Die Stille in der Klasse ist so dicht, dass man sie mit der Motorsäge schneiden könnte.

Es ist so still, weil alle schreiben, aber jeder schreibt, was er will.

Denn für jeden Montag, erste Stunde, hat uns die Franceschi dieses Experiment vorgeschlagen, nur für fünfzehn Minuten. Keine mehr und keine weniger.

Sie nennt es Freies Schreiben.

Schreiben ohne anzuhalten und worüber man will. Ohne Regeln, Gliederung, Wörterbuch. Ohne viel nachzudenken. Einfach schreiben, so wie es kommt. Ohne weitere Vorgabe, bis auf drei Wörter, die wir als Ausgangspunkt nehmen können. Drei Wörter, die jedes Mal andere sind und von ihr festgelegt werden.

Nur eines ist verboten: anhalten. Nicht den Stift vom Blatt nehmen, nicht lesen, was man geschrieben hat, nicht die Gedanken und das Schreiben blockieren.

Sich bloß nicht der Leere ergeben.

 

»Wenn euch ganz und gar nichts einfällt, schreibt Mir fällt nichts ein. Oder Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Oder von mir aus Diese Aufgabe nervt. Oder ihr beschreibt, was ihr seht, zum Beispiel die anderen um euch herum. Aber ich glaube, ihr könnt eine Menge Dinge hervorziehen, wenn ihr, statt euch umzuschauen und auf der Oberfläche zu bleiben, versucht, ein wenig in euch hineinzuschauen, euer eigenes Inneres zu erforschen. Ängste, Befürchtungen, Wut, vielleicht Träume … Erforscht euch selbst. Erzählt.«

Das ist das, was sie uns beim ersten Mal gesagt hat. Vor vier oder fünf Wochen.

Manchmal würde man sie gern an die Wand klatschen und drübertapezieren, damit sie Ruhe gibt.

»In welchem Teil des Ordners sollen wir diese Aufgabe abheften, Prof?«, zwitscherte Lisi. »Unter Sprache oder Literatur

Die Franceschi umdribbelte die Frage.

»Heftet es ab, wo ihr wollt. Wichtig ist nur, dass ihr die Blätter nicht verliert. Dann könnt ihr in ein paar Monaten oder Jahren euch selbst nachlesen. Vielleicht werden euch dann ein paar Dinge klar: über euch selbst, eure Veränderungen, wie ihr mit fünfzehn wart. Über euren Reifungsprozess. Denn ein paar von euch werden doch reifer werden in diesem Semester, hoffe ich«, fügte sie hinzu, zog ihre Brille auf die Nase herab und warf einen langen Blick in die Runde. Schwenk über die ganze Klasse, bei manchen kurzer Halt mit Heranzoomen.

Giulio drehte sich zu mir und sah mir in die Augen. Eine Hyäne. Ich konnte es von seinen boshaften Lippen lesen: Wird das benotet, Prof?

Exakt gleichzeitig fragte Lisi laut: »Wird das benotet, Prof?«

Giulio zwinkerte mir spöttisch zu.

Wird das benotet, Prof? ist das Mantra von Lisi, die von der Antwort ihren persönlichen Einsatz abhängig macht, den sie bereit ist, in irgendeine Tätigkeit zu investieren. Dieser Einsatz wird bis ins letzte Nanogramm genau austariert.

Ich konnte deutlich hören, wie ein langes, sehr langes Oooommm zwischen den Hirnhälften der Franceschi vibrierte. Inzwischen

Dieses hier sagte wörtlich: Könntest du nicht ein Mal etwas für dich tun statt für deine Zeugnisnote?

Kann aber auch sein, dass es nur ein durch jahrelanges Yogatraining zurückgehaltenes Leck mich war.

Das Gesicht der Prof jedenfalls glättete sich im Sphinx-Modus. Unerschütterlich. Seelenruhig.

Sie fingerte nur ein wenig an ihrer Brille herum und klopfte mit ungewohntem Eifer auf die Tasten des Klassenbuchs ein, das sie mindestens in jeder zweiten Stunde auszufüllen vergisst, weil sie sich zu sehr von ihrem Stoff hinreißen lässt.

»Dieses Projekt wird nicht benotet«, antwortete die Franceschi schließlich, »ob ihr euch Mühe gebt oder nicht, ist eure freie Entscheidung. Nennen wir es Reife, okay? Ganz am Ende kann sich, wer will, den anderen mitteilen und laut vorlesen, was er geschrieben hat. Eine Art Geschenk …«

»Geschenk?«, echote Giulio, plötzlich aufgeschreckt.

In seinem persönlichen Wörterbuch steht Geschenk ziemlich weit vorne.

