ich nur wenige Seiten der spannenden Lektüre von Das Tor zum Mond am Montagmorgen im Zug überfliegen.

Als ich noch für Mila arbeitete, konnte ich an meinem Arbeitsplatz in Ruhe lesen. Auch wenn es nicht in konkretem Zusammenhang mit meinen Aufgaben stand, fand ich es immer inspirierend. Seitdem ich in die Dokumentationsabteilung versetzt worden bin, halte ich mich mit dem Lesen zurück, um nicht für faul gehalten zu werden.

An diesem Morgen kam ich wie üblich pünktlich ins Büro und hatte gerade den Bücherstapel auf meinem Schreibtisch begutachtet, als mich eine Stimme von der Tür aus rief.

«Frau Sakitani.»

Ich schaute auf. Es war Frau Kizawa. Sie gehörte zur Redaktion von Mila , war Single und im gleichen Alter wie ich, ihre Stelle hatte sie kurz vor meinem Mutterschaftsurlaub angetreten. Ich kannte sie kaum. Wir hatten wegen meiner anschließenden Versetzung nur für eine kurze Zeit zusammengearbeitet. Außerdem ging mir ihre übertriebene Offenherzigkeit, ehrlich gesagt, etwas gegen den Strich.

Während meiner Abwesenheit hatte sie dann meine Stelle als Vizeredakteurin von Mila eingenommen. Bei ihrem vorherigen Arbeitgeber galt sie als außerordentlich kompetent, und es ging das Gerücht um, dass unser Chef sie höchstpersönlich dazu bewogen hatte, ihren alten Job zu kündigen, um sie bei Mila einstellen zu können.

Sie hatte sich gleich mein Projekt mit Mizue unter den Nagel gerissen, was ebenfalls ein Grund war, zu ihr auf Distanz zu gehen.

Jetzt überreichte sie mir ein Blatt Papier. «Ich möchte, dass Sie das für mich bestellen.»

«Ja, okay.»

Es handelte sich um einen Katalog für Designer-Handtaschen. Sie stand immer noch an der Tür und hatte sich wahrscheinlich an mich gewandt, weil sie den älteren männlichen Kollegen nicht zutraute, diese Aufgabe zu übernehmen. Oder wollte sie mir ihre ganz eigene Arbeitsmethode bei Mila demonstrieren?

«Noch diese Woche, wäre das möglich?», fragte sie kühl.

Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und trug einen lässigen Pullover über der Jeans. Ihr strubbliges Haar wurde mit einer Spange zusammengehalten. Offenbar war das ihr legeres Outfit für die Nachtschicht – ich wusste, dass der Abgabetermin bevorstand. Es versetzte mir einen Stich. Früher war ich in ihrer Position gewesen.

«Das sollte klappen.» Um meinen Unmut zu überspielen, fügte ich freundlich lächelnd hinzu: «Heute ist Deadline, oder?»

«Hm, ja», erwiderte sie und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

«Sie haben es gut. Redaktionelle Arbeit ist doch sehr erfüllend.»

Ich hatte bloß eine lockere Bemerkung machen wollen, doch Frau Kizawa schaute kurz weg, dann lachte sie leicht gequält.

«Nun, ich verbringe enorm viel Zeit hier in der Redaktion, als hätte ich gar kein Zuhause mehr. Manchmal erwische ich nicht einmal mehr den letzten Zug und muss mir ein Taxi auf eigene Kosten nehmen. Ich würde auch gern mal pünktlich nach Hause kommen!»

Was sollte das heißen «ich auch»?, grollte ich innerlich.

«Na ja, auf mich wartet sowieso keiner daheim. Ich lebe völlig vereinsamt», fügte sie hinzu.

Ich reagierte nicht auf ihre selbstmitleidige Tour, sondern setzte ein noch freundlicheres Lächeln auf. Es hörte sich ja fast so an, als würde sie mich beneiden. Das war wirklich der Gipfel! Ich war doch diejenige, die bis zum Erbrechen eifersüchtig war auf Frau Kizawa, die sich so ausgebrannt fühlte …

Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht geschrien: «Dann schmeiß doch den Job, wenn du eher nach Hause willst. Du hast dir die Stelle doch selbst ausgesucht.»

Aber das Gleiche galt im Prinzip für mich. Ich hatte die Entscheidung getroffen, ein Kind zu bekommen und es großzuziehen.

War das etwa falsch? War es wirklich zu viel verlangt, Arbeit und Familie unter einen Hut bringen zu wollen? Habe ich nicht auch das Recht, enttäuscht zu sein?

Als ich so grüblerisch schweigend dasaß, riss mich Frau Kizawa aus meinen Gedanken: «Ach ja, ehe ich’s vergesse. Übermorgen findet die Talkrunde mit ihr statt.»

Sofort hellte sich meine Stimmung auf. Sprach sie von Mizue?

«Ich bin nicht verpflichtet, daran teilzunehmen, weil es nicht in mein Ressort gehört. Aber der Verleger will, dass ich dabei bin. Ich habe jedoch so viel zu tun, weshalb ich Sie bitten wollte, an meiner Stelle hinzugehen.»

«Mache ich!»

Frau Kizawa zuckte zusammen, als ich wie aus der Pistole geschossen zustimmte.

«Dann informiere ich Sie per E-Mail über die Details. Ich werde außerdem den Chefredakteur bitten, sich mit Ihrem Abteilungsleiter in Verbindung zu setzen», ergänzte sie, bevor sie sich umdrehte und den Korridor zurücklief.

Es war mir völlig schnuppe, was sie über mich denken mochte. Ich war froh, dass sie mich gefragt hatte. So konnte ich Mizue wiedersehen. Als ehemalige Betreuerin des Projekts hatte ich erneut Gelegenheit, eine redaktionelle Aufgabe zu übernehmen.

 

Am nächsten Tag ging ich während der Mittagspause in die nahe gelegene Buchhandlung, um mir das gerade frisch erschienene Werk der Autorin zu kaufen. Die Talkrunde bezog sich auf die Buchvorstellung.

Die Podiumsdiskussion sollte am darauf folgenden Tag ab elf Uhr vormittags in einem Hotel in der Innenstadt stattfinden. Als ich Mizue anrief, lud sie mich ein, nach der Veranstaltung gemeinsam einen Tee trinken zu gehen.

Ich war glücklich. Überglücklich. Auf der Rückfahrt im Zug las ich ihr Buch im Schnelldurchgang, kam aber nicht mal bis zur Hälfte. Abends musste Futaba auf jeden Fall früh ins Bett gebracht werden …

Auf dem Heimweg von der Kita trällerte sie immer wieder das gleiche Lied, das sie dort gelernt hatte. Es gefiel ihr offenbar so gut, dass sie es auch zu Hause weitersummte und sich sogar eine kleine Choreografie dazu ausdachte.

Nach dem Baden stupste ich sie zu ihrem Futon und kniete mich neben sie. Ich dimmte das Licht der Nachttischlampe und klopfte ihr sanft auf die Brust.

«Heute schlafen wir ganz schnell ein, ja?»

Futaba war jedoch noch viel zu aufgekratzt und konnte nicht schlafen. Sie fing sogar an, besonders laut zu singen.

«Mach die Augen zu und schlaf endlich!», herrschte ich sie an.

«Ne-in! Will lieber singen!»

Ich hatte das Gegenteil bewirkt. Sie reagierte nun erst recht übermütig und sprang auf dem Bett herum.

Wann würde Shūji eigentlich kommen? Wenn ich wenigstens wüsste, wann, würde mir das helfen. Ich wäre beruhigter, weil ich auf seine Unterstützung hoffen könnte. Doch er schickte mir nicht mal eine Nachricht.

Resigniert schaltete ich das Licht wieder eine Stufe heller. Ich legte mich neben meine Tochter und schlug das Buch von Mizue auf.

Eine Zeit lang trällerte Futaba noch weiter, griff sich jedoch irgendwann ihr Bilderbuch vom Nachttisch und fing an, darin zu blättern. Wahrscheinlich wollte sie mich imitieren. Während sie es sich anschaute, brabbelte sie vor sich hin, vermutlich in der Hoffnung, dass ich ihr vorlesen würde. Aber ich ging nicht darauf ein, sondern konzentrierte mich auf meine Lektüre. Jede Minute zählte.

Wie erwartet war es ein spannendes Buch.

