Bei Schulschluss könnte man glauben, die Löwen sind los.

Dreitausend, die sich kopfüber in die Freiheit stürzen, nach fünf Stunden Unterricht. Ein Vulkanausbruch ist nicht mehr als ein Nieser dagegen.

Um möglichst schnell ins Freie zu gelangen, hat jeder seinen eigenen Stil. Manche schubsen sich ihren Weg frei wie ein Bär, der anderen seine Tatzen vor den Latz knallt, manche öffnen eine Bresche, indem sie sich an den Wänden entlangschieben, oder drücken drauflos im Vertrauen auf die Macht der Masse. Manche, die was vergessen haben, gehen auf volles Risiko und versuchen, flussaufwärts zu hüpfen wie ein kanadischer Lachs.

Insgesamt gleicht der Effekt dem einer Lawine, die aus den oberen Stockwerken hinabrollt, jeden freien Millimeter Raum einnimmt, im Flaschenhals der Treppen stecken bleibt und sich von dort hinauskatapultiert in einem letzten glühenden Strom von Armen und Köpfen, Schultern, Rucksäcken und Füßen.

Ich bleibe hinter der Front zurück, neben mir wie immer Giulio. Der wie immer um diese Zeit hungrig ist. Und sich wie immer, seit ich ihn kenne, wie ein Wolf auf sein zweites – oder schon das dritte? – Brötchen stürzt.

Ich habe nie verstanden, wo er das alles hinsteckt, was er so in sich reinstopft.

Und dabei isst Giulio wie ein wahrer Gentleman. Ich schaue zu, wie er mit offenem Mund kaut. Während er kaut, hört er nicht auf zu sprechen. Er trinkt aus einer Wasserflasche und trocknet sich den Mund mit dem Handrücken ab. Dann steckt er zwei Finger in den Mund, um eine Brotrinde aus den Backenzähnen zu befreien.

Filippo ist der Größte in der Klasse und auch der Älteste. Er wiederholt gerade die Zehnte, nachdem er schon die Neunte wiederholt hat, vielleicht liebt er die Symmetrie. In der Mitte seiner Ohrläppchen blitzen zwei kleine runde Plugs aus Stahl. Als er sich an der Nase reibt, hüpft die tätowierte Spirale einer Schlange auf seinem linken Bizeps. Aber das ist es nicht, was am meisten an ihm auffällt.

Was ins Auge fällt, ist etwas anderes: die scharfen Schnitte an seinen Armen. Viele parallele, horizontale Schnitte. Er hat auch welche an den Beinen. Schnitte, die er sich selbst zugefügt hat.

Neben ihm steht Valentina. An ihr fällt einem direkt zweierlei auf: die grell schlumpfblau gefärbten Haare und ihr winziger Körperbau. Zusammen sehen die beiden aus wie Shrek und die Fee mit den blauen Haaren.

Ich sehe, wie Vale sich auf die Zehenspitzen stellt, um Filippo auf die Wange zu küssen. Dazu muss sie sich ganz schön strecken. Filippo winkt uns zu und zieht ab, Vale kommt zu uns herüber.

»Er hat schon wieder neue!«, fängt Giulio an. Diplomatie ist echt nicht seine Stärke.

»Neue was?«, fragt Valentina, aber ich denke, sie hat es schon kapiert.

»Neue Schnitte. Deutlich zu sehen. Je frischer, desto ekliger.«

Ich stoße Giulio in die Rippen.

»He!«, fährt er auf. »Wir stehen. Wozu schubst du?«

Valentina verdreht die Augen. Filippo ist ihr bester Freund, und sie verteidigt ihn, wo sie nur kann.

»Jedenfalls, wieso schnipselt er so an sich herum?«, bohrt Giulio weiter.

Wenn er sich in etwas verbeißt, wird er zum Nervtöter hoch zehn.