»Geschenk im Sinne von Vertrauensbeweis«, präzisierte die Prof, »Vertrauen in eure Klassenkameradinnen und Kameraden, in ihre Fähigkeit zuzuhören. Ihre Empathie, ihr Verständnis. Ist Vertrauen etwa nicht ein großes Geschenk?«

»Und wenn einer dieses Vertrauen nicht hat? Muss er dann trotzdem seine Privatsphäre ausbreiten?«

»Keiner zwingt euch. Ob ihr vorlest oder nicht, ist eure Entscheidung. Diese fünfzehn Minuten gehören euch alleine. Nutzt sie, wie ihr denkt. Wenn ihr die Zeit totschlagen wollt, indem ihr, was weiß ich, ein und dasselbe Wort dreihundert Mal hintereinander auf das Blatt schreibt, seid ihr frei, auch das zu tun. Aber ich halte es für keine grandiose Idee, aufs Papier zu

Niemand von uns hatte eine Ahnung, was Ischämie sein sollte, aber vom Zeittotschlagen verstehen wir einiges.

»Ihr habt doch was zu sagen. Los: Lasst es raus. Und gebt den Dingen einen Namen. Einen möglichst präzisen Namen. Und wenn wir schon dabei sind: einen ehrlichen.«

Ich steckte die Ohrhörer ein und ließ Love your Ground von Mumford & Sons in mein Hirn sickern. Ein bisschen langsam, aber vielleicht geeignet für eine Tiefenbohrung in meine Gedankenwelt.

Dann nahm ich den Stift und sah mich in der Klasse um.

Einige der Mädchen hatten sich schon in die Aufgabe gestürzt und schrieben mit gesenktem Kopf. Lisi hatte wahrscheinlich bereits ein Versepos verfasst, in fast reinen Hexametern, nur für den Fall, dass es sich die Franceschi anders überlegt und am Ende doch noch Noten verteilt.

Aber insgesamt waren es doch wenige, die die Sache ernst nahmen.

Unter diesen wenigen war ich nicht.

Die ersten zwei oder drei Minuten versuchte ich mich vor der Aufgabe zu drücken. In solchen Fällen tendiere ich dazu, Zeit zu schinden. Ich spielte mit Stift und Papier, ich beobachtete die anderen.

Dann legte ich zaghaft zwei kleine Eier aufs Papier, die in die Mitte der Seite rollten, ohne weitere Lebenszeichen.

Das Leben

Ein entschieden ehrgeiziger Anfang. Und tatsächlich blockierte ich sofort. Vielleicht war ich noch nicht so weit. Vielleicht fühlte ich mich gerade nicht danach, auf der Suche nach dem verlorenen Schatz in die dunklen Tiefen meines Selbst hinabzutauchen.

Um ganz ehrlich zu sein, schrieb ich genau acht Wörter.

 

Das Leben steht mir offen, aber nicht hier.

 

Doch heute passiert etwas. Heute beginne ich zu schreiben. Und stelle fest, dass ich wirklich etwas zu erforschen und zu erzählen habe.

»He, weißt du einen Reim auf blicken?«, flüstert Giulio neben mir. »Ich glaub, ich schreib ein Gedicht.«

»Nichts Geeignetes!«, grinse ich zurück.

Dann tauche ich wieder in meine Gedanken ab.

Das ist nicht Musik. Das ist Schreiben. Aber trotzdem hängt alles vom Ton ab. Du musst deinen eigenen finden: deinen ganz persönlichen Ton. Und dem musst du dann treu bleiben, ihn verstärken, einen Rhythmus dafür bauen, jeder seiner Frequenzen Atem einhauchen, jeden Impuls aufnehmen.

Du musst den Sound herauskitzeln.

Traurigkeit, zum Beispiel, klingt düster, dunkle Wörter, kurze Silben.

Die Sehnsucht hat tiefe Töne. Einen kraftvollen, geheimnisvollen Klang, wie ein tibetanischer Gong.

Fernweh klingt nach Perkussion. Nach treibenden Bassfrequenzen, einem Klangteppich, der die Nerven erfasst, Rhythmen, die sich ins Herz einschleichen und nicht mehr herauszukriegen sind.

Und die Liebe? Daran arbeite ich noch.

Im Moment habe ich eines verstanden: Jede wichtige Emotion hat ihre eigene vibration und Wörter, die dafür geeignet sind.

 

Also schreibe ich heute, und schreibe und schreibe. Es gibt dunkle Winkel, die erst sichtbar werden, wenn du sie beim Namen rufst, und wenn du diesen Namen gefunden hast, wird es plötzlich hell,

Wie hat es die Franceschi gesagt? Auch für die Stille brauchen wir Worte. Auch die Dunkelheit muss ans Licht.

 

Und dann plötzlich höre ich: STOPP!

Als wären wir Schweizer Uhrmacher.

Die Zeit ist um. Schließt eure Hefte.

Mit einer Salve gleichzeitiger Klicks schließen sich die Ringe von sechsundzwanzig Ordnern auf den Tischen.

Nach einer Minute oder so folgt ein einziges verstimmtes Klack. Das ist meines.

Die Franceschi schaut mich an und seufzt.

Über ihrer auf die Nase herabgeschobenen roten Brille sprechen ihre Augen deutlich zu mir: Mattia Marchior, dein Zeitgefühl benötigt dringend einen Entwicklungsschub.

Einverstanden, aber mein Zeitgefühl steht nicht an erster Stelle meiner Prioritätenliste.

Viel wichtiger erscheint mir im Moment ein Entwicklungsschub mit Sofia.