Ich fliege die Bahnüberführung hinab. Umdribble die Autos an der Ampel und starte den Düsenantrieb, wenn sie losfahren.

Während ich trete, weiß ich eines ganz genau, und ich sage es mir innerlich vor wie ein Mantra.

Heute gehe ich nicht nach Hause.

Heute gehe ich nicht nach Hause.

Heute gehe ich nicht nach Hause.

 

Ich gebe Gummi, halte, starte wieder. Die Abfahrt liegt in Rekordtempo hinter mir, nun lege ich mich wie ein Champion in die Kurve zur Ringstraße.

Mein Rad saust dahin, haarscharf vorbei an Rollern auf der einen und erschrockenen Passanten auf der anderen Seite, rauf und runter vom Gehweg.

Diesmal habe ich keinen Helm aufgesetzt. Vielleicht ist das der erste Schritt meiner persönlichen Rebellion.

Zum Glück regnet es nicht mehr. Aber der Asphalt glänzt vor Nässe. Da und dort macht eine Schicht nasses Laub die Straße glitschig und stellt tückische Fallen. Ich weiche Wurzeln aus, die sich durch den Gehweg gebohrt haben, oder überwinde sie mit einem Hüpfer, der meinen Magen hochschleudert. Giulio, der Cyclocross macht, nennt so was einen Bunny Hop.

Das Beste an der Geschwindigkeit ist, dass von den 300 Gramm deines Herzens kein einziges mehr etwas anderes fühlen kann als diese wilde Erregung.

Kein Platz für andere Emotionen. Keine Wut, keine Traurigkeit, kein Groll.

Zwei Zentimeter vor der Wand komme ich zum Stehen. Obwohl die Luft eisig ist, bin ich total verschwitzt. Ich stelle das Fahrrad zwischen die anderen in den Ständer und schließe es ordentlich ab.

Heute Nachmittag haben wir Sport. Sprint zur Halle. Die anderen sind schon dort. Weiter zur Umkleide.

Abgesehen von den Klotüren zählen die Umkleideräume zu den ehrlichsten Orten einer Schule.

Es gibt nichts, was so sehr nach Beschriftung schreit wie die wenigen freien Stellen an den Wänden einer Klokabine oder den Türen muffiger Spinde mit schweißtriefenden Trikots und Sportschuhen, die nach Marathonfüßen stinken.

Hier ist alles vollgeschrieben, hier steht, was man sagt, wenn keiner zuhören will, es aber dringend rausmuss. Hier steht, wer wir sind, wenn wir einen Stift in die Hand nehmen, um uns der Leere anzuvertrauen.

Und wir können wirklich alles sein, wenn wir uns die Freiheit nehmen, Wände zu beschreiben: Engel, Arschlöcher, Chaoten. Stinksauer und unsterblich verliebt. Manchmal Monster, manchmal Dichter.

Ich überfliege die Sprüche mit den Augen, erst die Spindtüren, dann die Mauerecke. Heute fühle ich mich besonders qualifiziert, einen Blick in die Köpfe der Leute zu werfen. Zu verstehen, was sie denken, was sie fühlen. Was sie rauslassen müssen.

Zum Beispiel die geballte Traurigkeit und Enttäuschung in diesen Sätzen:

Du hast dein Bestes gegeben, aber du hast es gleich wieder mitgenommen.

Alles, was ich liebe, ist illegal oder geht nicht ans Telefon.

Nicht einmal Schokocroissants lächeln mehr für mich.

Ich liebe dich schon immer, aber du bist mein Nie.

Du verhältst dich zur Liebe wie ich zum Schulschwimmen, dritte Klasse.

Kein »ich liebe dich« ist so gut wie »hast du abgenommen?«.

Oder die großen Fragen des Lebens.

Verbote erzeugen Wünsche, Wünsche erzeugen Verbote.

Ich liebe das Leben, aber ich weiß nicht, ob es mich zurückliebt.

Die schlechteste Gewöhnung ist die ans Unglück.

