Die große Pause ist eine Explosion.

Explosion des in drei Stunden Unterricht aufgestauten Freiheitsdrangs, gesteigert durch die Aussicht auf zwei weitere Schulstunden bis zum Ende des Vormittags.

Der Korridor ist voller Leute. Alle essen, trinken, lachen. Schubsen, streiten, flirten. Einige Jungs spielen Fußball mit einem zusammengeknüllten Stück Papier. Einer passt, der Zweite dribbelt, der Dritte schießt und versenkt den Ball in der offen stehenden Tür eines Klassenraums. Tor!, brüllt der Stürmer und reißt den Arm hoch. Dann haut er ihn, um seine Begeisterung loszuwerden, einem Kumpel auf den Nacken. Der antwortet mit einem Ellbogen in die Rippen.

Die Mädchen unterhalten sich angeregt, während sie in kompakten Grüppchen patrouillieren.

Ein paar Pärchen spazieren eng umschlungen den Korridor entlang.

Die Schlange vor den Automaten nimmt den halben Gang ein, die Schlange vor den Toiletten die andere Hälfte. Viele chatten, twittern oder posten Stories. Die zur Aufsicht gezwungenen Profs stehen vor einer unmöglichen Aufgabe: alle aus den Klassenräumen zu treiben, wie es die Schulordnung vorsieht. Kaum haben sie eine Klasse geräumt, fließt die Menge in eine andere.

Ich schaue mich nach Sofia um, aber sie ist nicht da.

»Wartest du auf jemanden?«, fragt Giulio, der eine gute Intuition hat, wenn man es nicht gebrauchen kann.

Dabei wirft er mir einen Blick zu wie Du hast doch völlig den Kopf verloren, Mann.

Daraufhin tut Giulio einmal das Richtige und ist still.

Er boxt mir nur leicht gegen die Schulter und bleibt neben mir stehen, um aus dem Fenster hinunterzuschauen auf den Hof, der daliegt wie eine fünfte Dimension, das Ende der Schulwelt, der Anfang vom echten Leben. Archipele von grauen Pfützen, das Profil der Sporthalle, das verlassene Basketballfeld, die geschwungene Linie des Elektronikflügels mit großen Fenstern wie diesem und den Gesichtern anderer Jugendlicher hinter Glas: ein Aquarium, bekannt und vertraut.

Der Anblick erzeugt eine Mischung aus Langeweile und Hunger.

Gegen den Hunger kann ich etwas tun.

»Ich hole mir ein Brötchen unten in der Cafeteria«, sage ich zu Giulio, »sehen uns später.«

 

Ich fische zwei Euro aus der Tasche und remple mich durch den Korridor.

Wir sind fast dreitausend an dieser Schule, in den Pausen merkt man das.

Ich erreiche das Erdgeschoss und kämpfe mich durch in die Cafeteria. Gleich daneben liegt die Mensa. Es riecht nach Pommes frites, Fleisch und Pasta alla Bolognese.

Mein Hunger steigt um drei Grad.

Die Automaten stehen auf der anderen Seite des Raums, in der Mitte hängt eine Rauchwolke, genau auf Höhe des Rauchen verboten-Schilds. Ich umkurve Tische und Stühle, allesamt besetzt um diese Zeit.

Manche sitzen sogar auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand. Ich turne über Sneakers, Doc Martens, Stiefel. Dann stelle ich mich am Automaten an.

Die Schlange wogt hin und her, reißt ab, formiert sich neu mit ein paar Eindringlingen.

»Bist du Italiener?«, fragt der Schrank zurück, mit starkem Akzent.

Ich verstehe nicht, was das soll.

»Was soll das jetzt?«

Er gibt nicht auf.

»Italiener?«

»Ja, ich bin Italiener.«

»Dann glaubst du nicht an Schlangen.«

Und er schwingt seinen Arsch zurück in die Reihe. Ich mustere ihn unauffällig: blonder Stoppelschnitt, unvermeidliches Nackentattoo, da und dort Piercings, eins neunzig Länge mal gut einen Meter Brustumfang. Mehr oder weniger Terminator.

Ich unterdrücke jede Anwandlung von Protest und beschließe, das Thema Schlangestehen flexibel zu handhaben.

Vielleicht glaube ich gerade nicht an Schlangen, dafür aber an einen sechsten Sinn. Denn ich bemerke sie nicht: Ich erahne sie. Ich rieche, fühle, wittere sie. Ich nehme sie wahr, ohne sie gesehen zu haben. Ich erschnüffle sie wie ein Hund den Trüffel.

Daher wende ich meinen Blick nun nach rechts.

Über Köpfe und Körper und Rucksäcke und Tische hinweg.

Hinweg über die Pizza, Brötchen und Pommes verschlingende Horde.

Dorthin, wo – natürlich – Sofia steht.