Ich frage mich, wie Mizues Zusammenarbeit mit dem Verleger verlaufen sein mochte. Wie die Geschichte überhaupt zustande gekommen war und dann weiterentwickelt wurde. Ach, wie gerne würde ich auch mal ein Buch herausgeben. Ich war ganz überwältigt von meinen Ambitionen.

Ich folgte den Sätzen noch eine Weile mit Futabas Selbstgespräch im Hintergrund, aber irgendwann dämmerte ich weg. Gegen meinen Willen war ich mitten im Lesen eingeschlafen.

Und so wachte ich erst am nächsten Morgen auf, ohne dass ich Shūjis Rückkehr bemerkt oder Mizues Geschichte beendet hätte.

 

Futaba nieste mehrmals. Sie klang verschnupft.

Besorgt befühlte ich ihre Stirn, sie war nicht sonderlich heiß. Innerlich flehend, nahm ich meine Tochter auf den Schoß und schob ihr ein Fieberthermometer unter die Achsel.

«Sag, Futaba, geht es dir gut?»

Die unbekümmerte Frage kam von Shūji. Ich hatte zwar versäumt, die Klimaanlage auszumachen, als ich so plötzlich eingeschlafen war, war aber trotzdem sauer auf ihn, dass er beim Zubettgehen nicht selbst die Zeituhr eingeschaltet hatte.

Das Fieberthermometer piepte. 36,9 Grad. Ich war immer noch leicht beunruhigt, aber vermutlich war das übertrieben. Bitte, bitte, werd bloß nicht krank. Wenigstens heute nicht!

«Sag mal …», wandte ich mich zaghaft an Shūji.

«Hm?»

«Es wird sicher alles gut gehen. Aber falls der Kindergarten sich heute doch melden sollte, weil Futaba vorzeitig abgeholt werden muss, würdest du das dann übernehmen?»

«Das geht absolut nicht! Heute muss ich bis nach Chiba-Makuhari fahren.»

«Dachte ich mir schon.»

Nachzufragen hatte gar keinen Zweck. Ich machte mich fertig und brachte Futaba in die Kita.

Während der Bahnfahrt nahm ich mir sofort Mizues Buch wieder vor. Ich wollte es unbedingt zu Ende lesen, auch wenn ich es nur überfliegen konnte. Dabei hätte ich ihren Roman gern ausführlich genossen, am liebsten an einem ruhigen Ort, wo ich ganz in die Geschichte eintauchen konnte. Aber das war illusorisch.

Dank Frau Kizawas Arrangement erhielt ich die Erlaubnis, das Büro schon um zehn Uhr zu verlassen. Ich ging noch zur Toilette und wollte gerade aus dem Verlagshaus treten, als mein Handy klingelte.

Auf dem Display erschien «Tsukushi Kindertagesstätte». Mir lief ein Schauer über den Rücken. Bestimmt hatte Futaba Fieber bekommen.

Sollte ich es einfach ignorieren? Einfach behaupten, ich hätte keinen Anruf bemerkt? Aber als Elternteil musste ich reagieren. Zwei Seelen stritten in meiner Brust.

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Ich wartete ab, bis die Nachricht draufgesprochen war. Um sie abzuhören, hielt ich mir das Smartphone ans Ohr. Es war Futabas Erzieherin Mayu.

«Futaba hat Fieber. Bitte holen Sie sie ab.»

Was, wenn ich die Nachricht nun nicht abgehört hätte?

Die Kita würde sich wahrscheinlich mit meiner Arbeitsstelle in Verbindung setzen, und jemand aus dem Sekretariat würde mich anrufen. Aber was würde passieren, wenn ich nicht ranginge und so täte, als hätte ich mein Handy zu Hause vergessen?

Ich könnte auf das Teestündchen mit Mizue verzichten und sofort nach der Talkrunde in der Kita anrufen, um Futaba gleich darauf abzuholen. Das würde ich bis zwei Uhr schaffen, was doch eigentlich akzeptabel wäre. Immerhin war meine Tochter dort gut aufgehoben.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah ich Futabas verweintes Gesicht vor mir.

Vermutlich hatte sie sich nachts frei gestrampelt und wegen der eingeschalteten Klimaanlage verkühlt. Inzwischen hatte sie vielleicht hohes Fieber. Es war meine Schuld, dass sie noch wach war, nachdem ich eingeschlafen war. Was war ich doch für eine Rabenmutter. Ich hatte außerdem ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht auf ihren Versuch mit dem aufgeschlagenen Bilderbuch eingegangen war und ihr nicht daraus vorgelesen hatte.

Wenn ich jetzt nicht zu der Veranstaltung ging, würden sowohl Frau Kizawa als auch der Chefredakteur denken, ich sei zu nichts zu gebrauchen. Allein, mein Versäumnis würde keinen großen Verlust für die Firma bedeuten. Nur ich selbst war ja ganz versessen darauf gewesen, den Termin wahrzunehmen.

Ich schloss die Augen und holte tief Luft.

Dann rief ich Mayu zurück …

 

In der Kita angekommen, tapste mir Futaba mit kleinen Hüpfern entgegen, als sie mich sah.

Was sollte das denn? Sie wirkte völlig munter. Hatte man mir nicht gesagt, sie habe mit 37,8 Grad erhöhte Temperatur und fühle sich schlapp?

Jetzt erschien Mayu auf der Bildfläche. Sie war Anfang zwanzig und erst kürzlich als Erzieherin eingestellt worden.

«Ich dachte, Futaba fühlt sich nicht wohl, dabei war sie nur ein bisschen müde. Sogar ihr Fieber ist schon wieder auf 37,1 Grad gesunken.»

Ich war erleichtert und zugleich niedergeschmettert. Dann hätte ich sie ja gar nicht früher abholen müssen. An diesem für mich so außergewöhnlichen Tag! Mir stiegen die Tränen in die Augen.

«Ach herrje, haben Sie sich solche Sorgen gemacht?»

Als Mayu mich mitfühlend anlächelte, raunte ich: «Warum immer wir Frauen …»

Es war eine grimmige Stimme, die ich selbst nicht in mir vermutet hätte. Ich sah, wie Mayu leicht zusammenzuckte, wahrscheinlich ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte.

Ich war ja nicht die Einzige, die es traf. In der Regel waren es die Mütter, die ihre Kinder abholten. Das schien immer noch eine Konvention zu sein, die niemand infrage stellte. Es sind immer die Gebärenden, die am Arbeitsplatz leiden. Es sind stets die Gebärenden, bei denen es sich im Berufsleben auswirkt.

«Also, wir sind leider verpflichtet, bei einer Temperatur von über 37,5 Grad die Eltern zu benachrichtigen. Wir dürfen nicht riskieren, dass das Fieber Krämpfe auslöst … deshalb …»

Ich kriegte mich wieder ein. Ich hatte wahrscheinlich derart vorwurfsvoll geklungen, dass Mayu glaubte, ich gebe ihr die Schuld.

«Nein, so meinte ich es nicht. Tut mir leid.»

Ich nahm Futaba bei der Hand, stempelte die Zeitkarte ab und verließ die Kita.

 

Zu Hause angekommen, maß ich noch einmal ihre Temperatur: 36,5 Grad. Nach dem Abendessen war sie quietschvergnügt, auch weil sie ihren Lieblingsjoghurt mit Apfel zum Nachtisch bekommen hatte. Sie packte alle ihre Kuscheltiere auf den Tisch und begann zu spielen. Um kurz nach acht zog ich ihr den Pyjama an, um sie frühzeitig schlafen zu legen.

«Komm, ab ins Bett!»

«Nö.»

«Willst du wieder Fieber bekommen? Bitte, räum den Hasen jetzt weg.»

«Will nicht! Nein, nein, nein …»

«Mama will auch nicht, hörst du?»

Seufzend nahm ich Futaba mit ihrem Plüschhasen auf den Arm und trug sie zu ihrem Futon. Dann lagen wir zu dritt mit dem Hasen in der Mitte im Bett. Und sie fing an, sich angeregt mit ihrem Kuscheltier zu unterhalten.

Ach, wie gern wäre ich bei der Talkrunde mit Mizue dabei gewesen! Danach wären wir gemeinsam Tee trinken gegangen. Nach so langer Zeit hätten wir bestimmt viel Gesprächsstoff gehabt.

Auf dem Weg zur Kita hatte ich noch kurz in der Redaktion angerufen, um Frau Kizawa Bescheid zu geben, dass es nun doch nicht klappte.