Wir kennen Filippos Probleme. Einen saufenden Vater, dessen Trockenphasen immer nur bis zum Rückfall dauern, eine magersüchtige Schwester, die in der Klinik ein und aus geht. Und die Schule bringt auch nicht gerade Ruhm und Ehre in Filippos Leben.

Wahrscheinlich ist es dieser Mix, der ihn schafft.

»Neue Probleme?«, frage ich. »Er hat doch schon genug alte …«

Vale betrachtet ihren Schuh. Vielleicht fragt sie sich, ob es einen Sinn hat, mit zwei Knallköpfen wie Giulio und mir ernste Dinge zu besprechen.

Aus irgendeinem Grund beschließt sie, uns ins Vertrauen zu ziehen.

»Seine Eltern lassen sich scheiden. Auf die harte Tour.«

»Na gut«, macht Giulio nach ein paar Sekunden, »das ist vielleicht nicht witzig, aber sich deswegen die Arme in Scheiben zu schneiden, ist doch idiotisch.«

»Vielleicht sind die Idioten auch die, die nicht kapieren, was echte Probleme sind.«

»Vale, Giulio hat nicht unrecht«, sage ich. Einerseits, weil ich es wirklich denke, ein bisschen auch aus männlicher Solidarität. »Scheidung ist doch keine Tragödie. Wenn alle Kinder aus Scheidungsfamilien so reagieren würden, liefe die halbe Welt als Aufschnitt herum …«

Sie schaut mich an. Scheint kurz nachzudenken.

»Sind deine Eltern noch zusammen?«, fragt sie.

Also denke ich kurz an meine Eltern. Wir sind eine sehr harmonische Familie. Mama arbeitet im Krankenhaus, sie ist Biologin, und sie mag ihre Arbeit. Sie ist ordentlich, organisiert, rational. Ein Ordnungsfreak, sportlich. Manchmal ist sie übergriffig, aber sie schafft es, sich zurückzuhalten, wenn sie merkt, dass sie es übertreibt.

Und bis vor Kurzem war da auch noch Opa, der im oberen Stock wohnte.

Aber an ihn will ich jetzt nicht denken. Noch nicht, denn er fehlt mir viel zu sehr.

Ich kann es also nicht leugnen: Mit meiner Familie habe ich Glück gehabt.

»Und?«, drängt Valentina. »Sind sie noch zusammen oder nicht?«

»Na ja«, gebe ich zu, »meine Eltern sind tatsächlich schon ewig zusammen.«

»Also, meine Regel ist: Entweder steckst du in etwas drin, oder du bist draußen. Wenn du draußen bist, spar dir deine Urteile. Und hier bist du draußen, wie es aussieht.«

»Fakt ist aber«, mischt sich Giulio neben mir ein, »dass Filippo einfach auf den Geschmack gekommen ist. Neue Probleme? Zack! Her mit dem Rasiermesser. Damit sichert er sich Aufmerksamkeit.«

Valentina schüttelt den Kopf.

»Du wirst dich echt nie ändern. Dein Herz hast du wohl am Nordpol vergraben.«

»Wow!«, macht Giulio. »Das schreibe ich mir auf.«

Vale: »Das war nicht als Kompliment gemeint.«

Giulio: »Ansichtssache. Als Snowboarder sehe ich das anders.«

Giulio: »Ich werde daran denken.« Dann schluckt er den letzten Bissen runter und leckt sich zum Schluss die Finger ab.

Vale: »Mit dir könnte man den Darwinismus widerlegen. Gegen dich sind sogar die Croods hoch zivilisiert!«

Giulio: »Weißt du was? Filippo braucht eine Freundin. Und bis es so weit ist, sollte er ein paar Beruhigungspillen schlucken.«

Vale: »Dein Rezept ist also sex and drugs. Ich sag dir mal, was ich weiß. Nämlich, dass deine letzten Gehirnzellen heute beim Geschichtstest draufgegangen sind, als du unter dem Tisch abgeschrieben hast!«

Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie, das ist mir klar. Als Giulio sich zum Angriff bereitmacht, werfe ich mich todesmutig dazwischen.