Sie hat ihre Stirn an die Glastür gelehnt. Ganz in den Anblick des Schulhofs versunken.

Neben ihr stehen ihre Freundinnen, wie immer, aber sie wirkt isoliert, verloren in ihrer eigenen Welt. Die anderen halten ihre Handys in der Hand, chatten und posten, Kopf gesenkt, Finger in Bewegung, jede abgetaucht in irgendeinen Fluss des Internets. Jede getrennt von den anderen, weil verbunden mit der virtuellen

Ich lasse die Schlange Schlange sein. Vergesse den Hunger. Gehe näher heran an Sofia.

Aus einigen Schritten Distanz folge ich ihrem Blick durch die Glasscheibe.

Dann sehe ich es auch. Es ist ein Spatz, der in einer Pfütze badet. Er schüttelt sich, reckt den Schwanz in die Luft, spreizt die Flügel und schließt sie wieder. Er taucht den Kopf ins Wasser, rüttelt sich von oben bis unten durch, planscht noch ein bisschen und hört dann auf. Er steckt den Schnabel ins Gefieder. Und schließlich, als er sauber ist, fliegt er davon.

Zwischen den Wolken ist jetzt die Sonne herausgekommen. Und ich denke, dass nur Sofia so etwas bemerken kann, einen Spatz, der Lust auf ein Bad hat – und sich damit aufhalten, ihm lächelnd zuzuschauen. So ein kleines Detail.

Fast ein Nichts, das auch noch weniger als nichts gedauert hat. Ein Nichts, das kein anderer bemerkt hat.

Aber sie und ich haben es zusammen gesehen.

Von der Mischung aus Langeweile und Hunger ist mir nur der Hunger geblieben.

Denn auch wenn ich mein Brötchen nicht bekommen habe, habe ich einen Vorrat angelegt. Wovon, kann ich zwar noch nicht sagen, aber ich weiß, dass es da ist und dass ich es mag.

Und dann ciao: Die Glocke läutet. Ein langes, wütendes Schrillen. Schluss mit lustig. In Schulpausen ist die Zeit besonders gemein. Ich habe nie verstanden, wie, aber sie vergeht einfach doppelt so schnell.

Also bin ich immer noch da, wo ich vorher war. Gelegenheiten gegen Mattia: eins zu null.

In der Tür der Cafeteria taucht eine Mensaangestellte auf, jung, hübsch und lächelnd. Sie kommt, um das Essen bekannt zu geben,

»He, Leute«, verkündet die Angestellte, sie muss fast schreien, um gehört zu werden. »Wer von euch interessiert ist an Hamburgern mit Pommes, wird gebeten, das jetzt vorzumerken, ohne Zögern und Zaudern.«

Wow! Wird gebeten? Und dann auch noch ohne Zögern und Zaudern?

Frischer Abschluss in Literaturwissenschaft, vermute ich. Oder wenigstens Erziehungswissenschaft. Hart ist der Arbeitsmarkt, stimmt’s?

Der Raum leert sich innerhalb von etwa dreißig Sekunden. Kein Evakuierungsplan an dieser Schule hat je so reibungslos und effizient funktioniert. Pommes gehen immer, und die Plätze fürs Mittagessen sind limitiert. Also alle los zum Vormerken.

Einsam vor den Automaten zurück bleibt nur mein Terminator.

Er hat gerade in sein Brötchen gebissen und sieht sich jetzt etwas verwirrt um. Dann macht er zwei unentschlossene Schritte. Kommt auf mich zu.

High Noon. Augenblicklich habe ich Morricones Melodie von Zwei glorreiche Halunken im Ohr, einem Klassiker, den mein Vater liebt.

»Was passiert?«, fragt er. »Ich nicht gut verstehe.«

Ach, echt?

Vorhin habe ich gar nicht bemerkt, dass er so schlecht Italienisch spricht. Wahrscheinlich ist der Spruch übers Schlangestehen der einzige, den er so draufhat.

»Toxinellen«, antworte ich ganz entspannt.

»To-was?«

»Toxinellen«, wiederhole ich. »Giftige Art von

Er hört auf zu kauen.

Starrt mich aus aufgerissenen Augen an.

Sogar das Piercing in seiner Augenbraue verrät sich durch ein zittriges Glitzern.

»Gefährlich?«, fragt er.

»Kommt darauf an. Wenn du den Rest des Tages auf dem Klo verbringen willst, kann ich sie dir empfehlen.«

Und damit ich sicher sein kann, dass er versteht, gehe ich ein wenig in die Knie und mime universell verständliche Anstrengungen und Geräusche.

Terminator wird feuerrot. Schmeißt das Brötchen in einen vollen Papierkorb und spuckt den zerkauten Bissen aus.

Dann zieht er, vor sich hin schimpfend, ab.

»Mach dir keine Sorgen!«, rufe ich ihm freundlich nach, »Toxinellen hast du in einer Woche überstanden!«