«In Ordnung. Und gute Besserung für Ihre kleine Tochter» war alles, was sie sagte.

Keine Ahnung, was in ihrem Kopf vor sich ging.

Im Zug hatte ich dann Mizue eine E-Mail geschickt, um mich für mein Fernbleiben zu entschuldigen. Sie hatte mir sofort geantwortet: «Das passiert mit Kindern. Mach dir keine Sorgen. Wir können uns doch sicher ein anderes Mal treffen.»

Das passiert mit Kindern …

Typisch für uns Mütter, dass die Kinder ausgerechnet an dem Tag, wo es uns absolut nicht in den Kram passt, Fieber bekommen. Höchstwahrscheinlich hatte Frau Mizue, selbst Mutter von zwei Söhnen, schon ähnliche Erfahrungen machen müssen.

Ich würde mich so gern mit ihr treffen. Da ich aber nicht mehr in der Redaktion arbeitete, gab es keinen beruflichen Grund mehr, sie einfach so zum Tee einzuladen.

Wenn ich es mir recht überlege, war das eigentlich das Reizvollste an meiner vorherigen Arbeitsstelle gewesen: Leuten zu begegnen, die ich gerne treffen wollte. Und in den Interviews und Gesprächen anderen Menschen persönlich näherzukommen.

Ich fühlte mich wie ausgebrannt. Zu Zeiten von Mila war ich hektisch außerhalb der Redaktion von einem Termin zum nächsten gehetzt, trotzdem war ich topfit. Inzwischen kam es mir so vor, als seien mein Körper und mein Geist so schwerfällig wie klatschnasser Lehm.

Während ich, auf meinem Futon liegend, meinen Gedanken nachhing, liefen mir Tränen über die Wangen.

Und ehe ich mich’s versah, war ich abermals neben meiner Tochter eingeschlafen.

 

Um halb zwölf nachts wachte ich auf.

Es deprimierte mich, dass ich schon wieder eingenickt war, obwohl ich mir für den Abend noch so viel vorgenommen hatte. Futaba schlummerte selig, und ich befühlte ihre Stirn, ob sie noch fiebrig war, aber ihre Haut war angenehm kühl. Ich strich ihr übers Haar und stand auf.

Shūji war noch nicht zu Hause. Im Wohnzimmer herrschte ein wildes Durcheinander, und in der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr. Die getrocknete Wäsche, die ich am frühen Abend vom Ständer genommen hatte, lag kreuz und quer auf dem Sofa verteilt oder hing noch auf Bügeln.

Ich atmete tief durch und faltete zunächst alle Sachen ordentlich zusammen und räumte sie weg.

Auf einmal hörte ich Schlüsselklappern an der Wohnungstür. Shūji war da.

«Hallo», rief er zur Begrüßung.

«Ziemlich spät, was?»

«Ach, ich hatte noch zu tun.»

Shūji sah nicht besonders erschöpft aus, und als er an mir vorbeiging, roch ich seine Fahne.

«Du warst noch was trinken?»

«Was? Ach so, ja. Kurz.»

«Dann willst du sicher auch nichts mehr essen?»

Shūji verzog unwillig das Gesicht, als er meinen gereizten Ton vernahm. «Ich habe nur einen Drink genommen! Das darf man doch wohl hin und wieder.»

«Klar darf man das. Selbstverständlich! Nur für mich gilt das nicht.»

Sobald die Schleuse geöffnet war, konnte ich mich nicht mehr bremsen. Die Vorwürfe sprudelten nur so aus mir heraus.

«Ich bin immer diejenige, die Futaba zur Kita bringt und wieder abholt. Ich! Und ich bereite das Abendessen zu, wobei ich nicht mal weiß, ob du es essen wirst. Heute zum Beispiel hätte ich zu einer wichtigen Veranstaltung gemusst, wurde dann aber in die Kita bestellt, obwohl es gar nicht so ernst war. Mir läuft die Zeit davon, ich stehe immer unter Druck, hetze von einem Ort zum anderen. Meine eigenen Bedürfnisse muss ich hintanstellen. Inzwischen ist diese Liste schon sehr lang, um nicht zu sagen, endlos.»

«Tsss, na hör mal! Denkst du, ich bin zu meinem Vergnügen unterwegs?»

«Du bist doch saufen gegangen, und das, ohne mir Bescheid zu sagen.»

Außer mir vor Wut schleuderte ich das bereits gefaltete Handtuch nach ihm. Zum Glück hatte ich keinen Becher genommen. Scherben aufzulesen, das hätte mir gerade noch gefehlt. Das Blut schoss mir in den Kopf, immerhin konnte ich noch klar genug denken, um ihm die Situation vor Augen zu führen.

«Es ist doch unser beider Kind, oder? Als ich schwanger war, hast du mir versprochen, dass wir das gemeinsam managen! Also sorg dafür, dass auch du sie mal von der Kita abholst. Und hilf mit im Haushalt.»

«Soll ich etwa meine Karriere aufs Spiel setzen? Ich kann doch nicht einfach Meetings oder Dienstreisen sausen lassen, um zur Kita zu gehen, früher nach Hause zu kommen und das Abendessen vorzubereiten. Derzeit bist du diejenige, die einen flexiblen Arbeitsplatz hat und bereits um fünf Uhr gehen kann. Oder liege ich da falsch, Natsumi?»

Ich resignierte – und schwieg. Es war deprimierend. Ein Teil von mir musste zugeben, dass es sich nachteilig für uns auswirken würde, wenn sich Shūjis Position in der Firma verschlechterte. Trotzdem war es unfair. Ich hatte meine Stelle aufgeben müssen. Warum sollte nur er die Freiheit haben, sich ganz seiner Arbeit zu widmen? Warum blieb die ganze Hausarbeit allein an mir hängen? Bloß weil ich die Mutter bin?

«Ich ziehe immer den Kürzeren», protestierte ich schluchzend.

Shūji, sichtlich sauer, weil ich ihm die Ohren vollheulte, zog eine angewiderte Grimasse und wollte gerade etwas entgegnen, als er plötzlich erschrocken zum Wohnzimmer blickte.

Futaba stand in der Tür. Offenbar hatte sie unser Gezeter aufgeweckt.

«Fu-chan räumt auf», sagte sie ängstlich.

Und sie begann, ihre Stofftiere zur Spielzeugkiste zu tragen. Mir schnürte es die Brust zusammen, als ich ihr kleines Gesicht sah, das den Tränen nahe war.

Obwohl sie vermutlich nicht verstand, worüber wir stritten, dachte sie wahrscheinlich, dass sie an dem Streit schuld sei und wir uns wieder versöhnen würden, wenn sie brav war.

Impulsiv schloss ich meine Arme um sie: «Verzeih mir, Futaba!»

Was entbehrte ich denn? Wo ich so einen kleinen Goldschatz hatte! Ein Wunschkind. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, mein Leben sei wegen ihr völlig aus den Fugen geraten …

 

Am nächsten Tag, kurz vor Mittag, erhielt ich auf der internen Leitung einen Anruf von der Rezeption. Es war Mizue. Als ich in die Lobby hinunterging, stand sie dort in einem festlichen Kimono und begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln. Mir war sofort klar, dass sie mich extra nicht privat auf meinem Handy angerufen hatte, sondern offiziell über den Firmenanschluss, weil ich dann leichter vom Arbeitsplatz wegkonnte.

Es war so schön, sie wiederzusehen! In ihrer Gegenwart fiel die ganze Anspannung von mir ab, und ich fing an zu weinen.

Sie reagierte keineswegs überrascht, sondern legte mir sanft die Hand auf die Schulter.

«Wann beginnt Ihre Mittagspause? Wir könnten doch zusammen lunchen», raunte sie mir zu.

Als Treffpunkt schlug sie ein zwangloses Bistro ganz in der Nähe vor. Dort würde sie einen Platz für uns freihalten und auf mich warten.

 

Eigentlich war Mizue wegen eines geschäftlichen Termins mit Frau Kizawa in den Verlag gekommen. Die rosa Platane sollte verfilmt werden. Es hatte für mich einen bitteren Beigeschmack, dass Frau Kizawa das Projekt inzwischen betreute, denn ursprünglich hatte ja ich mit Mizue an diesem Serienroman gearbeitet.

