In der letzten Unterrichtsstunde verabschiedet sich die Zeit aus der Physik und wird Teil einer Paralleldimension. Nanosekunden werden zu Stunden, Stunden zu Äonen.

»Tust du mir einen Gefallen, Mattia?«, hat mich soeben die Franceschi gefragt. »Könntest du ins Lehrerzimmer gehen und mein Geschichtsbuch holen?«

»Aus Ihrem Fach?«

»Ja, wie immer. Danke.« Dann schiebt sie ihre Brille auf die Nase hinunter und stellt direkten Augenkontakt her, Modus Zwillingsbohrer. Sie richtet Zeige- und Mittelfinger erst auf ihre Augen, dann auf meine: »Und auf dem Rückweg keine Umwege. Haben wir uns verstanden, Marchior?«

»Aber niemals!«, antworte ich treuherzig, die Unschuld in Person.

Vorzug Nr. 1 der Franceschi: Sie kann unterrichten.

Macke Nr. 1: Ihre Zerstreutheit ist legendär.

 

Wenn es nicht das Buch ist, ist es das Federmäppchen. Wenn nicht das Federmäppchen, dann die Tasche. Wenn nicht die Tasche … dann was weiß ich. Sie vergisst immer irgendwas. Also schickt sie dann jemanden los, um all diese Dinge zu holen.

Ihre offiziellen Kuriere sind sehr oft Giulio und ich, und ich habe den Verdacht, dass sie ihre Gründe hat, gerade uns beide aus der Klasse zu schicken. Meist passiert das, wenn sie zwischen den Tischen herumgeht und erklärt. Sie taucht in deinem Rücken auf wie eine Drohne, beugt sich lautlos über dein Heft und entdeckt dabei, dass aus der Mitschrift längst ein Manga geworden ist. Das

Ich weiß nicht, wie es für Giulio ist, für mich ist das ein Segen.

Kurz aufs Klo, einen Schluck Wasser, einen Blick aus dem Fenster in die ferne wirkliche Welt, die sich gleich außerhalb der Schule in normaler Geschwindigkeit dreht. Am Ende erinnere ich mich sogar noch an den Grund, warum ich wirklich draußen bin, und hole der Prof ihren Kram.

Wenn ich dann zurück in der Klasse bin, ist meine Konzentrationsfähigkeit wiederhergestellt und sendet Lebenszeichen.

Normalerweise läuft das so.

 

Die Franceschi spricht immer noch mit mir. Ich war abgelenkt. Was sagt sie?

Ich stehe vorn, neben dem Pult. Sie spricht jetzt leiser.

»… Mattia, du erscheinst mir so zerstreut. Probleme?«

Ich bin nicht zerstreut. Ich bin ein einziges Chaos. Das sage ich ihr natürlich nicht.

»Keine Probleme. Ich gehe dann. Literaturgeschichte, richtig?«

Sie seufzt.

»Nein. Das Geschichtsbuch.«

»Meinte ich ja. Geschichtsbuch.«

Ich gehe hinaus, den Korridor entlang, bleibe am Fenster stehen. Nur eine Glasscheibe mit Regentropfenbahnen trennt die Schule von der Außenwelt: zwei nahe, ferne Welten, die um diese Tageszeit den größtmöglichen Abstand einhalten. Die Straße. Die Häuser auf der anderen Seite. Der übliche Verkehr. Die Bar gegenüber, die alle BGG nennen. In meinen Ohren summt ein Motor: das kultige desmodromische Geräusch einer Ducati Monster, die gerade hochdreht.

Vielleicht ist das der Beginn einer Ohrenentzündung. Vielleicht aber auch meine Sehnsucht abzuhauen.

Beim Sonnenuntergang bin ich flexibel, was das Mädchen betrifft, kein bisschen.

Ich tauche wieder auf. Gehe ins Erdgeschoss hinunter. Das Lehrerzimmer, ein grauer Raum voller Bücher und Blätterstapel, liegt eingeklemmt zwischen der Pförtnerloge der Hausmeisterin und der etwas traurigen Cafeteria der Profs, die hier immerhin fast dreihundert sind. Dreihundert oder so ist auch die Zahl der Fächer, die, auf mehrere große Schränke verteilt, die Wände bedecken.

Jedes Fach hat eine Nummer und ein Schloss. Auf vielen der Türchen haften Magneten als Erkennungszeichen, da hat jede und jeder so seinen Geschmack. Die Aufschriften reichen von ernsthaft bis aufgekratzt, mit ein paar nachdenklichen Ausreißern.

Sehr beliebt sind London und Paris. Dann folgen Weisheiten wie Don’t worry, be happy oder All you need is love.

Ich kenne den Magneten der Franceschi. Eine grimmig blickende Comic-Mafalda mit Sprechblase: Andere zum Nachdenken bringen zu wollen, ist manchmal Übertherapie.

Ich weiß natürlich auch, wo das Fach ist und dass sie es nie absperrt.

Im Erdgeschoss herrscht das übliche Kommen und Gehen: Schüler auf dem Weg zum Klo, Lehrer in der Unterrichtspause, haufenweise Eltern, die zu einer Sprechstunde im ersten Stock wollen.

Keiner passt wirklich auf, wer in einer Schule so herumläuft.

Außer er wird umgerannt.

Das passiert mir nämlich gerade.

Ein Typ kommt mit gesenktem Kopf aus dem Lehrerzimmer,

»He!«, mache ich, aber er entschuldigt sich nicht.

Im Gegenteil, er rammt meine Schulter und fährt sich mit der Hand vors Gesicht, als wollte er es zudecken. Da erkenne ich ihn. So einen Ring hat nur er: einen Goldring mit Totenkopf. Jetzt erkenne ich auch sein Gesicht, trotz der dunklen Sonnenbrille.

»Was …«, entfährt es mir.

»Kümmer dich um deinen Scheiß!«, fällt er mir ins Wort. Und schon ist er auf und davon.

Wie versteinert sehe ich ihm nach, während er hinausrennt und zwei Stufen auf einmal die Treppen hinunterspringt.

Groß, cool, selbstsicher, an den Füßen ein Paar blitzende Nike Air Jordans: ein Alpha-Typ wie aus der Werbung.

Dabei strahlt er immer so eine wütende Energie aus, geballt wie Druckluft, die nur darauf wartet zu explodieren. Der Typ hat mir immer Angst gemacht. Ich erinnere mich jetzt, wie er heißt: Pierantonio.

Einer, der hart schlägt, wenn er schlägt. Heißt es.

Ich weiß, dass es stimmt.