Die Nähte ächzen und knirschen, der Rucksack ist längst voll. Übervoll. Der Reißverschluss übt sich in hartnäckigem Widerstand, aber ich lasse mich nicht einschüchtern. Mit einer Hand drücke ich alles hinein, mit der anderen ziehe ich und ziehe, einen Zentimeter nach dem anderen, bis der Reißverschluss endlich zugeht.

Von den Wänden meines Zimmers starren mich Poster und Fotos einer Vergangenheit an, die mir vorkommt, als wäre sie ewig her, und die doch bis gestern andauerte.

Glück gibt es nur im Flashback. Du verstehst es erst hinterher. Du erkennst es, wenn du es verloren hast.

Meine Neuronen gehen in unregelmäßigen Abständen an und aus, flackernd wie alte Weihnachtslichter, aber mit dem letzten Rest Klarheit habe ich eine Entscheidung getroffen.

Ich. Habe. Eine. Entscheidung. Getroffen.

Komisch, fünf Wörter. Wie die, die meine Mutter benutzt hat. Aber diese Zahl wird mir kein Glück bringen.

Zuerst verabschiede ich mich von allem.

Der Steppdecke auf dem noch ungemachten Bett. Der Fußballtasche unter dem Bett. Den Regalen mit meinen Büchern. Der an die Wand gelehnten Gitarre. Den Comics aus meiner Manga-Phase. Den Inlinern an der Türklinke. Dem gelb-blauen Plüsch-Minion mit seinem einen Auge, das leuchtend alle nächtlichen Monster vertrieb und gegen die schlimmsten Albträume half. Es hat mich bis in ein peinliches Alter beschützt. Bis in die dritte Klasse.

Ich war ein ängstliches Kind.

Ungefähr von vier bis neun plagte mich ein ganzer Berg von Ängsten.

Aber am schlimmsten war die Angst, allein zurückzubleiben.

Manchmal hatte ich einen Albtraum, aus dem ich klatschnass vor Schweiß erwachte. In diesem Albtraum war ich ganz allein.

Ich befand mich in einem leeren Raum. Einer Art Nacht ohne Sterne, ohne Stimmen und ohne Geräusche. Ich fühlte, dass um mich herum keine lebende Seele war, nicht einmal eine Schlange oder ein Regenwurm, was immerhin besser gewesen wäre als gar nichts. Da war nur ich, ich allein, inmitten eines stillen Nichts, einer absoluten Leere.

Weißes Rauschen. Raum ohne Zeit. Sinnlos, zu schreien oder zu rufen. Sinnlos, auf irgendwelche Hilfe zu hoffen.

Sinnlos, ihre Namen zu nennen.

Mama. Papa. Oma. Opa. Freunde. Alle waren sie eingesaugt worden in den Nullzustand der Dinge.

Es gab nur ein einziges Gegenmittel, dachte ich, eine einzige, perfekte Lösung: ein Geschwisterchen.

Ich weiß nicht, warum, aber ich war mir sicher, dass ein Bruder nie verschwinden würde, nicht einmal in dieser Blase eisigen Nichts, die die ganze Welt verschlucken konnte wie eine Kobra ein Küken. Zu zweit ist man stärker als die Dunkelheit, stärker sogar als der Nullzustand der Dinge.

 

Und endlich kam der Tag. Er schien wie alle anderen Tage zu sein. Milch mit Keksen zum Frühstück, mit Opa in den Kindergarten, unser Eis auf dem Nachhauseweg.

Aber an jenem Abend, als ich wie immer frage: »Wann kriege

»Es ist schon unterwegs. Und es hat eine gute Reise.«

»Wo?!« Ich springe hoch wie eine Sprungfeder.

Ich weiß nicht, ob es einen Grund dafür gab, aber als ich klein war, war Wo? mein ewiges Mantra.

Sogar mehr als Warum.

Mama nimmt meine Hand und legt sie auf ihren Bauch.

»Hier«, antwortet sie. Sie ist glücklich. Das versteht sogar ein Kind.

»Und wann kommt es?«, frage ich weiter.

»Es kommt vor dem Sommer auf die Welt.«

Unter meiner Hand fühlt sich die Haut auf dem Bauch meiner Mutter lauwarm, weich und gespannt an.

Ich finde, dass das ein guter Ort zum Reisen ist.

Es ist Herbst. Ich bin fast fünf Jahre alt. Der Sommer ist weit weg. Die Reise meines Geschwisterchens scheint mir noch sehr lange zu dauern.

Dabei war sie da schon fast zu Ende, auch wenn das noch keiner wusste.

 

Als Mama aus dem Krankenhaus kam, war sie viel dünner als vorher, und Papa erklärte mir, dass Reisen manchmal zu unbekannten Zielen führen, unerwarteten, weit entfernten. Er erzählte von mysteriösen Orten, an denen die Menschen weiterleben, die wir geliebt haben, aber nur, solange wir uns an sie erinnern. Nur solange wir sie bei uns behalten, warm und sicher in unseren Herzen. Er benutzte schwierige Wörter und Bilder von Musik und Licht.

Vielleicht fand er keine anderen.

Vielleicht wollte er, dass ich mich bemühte, in seiner Stimme zu lesen, unter all den Verben und Adjektiven zu graben, um bis

Und vielleicht habe ich es in jenem Moment verstanden: Wahrheiten, die wehtun, müssen besondere Namen tragen.

Dafür braucht man Medizinwörter.