Während ich mir einen Happen Reis-Omelett auf den Löffel tat, gestand mir Mizue ganz im Vertrauen: «Wissen Sie, Frau Sakitani, dieser Fortsetzungsroman war damals eine regelrechte Tour de Force für mich.»

«Ach, wirklich?»

«Ja! Ich war ziemlich gestresst, weil meine Leserschaft aus jungen, hochsensiblen Frauen bestand. Ich hatte Angst, dass es meinem Text an Feingefühl fehlen könnte und ich mich als älteres Semester wegen meiner antiquierten Ansichten zur Zielscheibe von Spott machen würde.»

Sie nahm einen Bissen von ihrem Omelett und fuhr mit heiterem Gesichtsausdruck fort: «Doch abgesehen davon hat es mir großen Spaß gemacht. Mir wurde bewusst, wie viel ich jungen Leserinnen vermitteln konnte. Während der Fortsetzungsgeschichte haben sich die beiden Protagonistinnen ständig in meinem Kopf miteinander verständigt. Wir steckten immer zusammen, alle drei. Für mich waren sie so etwas wie Lieblingstöchter, genau wie meine weibliche Leserschaft. Es erinnerte mich an die Zeit, als ich meine eigenen Kinder großgezogen habe.»

Als ich nichts darauf zu erwidern wusste, lächelte sie mich strahlend an.

«Ich habe das alles Ihnen zu verdanken! Sie waren bei der Geburt dabei und haben das Projekt quasi mit mir großgezogen. Sie waren zugleich Hebamme, Krankenschwester, Ehemann und Mutter für mich und meinen Roman.»

Mir stiegen erneut Tränen in die Augen, ich schlug die Hände vors Gesicht.

«Ich dachte, ich würde Sie nie mehr wiedersehen, Mizue-sensei. Ich bin doch nicht mehr …»

… in der Redaktion, wollte ich den Satz beenden. Aber meine unter Verschluss gehaltenen Gefühle brachen ungehemmt hervor.

«Ich hasse mich selbst dafür, dass ich auf Frau Kizawa eifersüchtig bin, obwohl sie für Mila hart arbeitet. Und auch dafür, dass ich glaube, mein Leben sei ein Scherbenhaufen, nur weil ich ein Kind habe.»

Mizue legte den Löffel beiseite.

«Aha, offensichtlich befinden Sie sich in einer Karussell-Schleife», sagte sie in mildem Ton.

«Karussell-Schleife?»

Sie nickte und kicherte. «Das ist ein ganz typisches Muster: Der Single beneidet Verheiratete, und Paare beneiden Familien mit Kindern, während die Eltern mit Kindern an die alten Zeiten zurückdenken: ‹Meine Güte, Single möchte man wieder sein, die haben’s gut.› Das meine ich mit Karussell-Effekt, da beißt die Katze sich in den Schwanz. Ein interessantes Phänomen. Jeder ist auf den anderen fixiert, ohne dass es bei diesem Reigen Erste oder Letzte gibt. Mit anderen Worten, das Glück hat weder einen Höhepunkt noch eine vollkommene finale Form.»

Mizues Stimme klang heiter, als sie ihre Gedanken erläuterte. Sie trank einen Schluck Wasser und schaute mich erneut an. «Das ganze Leben besteht aus kritischen Situationen. Egal, in welcher Lage man sich gerade befindet, es läuft nie alles nach Plan. Umgekehrt birgt das aber auch positive Wendungen. Überlegen Sie mal, wie oft sagt man sich: ‹Ein Glück, dass es doch anders gekommen ist, als ich es mir gewünscht habe!› Wenn unsere Pläne über den Haufen geworfen werden, ist das kein Zeichen von Pech oder Misserfolg. Auf diese Weise entwickeln wir uns weiter, und unser Leben wird reicher.»

Mit einem Lächeln auf den Lippen richtete Mizue den Blick in die Ferne.

 

Als die Rechnung kam, streckte ich vergeblich die Hand danach aus. Mizue hatte sie sich bereits geschnappt. Ich hätte sie zwar nicht als Spesen abrechnen können, aber ich war es gewohnt, diejenige zu sein, die immer das Geld parat hatte.

«Nein, heute lade ich Sie ein», sagte Mizue lachend und hielt den Bon so hoch, dass ich ihn nicht erreichen konnte.

«Aber …»

«Es ist quasi Ihre Geburtstagsfeier. Sie sind doch bestimmt ein Sommerkind, wenn Sie Natsu-mi heißen, oder?»

Irgendwann hatte ich das mal erwähnt. Wie aufmerksam von ihr, dass sie sich das gemerkt hatte.

«Oh, dann vielen Dank für die Einladung.»

Als ich mich verneigte, lächelte mich Mizue verschmitzt an und neigte den Kopf zur Seite.

«Und? Wie alt werden Sie?»

«Vierzig.»

«Wie schön, da beginnt das Leben erst so richtig. Genießen Sie es. Es ist wie eine riesige Spielwiese.» Sie nahm meine Hand und drückte sie fest. «Meine herzlichsten Glückwünsche zum neuen Lebensjahr. Ich danke Ihnen, dass Sie sich mit mir getroffen haben.»

Im Laufe des Gesprächs hatte ich gespürt, wie sich mehr und mehr Gelassenheit in mir ausbreitete. Vielleicht war es mehr als nur eine berufliche Karriere, was ich durch Mila erreicht hatte. Denn ich erfuhr auch außerhalb meines Arbeitsplatzes warmherzige Anteilnahme. Und ich empfand auf einmal eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich auf der Welt war. Es hatte sich gelohnt, geboren zu werden.

 

An diesem Abend schlief Futaba ausnahmsweise ohne Schwierigkeiten ein.

Da Shūji noch nicht zu Hause war, packte ich sein Essen in Frischhaltefolie und machte es mir dann auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich, wo ich Das Tor zum Mond aufschlug.

Beim Lesen stieß ich auf den vielversprechenden Kapiteltitel Die beiden Augen der Seele . Gespannt widmete ich mich dem Text. Darin ging es um zwei Augen, die das «Unsichtbare» wahrnehmen.

Das erste ist das «Sonnenauge», das die Welt auf logische und rationale Weise begreift. Es wirft ein helles Licht auf die Dinge, um sie zu betrachten.

Das zweite ist das «Mondauge», das Dinge qua Gefühl und Intuition wahrnimmt und mit ihnen in Verbindung tritt – vermittelt durch unsere Fantasie und Träume, als würden Gespenster im Dunkeln zu uns sprechen oder eine geheime Liebschaft.

Beide Augen tragen wir in unserem Herzen …

Ein faszinierendes Buch! Schon lange hatte ich mich nicht mehr so tief in eine Lektüre versenkt. Sie berührte sowohl die Rolle von Sonne und Mond in den Mythen als auch Prophezeiungen und Zaubersprüche sowie verborgene menschliche Gefühle. Das wunderschöne Blau des Einbands und des Buchschnitts, der die weißen Seiten so edel umrahmte, machte meine Lektüre auch zu einem sinnlichen Erlebnis.

 

Im Großen wie im Kleinen existieren wir in einer Welt, wo sich die Dinge nie so gestalten wie geplant, egal, wie sehr wir uns darum bemühen.

 

Der Satz überraschte mich. So ähnlich hatte es Mizue heute doch auch formuliert. Kurz darauf war im Text die Rede von «Transformation». Merkwürdig: Je weiter ich las, umso häufiger kam es mir so vor, als ob sich die Beschreibungen mit meinem realen Leben deckten.

Das war Frau Komachis Verdienst.

Unglaublich! Wie war sie nur darauf gekommen, mir gerade dieses Buch zu empfehlen?

Da fiel mir etwas ein. Ich kramte in der Tragetasche, in der sich immer noch ihre Zugabe befand. Und hielt das federleichte Filzobjekt in meiner hohlen Hand.

Es war ein Globus von der Größe eines Tischtennisballs, auf dem die Kontinente nur grob angedeutet waren, während allein Japans Archipel detaillierter herausgearbeitet war. Entweder war es extrem schwierig gewesen, den ganzen Filz so sorgfältig zu modellieren, oder es sollte Frau Komachis Liebe zu ihrer Heimat Japan zum Ausdruck bringen.

Und ich befand mich genau dort.

Es war Nacht. Mit der Rotation des Erdballs würde der Morgen kommen … Als ich den Globus auf meiner Handfläche hin und her rollte, durchzuckte mich plötzlich ein Gedanke.

