Eine Zeit lang habe ich nach Wörtern gesucht, im Lärm der Erinnerung.
Ich brauchte Wörter.
Ich brauchte einen Namen für jede Bewegung, jedes Ding. Für jeden Schatten und jedes Licht, die noch in meinen Augen wohnen, wenn meine Augen wieder die Hölle sehen, die jene Nacht verändert hat.
Und nach jener Nacht mein Leben.
Denn wenn etwas einen Namen hat, dann wird es lebendig. Dann hört der Zweifel auf. Es existiert wirklich.
Dann ist es nicht mehr dein verrückt gewordenes Gehirn, das sich eine falsche, düstere Wirklichkeit ausmalt.
Es ist die Welt, die falsch und düster ist, und nicht ein Teil von dir.
Es gibt viele Arten von Wörtern.
Glückliche Wörter, zum Beispiel, entspringen dem Herzen und dem Mund wie Flughörnchen.
Sie sind wendig, flink und leicht. Sie bewegen sich mühelos, vertragen sich gut mit Zunge und Zähnen und wohnen gern in der Stimme. Wörter wie Mama oder Oma. Wie Amu Nouruz. Wie Fußball.
Andere Wörter hingegen sind schüchtern.
Sie stehen lieber abseits.
Wenn sie den Mund verlassen müssen, tun sie das langsam, zögerlich, verstecken sich zwischen den Backenzähnen. Manchmal drehen sie einfach um. Oder stolpern. Oder verirren sich im Dunkeln. Oder verlassen ihre Höhle nur ganz allmählich, so wie eine Regenschnecke ganz allmählich aus ihrem Haus kriecht, nachdem sie ein wenig Luft geschnuppert, die Welt gekostet hat.
Das sind Wörter wie Entschuldige. Wie Ich habe einen Fehler gemacht. Wie Ich tue es nicht wieder.
Aber die gefährlichsten Wörter sind wie Schakale.
Sie leben verborgen in der Stille. Sie lauern im Dunkel der Nacht. Meist bewegen sie sich allein, schnell und gnadenlos.
Sie greifen wehrlose Opfer an. Wehe, du bist das Opfer.
Die Wörter für die Nacht, die zu meinem Tag Null wurde, sind solche Wörter.
Ich habe lange danach gesucht, überall. Im Englisch-Wörterbuch, in den Zeitungen, in Büchern, in den Erzählungen von Leuten, die geflohen sind, wie wir jetzt fliehen.
Du lernst schnell, sagte meine Oma zu mir.
Und ich habe ihr geglaubt, denn meine Oma weiß ungeheuer viel und spricht sogar fünf Sprachen: Dari, Urdu, Paschtu, Russisch und Persisch. Sie ist Ärztin, und als sie jünger war, arbeitete sie in einem großen Krankenhaus. Sie heilte die Knochen der Menschen. Sie konnte Auto fahren, trug bunte Kleider, die nur bis zum Knie reichten, und Schuhe mit hohen Absätzen und im Gesicht, das ganz unbedeckt war, keinen Schleier, sondern Sonnenbrillen.
Außerdem lebte Oma Nadira, als sie ein Mädchen war, nicht in einem Dorf auf dem Land, sondern in einem Haus in Kabul voller Teppiche und Bücher.
Ihr Vater, mein Urgroßvater Jaafar, unterrichtete an der Universität. Ursprünglich aber stammte die Familie meiner Oma aus Herat, der Stadt der Künstler und der Sufis. In Herat lag die Poesie in der Luft, sagte meine Oma gern.
Wer Schnupfen hatte, fügte sie lächelnd hinzu, nieste Verse von Rumi: Gedichte über das Leben und die Liebe.
»Du lernst schnell«, sagte meine Oma oft, »und für die, die schnell lernen, ist Studieren Pflicht.«
Also habe ich meine Pflicht getan.
Ich habe die neuen Wörter studiert, ihre fremden Laute.
Heute kann ich der Dämmerung meines Tages Null ihren exakten Namen geben.
Ich kann meine Hölle benennen.
Es ist ein einziger, präziser Name, so wie der Moment, in dem diese Hölle losbrach.
Vor genau zwei Jahren, elf Monaten und zwanzig Tagen.