Oder Muschelwörter, die leise klingen wie die Stimme des Meeres, sodass du sehr aufmerksam sein musst, um sie zu hören, um zu verstehen, was sie sagen, und dass sie es genau dir sagen wollen.

Und Klebewörter. Das sind vielleicht die wichtigsten, denn sie halten deine Einzelteile zusammen. Dein Herz, deinen Kopf, die Hände. Die Stimme, die irgendwohin verschwunden ist, die Gedanken, die sich aufführen wie im Krieg. Sogar die Wut, die in mir hochsteigt und die in diesem Moment, während ich mein Zimmer anstarre, Mauern niederbrennen könnte wie der feuerspeiende Glurak.

Damals, vor zehn Jahren, hielten die Worte, die mein Vater für mich fand, Weihnachten zusammen wie ein Sekundenkleber mit Superkräften.

Sie klebten Schweigen und Erklärungen zusammen, die Traurigkeit, die über uns allen schwebte, den versteckten Schmerz und sein Gift und auch den Teddybären in seiner Geschenkverpackung und die PlayStation daneben, die pünktlich zur Bescherung unter dem kugelbehangenen Weihnachtsbaum aufgetaucht waren.

»Und sobald es Mama besser geht, machen wir alle zusammen eine schöne Reise.«

»Werden wir dann auch neue Tiere sehen?«

Wenn es schon mit dem Geschwisterchen nichts wurde, war ich bereit, an diesem seltsamen Weihnachten wenigstens Tiere als Plan B zu akzeptieren.

»Natürlich«, versicherte mein Vater.

»Elefanten? Giraffen?«

»Vielleicht.«

GEOmini lieferte massenhaft Anregungen für fünfjährige Nervensägen mit einer Vorliebe für seltene Tierarten.

Mein Vater verlor nicht die Geduld.

Jede Frage entlockte ihm ein weiteres Ja.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Ich bin nicht mehr fünf Jahre alt.

Dieses reichlich verspätete Geschwisterchen kommt auf die falsche Weise. Und zum falschen Zeitpunkt.

Und vor allem wird dieses Geschwisterchen von der falschen Frau geboren werden.

Ich trete nach einem einzeln herumliegenden Socken, der traurig auf den Schreibtisch segelt.

Meine Mutter erscheint in der Tür, lehnt sich an den Rahmen und sieht mich an.

»Mattia …«

»Ich muss in die Schule zurück.«

»Hör mal, Mattia …«

»Ich muss in die Schule zurück.«

»Hörst du mir zu?«

Auf keinen Fall.

»Schaust du mich mal an?«

Bin ja nicht verrückt. Ich könnte beim ersten Blickkontakt anfangen zu heulen. Oder zu schreien.

»Können wir einen Moment sprechen?«

»Nein.«

»Aber vielleicht …«

»Nein.«

»… vielleicht tut es gut, darüber zu reden.«

»Nein.«

»Vielleicht ist es besser, du gehst heute nicht in die Schule und wir beide …«

»Erinnerst du dich an andere Worte, außer Nein?«

Da bleibe ich stehen. Sehe sie an. Sage es ihr auch mit den Augen. Sage es ihr mit dem ganzen Körper, mit dem Fuß, der anfängt, die struppigen Teppichfransen zu verwüsten.

Ich sage es ihr leise, ganz leise, als ich an ihr vorübergehe.

Aber ich sage es deutlich.

»Du kannst mich mal.«

Manche Worte wirken noch lauter, wenn man es schafft, sie leise zu sagen, so als würde man sie einem Schweigen entreißen, das darum kämpft, sie nicht loszulassen.

Sie schlägt mit den Wimpern. Ich sehe, wie sie blass wird. Das habe ich noch nie zu ihr gesagt.

Ich ziehe den Parka an und nehme den Rucksack. Sie stellt sich mir in den Weg. Dann gibt sie auf und lässt mich vorbei.

 

Das Leben ist voller Zeichen, hat mein Opa einmal gesagt. Du musst nur lernen, sie zu sehen.

Ich muss einiges dafür getan haben, alle Zeichen zu übersehen.

Dabei sprachen die Zeichen zu mir, laut und deutlich, ich habe nur nicht auf sie geachtet.

Meine Mutter, die zerstreut und still wurde. Mein Vater, der nie zu Hause war, so viele Verpflichtungen und Sitzungen, die immer mehr zu werden schienen. Keine Pläne für den Familienurlaub und kaum Reaktionen auf meine Noten, nicht mal, wenn sie eher schlecht waren.

Plötzlich ploppen meine eigenen Worte vor mir auf.

Worte, die ich erst heute Morgen von mir gegeben habe, als wäre es Jahrhunderte her.

Scheidung ist doch keine Tragödie.

Stimmt. Stimmt total, Mattia. Aber nur, wenn es dich nicht selbst betrifft.

Noch vor dem Ende der ersten Strophe bin ich endlich draußen.

Gegen meinen Rücken drückt Opa Arturos Erbe. Ich habe es ganz unten in den Rucksack gestopft, und nun schlägt es mit einem metallischen Kling-Klang gegen irgendetwas. Es ist schwer. Absurd und sperrig. Aber vielleicht kann es mir helfen.

Vielleicht, mit ein bisschen Glück, wird es zu meiner Geheimwaffe.

Wie ging dieser Satz von Opa, den er so gern zitierte?

Logik bringt dich von A nach B. Fantasie überallhin.

Ich muss das glauben, Opa. Jetzt mehr denn je.