Das geozentrische und das heliozentrische Sonnensystem – in der Antike glaubten die Menschen, dass sich die Himmelskörper um die still stehende Erde als Mittelpunkt des Universums drehen, obwohl sich die Erde, wie sich später herausstellte, in Wirklichkeit um die Sonne bewegt.

In diesem Moment hatte ich eine Art Erleuchtung.

Ich war von Mila in die Dokumentationsabteilung versetzt worden. Hausarbeit und Kinderbetreuung blieben an mir hängen. Ich hielt mich für den Mittelpunkt der Welt, sah mich als Opfer und fragte mich empört, warum die anderen mir den Alltag nicht erleichterten.

Ich starrte auf den blauen Ball. Die Erde bewegt sich unaufhörlich. Morgen und Abend kommen nicht zu uns, sondern gehen weiter.

Was wollte ich jetzt tun, und wohin sollte es gehen?

Ich hatte bereits eine Veränderung in mir festgestellt – und das Gespräch mit Mizue hatte mich in meiner Entscheidung bestärkt: Ich wollte Bücher herausgeben. Das Beste aus einem Autor herausholen und den Lesern Geschichten in ihrer bestmöglichen Form präsentieren. Die Worte von Mizue kamen mir in den Sinn, als sie über das Leben sprach: «Es ist wie eine riesige Spielwiese.» Sie wollte mir wohl nahelegen, aus dem Karussell auszusteigen und mich einer anderen Attraktion zuzuwenden. Dass es keine Tugend sei, sich immer auf dem gleichen Gleis zu bewegen, und dass ich besser ehrlich zu mir selbst sein solle, um das anzustreben, was ich wirklich wollte.

Ich nahm mein Smartphone in die Hand und begann, nach Stellenangeboten zu suchen. Diesmal bei Buchverlagen, denn bisher hatte ich mich nur auf Zeitschriftenredaktionen fokussiert, in dem Glauben, diese seien meine einzige Option. Dabei war es in meiner derzeitigen Situation tatsächlich schwierig, gerade in einer Zeitschriftenredaktion mitzuwirken, in der es auf Schnelligkeit ankam und Teamarbeit unerlässlich war. In einem Buchverlag würde es vielleicht einfacher sein, da ich selbstständiger arbeiten konnte.

Ein Wechsel in diese Branche könnte mir möglicherweise Türen öffnen.

Unter mehreren Anzeigen stieß ich auf Ōtōsha, einen renommierten Buchverlag. Er war auf Belletristik spezialisiert und hatte auch einige literarische Werke von Mizue im Programm. Zufälligerweise war die Stellenausschreibung auf eine Person mit Berufserfahrung zugeschnitten. Die Bewerbung musste bis zum nächsten Tag abgeschickt werden, es galt das Datum des Poststempels.

Ich würde es gerade noch rechtzeitig schaffen.

Mein Herz klopfte wie wild, und ich versuchte, meine Aufregung zu bändigen, indem ich mir die Anzeige noch einmal sorgfältig durchlas. Ich hatte das Gefühl, eine höhere Macht würde meinem Leben plötzlich eine positive Wendung geben. Dazu gehörte das heutige Treffen mit Mizue zum Mittagessen und auch dass Futaba gerade heute Abend bereitwillig früher eingeschlafen war.

 

Am folgenden Samstag brachte ich die geliehenen Bücher zurück in die Bibliothek. Shūji, der zu Hause geblieben war, kümmerte sich um Futaba.

Ich legte die Bücher auf Nozomis Schreibtisch und schaute hinüber zur Auskunft. Nozomi erriet meine Gedanken und sagte: «Falls Sie Frau Himeno sprechen möchten, sie macht gerade Mittagspause. Sie müsste aber bald wieder am Platz sein.»

«Frau Himeno?»

«Ach herrje!» Nozomi hielt sich die Hand vor den Mund. «Frau Komachi ist früher in meiner Grundschule als Krankenschwester tätig gewesen. Ich nenne sie mitunter noch bei ihrem Mädchennamen, so wie damals.»

Sieh an! Frau Komachi hatte sich um kranke oder verletzte Schüler gekümmert. Ich hatte das Gefühl, in eine TV -Serie geraten zu sein.

In diesem Moment kehrte die Bibliothekarin aus der Pause zurück. Ihr massiger Körper wankte an mir vorbei, wobei sie mich mit einem kurzen Seitenblick bedachte. Ich ließ sie erst mal an ihrem Schreibtisch Platz nehmen, bevor ich auf sie zusteuerte.

«Ich möchte mich herzlich für den Buchtipp neulich bedanken. Das Tor zum Mond ist wirklich fantastisch.»

«Aha», erwiderte sie und verzog keine Miene.

«Ich habe es aus Zeitmangel bisher nur überflogen und werde mir es nun sogar kaufen, weil es mir so gut gefällt.»

Sie lehnte sich leicht zurück.

«Das höre ich gern. Es freut mich, wenn ich Ihnen ein Buch empfehlen konnte, das Sie nicht nur lesen, sondern auch behalten möchten.»

«Ja, und außerdem hat es mich motiviert, mich zu verändern.»

Frau Komachi schmunzelte. «Das gilt für jedes Buch. Sein Wert hängt doch eher davon ab, wie ein Leser den Inhalt interpretiert.»

Ihre wohlmeinenden Worte machten mich froh. Ich beugte mich vor.

«Frau Komachi, Sie haben früher als Schulkrankenschwester gearbeitet, nicht wahr? Sich also beruflich verändert.»

«Das stimmt. Obwohl ich ursprünglich als Bibliothekarin angefangen habe. Erst dann bin ich an die Schule gewechselt, wo ich tatsächlich Krankenschwester war, und nun bin ich wieder in der Bücherei.»

«Und wieso haben Sie Ihren Beruf zweimal gewechselt?»

Man hörte es knacken. Frau Komachi hatte den Kopf zur Seite gelegt.

«Es hat sich so gefügt, weil ich zum jeweiligen Zeitpunkt immer das, was ich lieber tun wollte, mit den realen Gegebenheiten abgestimmt habe. Das Leben ist ein ständiges Auf und Ab, ganz unabhängig von dem, was wir wollen. Die familiäre Situation, unser Gesundheitszustand, der Verlust des Arbeitsplatzes, weil die Firma pleitegeht oder wir uns Hals über Kopf verlieben.»

«Ach, eine Liebesaffäre?»

Meine Nachfrage war mir so herausgerutscht, weil ich nicht erwartet hatte, Letzteres von ihr zu hören.

Zärtlich tastete sie nach ihrer Haarnadel.

«Das war die größte Überraschung in meinem Leben. Ich hätte mir nie vorstellen können, jemanden zu treffen, der mir solch ein Geschenk machen würde.»

Vermutlich sprach sie von ihrem Mann. Es klang nach einer romantischen Episode, und ich hätte gern mehr erfahren, wollte aber nicht neugierig weiterbohren.

«Sind Sie denn zufrieden mit dem Berufswechsel?», fragte ich stattdessen. «Hatten Sie keine Angst davor?»

«Ach, wissen Sie, manchmal möchte man sich selbst treu bleiben, ändert sich aber trotzdem, und manchmal versucht man, sich zu ändern, und bleibt doch die Alte.»

Gleich darauf zog Frau Komachi die Honey-Dome-Dose vom Rand des Tresens zu sich heran. Als ich sah, wie sie eine Nadel herausnahm, war mir klar, dass die Beratung damit beendet war. Wie erwartet begann sie wieder mit ausdrucksloser Miene, emsig mit der Nadel zu piken.

 

Als ich vom Gemeinschaftshaus zurückkehrte, bat ich Shūji, uns mit dem Auto zum Eden zu fahren, einem Einkaufszentrum, wo man alles finden kann, von Lebensmitteln bis hin zu Dingen für den täglichen Gebrauch. Ich wollte schwere Einkäufe wie einen Vorratssack Reis und Getränke in Flaschen mit seiner Hilfe erledigen, außerdem brauchte Futaba neue Unterwäsche und T-Shirts.

«Macht es dir was aus, wenn ich zuerst zu ZAZ gehe?», fragte ich meinen Mann.

Er schüttelte den Kopf und meinte, er würde mit Futaba im Kinderparadies auf mich warten. An den Wochenenden war er mir neuerdings tatsächlich eine große Hilfe.