»He! Hört ihr jetzt auf? Konstruktive Kritik, schon mal gehört?!«

Vale und Giulio drehen sich zu mir um und sagen wie aus einem Mund: »Das ist konstruktive Kritik!«

Dann schauen sie sich verblüfft an, ernsthaft beunruhigt wegen der ungesunden Harmonie zwischen ihnen.

Na ja, wenigstens habe ich es geschafft, dass sie sich in irgendetwas einig sind.

Mein Problem ist, dass ich sie beide verstehe.

So geht es mir oft: dass ich scheinbar gegensätzliche Meinungen verstehen kann, sodass es echt schwierig wird, mich auf eine Seite zu schlagen.

Nehmen wir Giulio: Der hat ja nicht unrecht. Man muss was tun gegen sein Unglück, nicht auch noch selbst gegen sich arbeiten.

Außerdem ist Giulio einfach Giulio. Das zählt. Ich kenne ihn seit dem Kindergarten. Wir sitzen praktisch seit der ersten Klasse

Andererseits: Valentina ist echt tough. Und ich kann mir vorstellen, dass sie diesmal recht hat. Sie denkt wirklich nach über die Dinge. Sie überlegt, Psychologie zu studieren, während ich noch nicht einmal weiß, was ich heute Abend mache. Schlau und hübsch ist sie auch noch. Sie interessiert sich für die Weltwirtschaft, die globale Erwärmung, die Verzweifelten in den Schlauchbooten. Sie hat sogar einen guten Musikgeschmack. Giulio meint, Vale sei ein bisschen verliebt in mich. Auf sein Urteil würde ich mich da zwar nicht verlassen, aber es stimmt, dass sie so einen netten, besonderen Ton draufhat, wenn sie mit mir spricht. Also, jedenfalls: Vale ist echt in Ordnung.

Sie hat nur einen Fehler, aber der ist groß.

Unüberwindbar, würde ich sagen.

Sie ist nicht Sofia.

Und ich? Ich bin die ganze Zeit nur hin- und hergerissen zwischen zwei entgegengesetzten Instinkten: feiern bis zum Umfallen oder den Hintern hochkriegen und die Welt retten.

Das kommt auf die Stimmung an, auf den Moment. Manchmal sogar auf eine Schulnote. Es kommt auf eine Menge Dinge an.

Denn jeder Tag ist anders. An manchen Tagen verstehe ich genau, worum es geht: wie ich mich verhalten soll, was ich sagen soll, mit wem zusammen sein, damit es mir gut geht, wen lieber meiden. Dann fühle ich mich so stark, dass ich das Gefühl habe, meine Entscheidungen machen einen Unterschied.

Nicht nur für mein Leben, für das Leben auf der Erde.

An anderen Tagen ist alles scheiße. Dann weiß ich nicht genau, wer ich bin, und es fällt mir schwer, auch nur Kopf und Körper zusammenzuhalten. An solchen Tagen gebe ich auf und hänge einfach nur rum. Nicht mal ein Tsunami könnte mich dann wegtragen. Manchmal hat eine verpatzte mündliche Note damit zu

Wie ein Vogel mit Kiemen oder eine Amphibie, die aus dem Wasser steigt und nicht weiß, wie Atmen geht.

Dann möchte ich mich nur noch auf dem Sofa langlegen und nicht mehr aufstehen. Nur ich und mein Handy. Ein Herz und eine Seele. Zwei, die sich selbst genügen, in einem Nirwana aus Kissen.

Jedenfalls. Während Giulio und Valentina die nächste Runde im Ring einläuten, schaffe ich es, mich dazwischenzuwerfen, schnell wie ein Aktivist, der auf der Straße Unterschriften sammelt.