ZAZ heißt eine Brillen-Filialkette. Meine Sehkraft war zwar noch relativ gut, aber zu bestimmten Anlässen trug ich Tageslinsen. Der Vorrat, den ich mir vor sechs Monaten angelegt hatte, war fast aufgebraucht.

Im Laden wandte ich mich sogleich an den Verkäufer, und als der sich umdrehte und ich sein Gesicht erkannte, war ich völlig perplex.

«Kiriyama!»

Auch er rief erstaunt: «Frau Sakitani! Was für eine Überraschung! Wohnen Sie in der Nähe?»

Kiriyama arbeitete seinerzeit, als ich noch bei Mila war, für eine Agentur, die gelegentlich Aufträge von uns erhielt.

«Dass ich Sie hier wiedersehen würde, hätte ich nicht gedacht.»

«Ja, ich habe meinen alten Job gekündigt und arbeite seit letztem Monat in dieser Filiale.»

Er schien inzwischen wieder zu Kräften gekommen zu sein und hatte einen gesunden Teint. Sein frisches Aussehen freute mich, denn damals war er besorgniserregend abgemagert gewesen.

Um ehrlich zu sein, fand ich seine Agentur schon immer ziemlich fragwürdig. Der Chef verlangte zum Beispiel von seinen Mitarbeitern, binnen eines Tages mindestens zehnseitige Reportagen inklusive Straßenfotos fertigzustellen oder binnen kürzester Zeit Informationen über dreißig lokale Ramen-Nudel-Imbisse zu sammeln. Da die Agentur jederzeit bereit war, alle möglichen Arbeiten zu verrichten, hatten wir bei Mila uns auch gern an sie gewandt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass dort menschenunwürdige Bedingungen herrschten.

«Sie sehen gut aus, Frau Sakitani. Ich habe gehört, Sie haben inzwischen ein Kind bekommen, ein Mädchen?»

«Ja, das stimmt. Ich bin übrigens auch auf der Suche nach einer neuen Stelle.»

Es war mir so herausgerutscht, weil uns beruflich etwas verband und ich ein vertrautes Gefühl ihm gegenüber empfand.

«In Zukunft möchte ich nicht mehr für eine Zeitschriftenredaktion arbeiten, sondern lieber im Bereich der Belletristik. Ich habe mich auf ein Stellenangebot im Verlag Ōtōsha beworben und warte schon gespannt auf die Antwort.»

«Ich erinnere mich, Sie haben ja den Bestseller von Mizue Kanata publiziert! Die rosa Platane hat sogar mich als Mann angesprochen.»

Sein Lob beflügelte mich. Er nahm meine Kundenkarte entgegen und verschwand nach hinten.

Kurz darauf kam er mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck zurück.

«Tut mir echt leid! Ich hoffe, Sie brauchen die Linsen nicht dringend. Wir haben die Produkte dieses Herstellers nicht mehr auf Lager. Ich werde sofort eine Bestellung aufgeben und Sie dann benachrichtigen.»

Er sprach in einem geschmeidigen Geschäftston. Obwohl er erst seit einem Monat dort arbeitete, beherrschte er den Umgang mit Kunden. Der Job passte gut zu ihm.

Wir verabschiedeten uns, dann sagte er: «Ich drücke Ihnen die Daumen für die Stelle bei Ōtōsha. Es ist doch großartig, dass Sie bereits wissen, was Sie machen möchten.»

«Ich danke Ihnen.»

Kiriyama war mir schon damals in der Agentur sympathisch gewesen, und ich freute mich, ihn jetzt regelrecht aufgeblüht und so lebendig zu erleben.

Ich, die anderen – wir alle veränderten uns. So sollte es sein.

Mein Herz gehörte bereits Ōtōsha. Dort wollte ich in Zukunft guten Büchern auf die Sprünge helfen …

 

Stattdessen erhielt ich eine nüchterne Absage per E-Mail. Ich war erschüttert. Ich hatte offenbar die Anforderungen nicht erfüllt, da ich bereits in der ersten Runde ausschied. Man hatte mich nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

Obwohl ich mir gerade bei einem Verlag, der Mizues Werke veröffentlichte, Pluspunkte ausgerechnet hatte.

Daraus wurde also nichts.

Kein Wunder! Wenn ich mein Alter bedachte und dann noch mit Kleinkind … Bei einem Job mit Berufserfahrung musste man ad hoc einsatzbereit sein. In einem großen Verlagshaus wie Ōtōsha gab es sicher viele qualifizierte Kandidatinnen, die mehr zu bieten hatten als ich, die gerade mal die Publikation eines einzigen belletristischen Werks vorweisen konnte.

Das hätte ich mir eigentlich denken können.

Während ich deprimiert den Tatsachen ins Auge schauen musste, was mich fürchterlich wurmte, wurde Frau Kizawa zur Chefredakteurin von Mila befördert.

Die Belegschaft erfuhr es am nächsten Tag.

Das Kinn vorgereckt, hielt Frau Kizawa mit ihrer üblichen barschen Stimme eine Dankesrede. Als man ihr aber anerkennend applaudierte, bemerkte ich ihr kindlich verlegenes Lächeln, das für einen kurzen Moment aufblitzte. Ihre feuchten Augenwinkel schimmerten.

Meine nagende Eifersucht war im Nu verflogen. Frau Kizawa war sich einfach selbst treu geblieben und hatte sich diesen Karrieresprung hart erarbeitet. Sie freute sich ungemein über ihren Erfolg, ohne die Beförderung als selbstverständlich anzusehen. Es war sicher für sie eine harte Zeit gewesen, gespickt mit Enttäuschungen. Ich hätte das bedenken müssen und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr voller Neid so leichtfertig ins Gesicht gesagt hatte, wie gut sie es doch habe.

Das Karussell hielt an.

Derzeit konnte ich die Position, in der Frau Kizawa sich befand, einfach nicht einnehmen. Es war besser, wenn jeder von seiner Warte aus die Dinge betrachtete. Ich von meiner, sie von ihrer.

Als sie mein besonders herzliches Klatschen bemerkte, lächelte sie mir zu.

 

Zwei Tage später feierte ich meinen Geburtstag.

Shūji hatte seine Arbeit so eingeteilt, dass er früher zu Hause war. Zu dritt fuhren wir dann zu einem Familienrestaurant, um zu Abend zu essen.

Mein Mann konnte es kaum fassen, als er erfuhr, dass ich mich bei Ōtōsha beworben hatte und sie mich kategorisch abgelehnt hatten. Aber auch dass ich so bereitwillig meine Stellung in einem Unternehmen aufgeben wollte, bei dem ich schon viele Jahre beschäftigt war, irritierte ihn sehr, wusste er doch, mit welchen Schwierigkeiten ein Arbeitsplatzwechsel verbunden war.

Ich war jedoch nicht wenig verwundert, dass er meine Gefühle und meine Situation immer noch nicht verstanden hatte – vielleicht hatte ich mich ihm gegenüber aber auch nie klar genug ausgedrückt, sondern immer nur geklagt, ohne genau zu erklären, was mir fehlte. Seine unerwartet tröstenden, aufmunternden Worte machten mich sprachlos.

Im Laufe des Gesprächs einigten wir uns darauf, dass er unsere Tochter fortan jeden Morgen in die Kita bringen würde. Am Abend hingegen war es für ihn kaum einzurichten, rechtzeitig dort vorbeizufahren. Diesmal hörte er aufmerksam zu, als ich ihm den wöchentlichen Wechsel der Laken erklärte, und er machte sich sogar Notizen.

«Wenn du dich aufregst und mir nur vorjammerst, ich solle dir helfen oder mehr tun, nützt mir das nichts. Ich brauche konkrete, rationale Anweisungen, die ich nachvollziehen kann.»

Aha, typisch «Sonnenauge». Ich willigte innerlich ein und würde von nun an versuchen, mit meinem «Mondauge» eine Balance herzustellen. Womit ich zufrieden war. Auch wenn ich von ihm verlangte, dass er sich gefälligst um dies und jenes kümmern solle, wusste ich, dass er auf seine eigene Art an uns als Familie dachte.

Ich schaute Futaba an, die zwischen uns saß und die sich mit jedem Tag mehr und mehr entwickelte.

«O-me-de-to.» Sie war zum Knuddeln süß, wie sie mir noch recht unbeholfen zum Geburtstag gratulierte.

Auch unsere Familie entwickelte sich Tag für Tag weiter. Wir bauten sie gemeinsam auf, zu dritt.

Ich sollte diesen kostbaren Augenblick einfach nur genießen. «Den Gegebenheiten anpassen», um Frau Komachis Worte zu zitieren.

Meine derzeitige Anpassung bestand vielleicht darin, dass die Absage von Ōtōsha auch meine Abkehr von der redaktionellen Tätigkeit bedeutete. Bei diesem Gedanken zog sich mein Herz zwar zusammen, doch ich verdrängte ihn sogleich und leerte meinen Becher Tee in einem Zug.

Als ich mit einem weiteren Kräutertee vom Buffet zurückkehrte, vibrierte mein Handy. Der Anruf von einer unbekannten Nummer, die mit 090 begann.

Nach einem Blickwechsel mit Shūji ging ich nach draußen, um zu telefonieren.

«Hallo, hier ist Kiriyama von ZAZ

«Ach, hallo!»

Ich seufzte erleichtert auf, als ich seine vertraute Stimme vernahm. Auch die sommerliche Abendbrise tat mir gut.

«Ihre Kontaktlinsen sind da. Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung.»

«Ich hole sie in den nächsten Tagen ab. Danke.»

«Womit ich zum eigentlichen Grund meines Anrufs komme …»

«Wie bitte?»

Ich vernahm laute Hintergrundgeräusche. Offenbar rief er nicht aus dem Geschäft an. Die Nummer auf meinem Display gehörte zu einem Handy.

Ich hörte ihn tief Luft holen, bevor er weitersprach.

«Haben Sie inzwischen eine Antwort von Ōtōsha erhalten, Frau Sakitani?»

«Ja, es hat leider nicht geklappt.»

«Ach, zum Glück.»

«Glück nennen Sie das?»

Auf meine irritierte Rückfrage hin entschuldigte sich Kiriyama. «Nein, nein, so war das nicht gemeint.» Er musste lachen. «Eine ehemalige Kommilitonin aus der Uni arbeitet in der Redaktionsabteilung des Maple Verlags.»

Maple Verlag. Dieser berühmte Verlag für Bilder-, Kinder- und Jugendbücher hatte auch Barfüßiger Gelob publiziert.

«Nächsten Monat hört sie dort auf zu arbeiten, da sie ihren Mann, der ins Ausland versetzt wurde, begleiten wird. Die Stelle muss bald neu besetzt werden, und zwar mit jemandem, der auf dem Gebiet Berufserfahrung hat. Vor der offiziellen Ausschreibung fragte sie mich nun, ob ich nicht jemanden kenne, der geeignet sei. Und da fielen Sie mir ein, Frau Sakitani.»

Mein Herz machte einen Hüpfer. Wie gebannt lauschte ich seiner Stimme, das Handy fest ans Ohr gepresst.

«Ich denke, der Verlag und Sie würden gut zueinanderpassen. Sicherlich wäre auch ein renommierter Verlag wie Ōtōsha gut gewesen, aber der Maple Verlag ist aufgeschlossener und innovativer, Sie hätten dort ständig mit neuen Projekten zu tun. Falls Sie daran interessiert sind, würde ich Sie meiner Bekannten als Nachfolgerin vorschlagen, damit sie ein Treffen mit dem Verlagsleiter arrangiert.»

«Aber ich bin bereits vierzig und habe eine zweijährige Tochter …»

«Schon, aber das kann doch nur von Vorteil sein bei einem Verlag wie Maple, der Bilderbücher und Kinderliteratur veröffentlicht. Meine frühere Kommilitonin ist ebenfalls Mutter und berufstätig.»

Mein Herz pochte vor Aufregung. Andererseits gingen mir auch alle Argumente durch den Kopf, die gegen mich sprachen.

«Aber ich habe keine Erfahrungen mit Büchern für Kinder.»

«Das Lektorat ist im Bereich Fiktion für alle Altersgruppen zuständig. Maple veröffentlicht auch Literatur für Erwachsene.»

Mir fielen zwar keine Titel ein, aber das war egal. Vielleicht konnte ich ganz allgemein im Bereich Literatur arbeiten …

«Als Sie bei Mila waren, haben Sie sich doch nicht nur auf Mode beschränkt, sondern darüber hinaus zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, die diverse Frauenthemen aufgriffen. Soweit ich weiß, ist Die rosa Platane ebenfalls dank Ihres Engagements zustande gekommen. Ich war ganz begeistert, als Sie davon sprachen, Belletristik lektorieren zu wollen.»

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich seine optimistische Einschätzung vernahm. Es gab jemanden in meiner Umgebung, der meine Fähigkeiten erkannte und schätzte.

«Kiriyama, wieso tun Sie das für mich?», platzte es aus mir heraus.

Ich konnte meine Freude nicht länger verbergen. Es war eine ganz naive Frage. Wir waren weder eng befreundet, noch war er mir etwas schuldig. Er war lediglich ein Kollege, mit dem ich früher gelegentlich zusammengearbeitet hatte.

«Nun … sagen wir mal, ich bin da ganz zufällig hineingeraten. Wäre es nicht wunderbar, wenn es mehr gute Bücher auf der Welt gäbe? Die auch ich gern lesen würde?»

Ich schaute auf meine Füße. Sie zitterten in den Sandalen.

 

Nachdem ich ihm versprochen hatte, mich umgehend bei ihm zu melden, taumelte ich an meinen Platz zurück und leerte den Becher Kräutertee in einem Zug.

«Was ist denn los?», fragte Shūji.

Ich berichtete ihm von dem Telefonat.

«Das wäre ja super!», rief er enthusiastisch.

Schon, trotzdem hatte ich gemischte Gefühle. Eigentlich kaum zu glauben, aber ich hatte mich nach der Ōtōsha-Absage gerade erst einigermaßen gefangen. Ein neuerliches Hoffen und Bangen und eventuelles Scheitern würde die Wunde nur wieder aufreißen.

«Es ist zu schön, um wahr zu sein. Aber sicher eine Nummer zu groß für mich, oder?»

Shūji nahm mich mit ernstem Blick ins Visier.

«Wieso denn? Hier ist doch kein Zufall im Spiel. Du hast dich in Bewegung gesetzt, und darauf reagiert deine Umwelt, indem sie sich ebenfalls regt.»

Erstaunt blickte ich ihn an. Er lächelte sanft.

«Du hast es doch selbst angeleiert.»

Ja, er hatte recht.

Ōtōsha hatte mich abgelehnt. Aber wenn ich die Initiative nicht ergriffen hätte, hätte ich keinen Anlass gehabt, Kiriyama gegenüber von meinem Vorhaben zu erzählen, zukünftig als Literaturredakteurin arbeiten zu wollen. Mein Handeln hatte etwas ausgelöst, das nicht vorhersehbar war.

Was für eine wundervolle Überraschung!

Mein Mann tätschelte Futaba den Kopf, als sie ihr Eis verspeist hatte.

«Wir beide gehen schon mal vor, nach Hause, ja?»

«Wieso?», fragte ich.

«Natsumi, wie ich dich kenne, würdest du doch noch gern in einer Buchhandlung vorbeischauen. Ich schätze, die am Bahnhof hat noch offen.»

Futaba schaute uns beide verdutzt an.

«Na, Futaba? Wäre es dir lieber, wenn Mama auf das verzichtet, was sie sich so sehr wünscht, und sich stattdessen insgeheim die Augen ausweint?»

«Nö», erwiderte sie ganz leise auf die Frage ihres Vaters.

 

Nachdem ich die beiden verabschiedet hatte, ging ich zur Buchhandlung Meishin, die sich im Bahnhofsgebäude befand. Ich begann, nach Büchern aus dem Verlag Maple Books zu suchen. Bilderbücher, Märchen, Kinderliteratur. Und dann wurde ich auch in der Belletristik fündig, worauf Kiriyama mich bereits aufmerksam gemacht hatte. Es gab eine ganze Reihe von Werken, die sogar Bestsellerstatus hatten. Sieh an, dachte ich. Darunter fanden sich auch Romane, die ich gern gelesen hatte, bei denen ich aber beim Lesen komischerweise nicht auf den Verlag geachtet hatte.

Ganz absorbiert von der großen Auswahl, wählte ich einige Titel aus, die ich noch nicht kannte und die mich sofort ansprachen. Außerdem beschloss ich, ein Exemplar von Barfüßiger Gelob zu kaufen.