»Break. Auszeit. Waffenstillstand. Zeit heimzugehen. Wir müssen in zwei Stunden zurück sein. Genauer …«, ich kontrolliere auf dem Smartphone, »in einer Stunde, fünfzig Minuten. Ich weiß nicht, was ihr macht, aber ich gehe jetzt essen.«

Gemaule. Schweigen. Giulio grunzt eine vage Zustimmung und schlurft zu seinem Fahrrad.

Er winkt uns mit einer Hand zu, bevor er auf die Straße hinausbiegt und dabei sein Smartphone checkt. Um ein Haar fährt er einen alten Mann um, der gerade vorbeigeht.

»He!«, schreit ihm der Alte nach und droht mit seinem eingerollten Schirm. »Steck das verdammte Ding weg! Komm zurück in die Wirklichkeit!«

»Geh du zurück ins Altersheim!«, schreit Giulio zurück.

Ich halte mir die Augen zu. Zwischen zwei Fingern schiele ich nach dem versteinerten Gesicht von Valentina.

»Ich kenne den nicht«, sagt sie. Sie hat lakritzfarbene Augen, so schwarz, dass sie fast blau scheinen. »Ich schwöre: Giulio? Kenn ich nicht.«

»Er meint es nicht böse …«, versuche ich ihn zu verteidigen. »Er steht nur immer unter Druck zu Hause, mit seinen drei kleinen Geschwistern. Seine Eltern halten ihn kurz, er muss praktisch

»Klar, Rinder sind ihm lieber. Oder Schweineschinken«, legt sie nach, mit einem Zähnefletschen.

Wir lachen.

Dann sagt Vale, fast flüsternd: »Die Wahrheit ist, Giulio ist ein Fall für den Arzt.«

Ich nehme den Rucksack von der linken Schulter und hänge ihn über die rechte. Ich gönne mir ein paar Sekunden Bedenkzeit.

Ich denke an mich selber, und an Sofia. Ich denke an das Schaf, in das ich mich verwandle, wenn sie in der Nähe ist.

»Ein Fall für den Arzt …«, wiederhole ich nachdenklich, »sind wir doch alle, aus der Nähe betrachtet.«

Jetzt lächelt Valentina.

Ihre Zahnspange verbreitet ein kurzes Glitzern, weil die Sonne zwischen den Wolken ein paar vorsichtige Strahlen rausschickt, über die Straße, die weiß-graue Fassade der Schule, die auf dem Asphalt ausgegossenen Pfützen. Der Himmel hat dieselbe Farbe wie der Tee mit Milch, den Mama mir machte, wenn ich als Kind krank war. Als hätte der Regen die Welt in Frischhaltefolie verpackt, die jetzt überall Lichtreflexe verteilt.

Vale und ich gehen gemeinsam los und in unterschiedliche Richtungen davon.

Ich warte an der üblichen Haltestelle auf den Bus.

Und während ich zwischen den anderen stehe und warte, sehe ich Filippos Schnitte vor mir. Die alten, vernarbten und die frischen roten, wütenden.

Es sind Zeichen, die anziehen und abstoßen, die Blicke und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber nichts wirklich erklären. Sie schreien He, schau her!. Du kannst es richtig hören, dieses Ausrufezeichen.

Und du schaust hin. Du kannst gar nicht anders.

 

Und auf einmal wird mir etwas klar. Mir wird klar, dass ich Glück habe. Mir wird klar, dass ich nicht heimliche Dramen auf der Haut meiner Arme oder Hände sichtbar machen muss, um endlich an die Oberfläche zu lassen, was mich innerlich fertigmacht und meine Nerven massakriert, weil es rausmuss.

Dann leuchtet der Bildschirm meines Smartphones auf.

Eine Nachricht von Ma. Ma wie Mama. Aber auch wie Marta, so heißt sie nämlich.

Ich schaue drüber. Eine seltsame Nachricht.

Ich lese die wenigen Worte noch einmal und bin plötzlich unruhig.