Und nicht zu vergessen Das Tor zum Mond .

Leider konnte ich das blaue Buch nirgends finden. Als ich etwas weiterstöberte, entdeckte ich schließlich eine anders gestaltete Ausgabe. Auf dem Einband prangte eine wunderschöne Illustration des Mondes mit einem Farbverlauf von Dunkelblau zu Gelb – und die Rückseite des Buchs war nicht tintenschwarz wie bei dem Exemplar aus der Bücherei, sondern kanariengelb. Doch beim Durchblättern und Überfliegen des Textes stellte ich fest, dass der Inhalt identisch war.

Es handelte sich also um eine Neuauflage – der Beweis dafür, wie beliebt und geschätzt dieses Werk noch immer war.

Mich durchlief ein warmer Schauer. Ja, auch Bücher werden zu neuem Leben erweckt. Und wer weiß, wer den einen oder anderen Titel neu für sich entdeckt und damit vielleicht etwas anfangen kann?

Ach, wie gerne würde ich selbst Bücher herausgeben! Helfen, die Art von Büchern zu veröffentlichen, die Menschen eine optimistische Sicht auf die Zukunft vermitteln und ihnen Gefühle nahebringen, die ihnen bislang vielleicht unbekannt waren. Obwohl Mila kein Buchverlag war, hatte ich schon immer diese Vision im Sinn gehabt.

 

Das Tor zum Mond hatte auch ein neues Layout erhalten. Während man bei der Erstausgabe beim Lesen das Gefühl hatte, in einem wunderschönen Nachthimmel zu schweben, wurde man in der neuen Version vom Mond geradezu beleuchtet.

In der neuen Ausgabe waren außerdem die zu- und abnehmenden Phasen des Erdtrabanten jeweils in der oberen rechten Ecke der Buchseiten abgebildet. Das, was vorher unten dargestellt worden war, war nun nach oben verlegt worden – wie das Symbol einer kosmischen Botschaft.

Auch mit mir ging eine Wandlung vor sich. Manchmal möchte man sich selbst treu bleiben, ändert sich aber, und manchmal versucht man, sich zu ändern, obwohl man die Alte bleibt. Hatte das nicht auch Mizue gesagt?

 

Alle Eltern, die ihren Kindern den Traum vom Weihnachtsmann erfüllen, tragen den echten Weihnachtsmann in ihrem Herzen. Und deshalb glauben die meisten Kinder, dass es diesen «Santa Claus auf dem Schlitten » wirklich gibt.

 

Als ich die Stelle, beschienen von der Wintersonne, zum wiederholten Mal las, klingelte mein Telefon. Ich nahm ab.

«Maple Verlag, Sakitani, was kann ich für Sie tun?», meldete ich mich.

Im vergangenen Sommer hatte mir der Verleger beim Bewerbungsgespräch, das Kiriyama freundlicherweise arrangiert hatte, genau zwei Fragen gestellt: «Wie haben Sie Mizues Buch lektoriert?» Und: «Wie gedenken Sie Bücher zu gestalten?»

Er hatte sich meine leidenschaftlich formulierten Antworten aufmerksam angehört und mehrmals zustimmend genickt.

Meine Erfahrungen und Ideen in der Redaktion von Mila , die ich nach meiner Versetzung noch einmal überdacht hatte, kamen mir nun zugute. Alles Notwendige für meinen zukünftigen Weg war schon bei Banyusha angelegt worden.

Mir war, als ob alles, was ich bisher erlebt hatte, einen tieferen Sinn besaß. Das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber meinem früheren Arbeitgeber und die Gewissheit, dass ich meine Sache gut gemacht hatte, gaben meinem Ich die nötige Stabilität.

Nachdem ich meine Gesprächspartnerin am Telefon gebeten hatte, sich einen Moment zu gedulden, drückte ich die Taste für die Warteschleife.

«Frau Imae, für Sie. Ein Anruf von Orihashi.»

Ich leitete den Anruf an meine Kollegin weiter, die mir gegenübersaß. Am Telefon war eine Autorin, die sie betreute. Neben ihr saß Miho, ihre sechsjährige Tochter, auf einem Hocker und blätterte in einem Bilderbuch. Wegen einer Grippeepidemie fiel der Schulunterricht aus.

In diesem Moment traf Herr Kishikawa, der Leiter der Kinderbuchredaktion, ein. Als er Miho bemerkte, beugte er sich über sie und erkundigte sich freundlich: «Na, gefällt dir das Buch?»

Es handelte sich um den zweiten Band einer Bilderbuch-Serie aus dem Maple Verlag. Eine Geschichte über Zwerge, die durch verschiedenste Löcher schlüpfen.

«Es ist lustig», erwiderte sie fröhlich. «Hier, der braune Fleck auf dem Hunderücken sieht aus wie ein Hamburger, oder?»

«Echt? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Sieh an.»

Eine Kollegin, die gerade vorbeimarschierte, musste lächeln, als sie das kleine Mädchen erblickte.

Bei Maple wurden Kinder nicht nur als junge Leser mit großer Wertschätzung behandelt. Man durfte sogar seine Kinder mit zur Arbeit bringen. Als eine Mitarbeiterin während des Mutterschaftsurlaubs mit ihrem Neugeborenen die Kollegen besuchte, versammelten sich alle neugierig um sie, und unser Chef nahm das Baby ungezwungen auf den Arm. Anfangs fand ich das irritierend …

Herr Kishikawa hatte zwei Farbkopien von Illustrationen für mich dabei.

«Frau Sakitani, fragen Sie doch mal Ihre Tochter, welche der beiden Zeichnungen ihr besser gefällt.»

Es waren Entwürfe für ein neues Bilderbuch.

«Ja, gern.»

Kinder zu haben, war hier kein Hindernis für die berufliche Karriere. Ganz im Gegenteil, sie spielten eine nicht unbedeutende Rolle, und man bezog sie bei der Konzeption eines Buches mit ein. Diese Verlagspolitik verschaffte mir ein Gefühl der Ruhe und Ausgeglichenheit.

Das, was man für mangelhaft oder überflüssig hält, kann sich ins Gegenteil verkehren, sobald man die Umgebung wechselt. Ebenso kann sich die Perspektive ändern, je nachdem, in welcher Gegend dieser Erde man sich gerade befindet.

Als Herr Kishikawa wieder gegangen war, widmete ich mich von Neuem meinem Projekt.

 

Der Weihnachtsmann, von dem die Eltern ihren Kindern erzählen, ist keineswegs eine «Lüge», sondern vielmehr eine größere «Wahrheit». So wirken das «Sonnenauge» und das «Mondauge» gleichermaßen, wenn wir die Welt betrachten, ohne eines zugunsten des anderen zu leugnen.

 

Diese Passage aus der Neuausgabe von Das Tor zum Mond kannte ich bereits auswendig. Ich hatte die Zeilen unterstrichen, um sie mir einzuprägen.

Als ich bei Maple anfing, habe ich es begriffen: Wenn man einen Roman schreibt oder liest, geschieht das mit dem «Mondauge». Wenn man ihm eine Form verleiht und ihn publiziert, ist das «Sonnenauge» aktiv.

Beide sind unverzichtbar. Man muss sie weit öffnen. Sie kooperieren, statt sich gegenseitig zu blockieren.

Ich klappte das Buch zu und platzierte es sorgsam auf dem Leseständer, der auf meinem Schreibtisch stand. Dann griff ich nach einem anderen schmalen Buch. Es war eine Kurzgeschichte, die ich letzten Monat entdeckt hatte.

Das ist es!, dachte ich. Mit diesem Autor wollte ich unbedingt zusammenarbeiten. Dafür hatte ich mein gesamtes Netzwerk kontaktiert und schließlich seine E-Mail-Adresse herausbekommen.

Tief durchatmend, setzte ich mich an meinen PC . Ich wollte in Ruhe eine Nachricht an den Autor verfassen, durchdrungen von meiner Absicht, gemeinsam ein neues Tor zu öffnen.

 

Die Erde dreht sich.

Vom Sonnenlicht beschienen, den Mond betrachtend.

Auch ich werde mich stets wandeln und weiterentwickeln, fest verwurzelt mit der Erde zum Himmel blickend. Um dem Leser, der gerade diese Buchseite aufschlägt, eine «größere Wahrheit» zu vermitteln.