Manchmal gibt es auch Dialoge. Aufschlag und Return, Satz und Sieg.

In Indien wärst du heilig.

In Indien wärst du ein Idiot. In Italien auch.

Okay, nicht gerade die Dialoge von Sokrates oder Platon, aber Kleinlichkeit ist keine Tugend.

Ich schlüpfe in Hose und Trikot und gehe in die Halle zu meiner Klasse.

»Guten Tag, Prof«, grüße ich Zaccuri, genannt Zak, unseren Sportlehrer.

»Marchior, bleib erst mal auf der Bank.«

Was für eine Überraschung.

Die Sportlehrer sind am entspanntesten von allen, was die Anwesenheitskontrolle betrifft, und eindeutig am wenigsten besessen von einem Grundprinzip der Schule: alle gleich viel arbeiten zu lassen.

Es wird Volleyball gespielt.

Als Ersatz am Spielfeldrand zu sitzen, hat außerdem einen unleugbaren Vorteil: Ich kann Sofia beim Spielen zusehen.

Sofia spielt gut – sehr gut –, aber das ist für mich Nebensache.

Ihre Rolle ist die der Zuspielerin. Sie ist der Motor des Spiels, sie entscheidet über Aktionen und spielt den anderen den Ball so zu, dass sie Punkte erzielen können. Und wer den Punkt macht, wird gefeiert.

Angreifer müssen bissig sein, Verteidiger schnell, Zuspieler altruistisch und großzügig.

Zak hat einmal erklärt, dass es zwei Arten von Zuspielern gibt: die mit dem angeborenen Ballgefühl und die mit einem aufgebauten Ballgefühl, das man nur durch ewiges Trainieren und Schwitzen erwerben kann. Die einen verlassen sich auf ihren Instinkt, die anderen auf Technik und Disziplin.

Nach dem, was ich davon verstehe, ist Sofia eine geborene Zuspielerin. Sie ist nicht groß, also muss sie beim Aufschlag hochspringen. Und wenn sie schmettert, setzt sie nicht auf Kraft. Sie punktet eher mit Kreativität.

Heute trägt sie ein hellblaues Trikot und schwarze Knieschützer und Shorts.

Sofia hat perfekte Beine. Auch der Rest ist gar nicht übel. Den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen auf den Knien, verpasse ich keine ihrer Bewegungen, während ihr Pferdeschwanz im Rhythmus des Spiels und meiner Gedanken mitschwingt. Aber da meine Gedanken traurig sind und die Signale meines Magens immer fieser, versuche ich, mich aufs Spiel zu konzentrieren.

 

Nach zwei vergebenen Matchbällen gehört der erste Satz den Gegnern.

Im zweiten die Wende: Nach zwei aufeinanderfolgenden Assen ist Sofias Mannschaft plötzlich im Vorteil.

Im dritten Satz kommt die Revanche: Die anderen holen mit Schmetterbällen am Netz brillant auf. Triumphgeschrei, aufgeheiztes Klima.

Im vierten Satz sieht es wieder gut aus! Das Spiel dreht sich noch einmal. Sofias Mannschaft gewinnt!

Sie und die anderen sind schon im siebten Himmel. Doch dann geht der Ball an Amadi, und Amadi macht einen Fehler. Einen dummen Netzfehler, der sie den Punkt kostet. Und den Sieg. Vom siebten Himmel zum Wutgeschrei in einem Sekundenbruchteil Pech.

Die ganze Mannschaft heult auf. Und Amadi ist am Boden zerstört.

»Es tut mir leid …«, sagt sie mit hängendem Kopf, »ich weiß echt nicht, wie das passieren konnte …«

Amadi ist erst letztes Jahr aus Nigeria gekommen, aber sie spricht schon sehr gut Italienisch.

Sofia lässt sie gar nicht ausreden. Sie geht zu ihr hin und streicht ihr über die Schulter. »He, das passiert …«, lächelt sie, »nächstes Mal zerreißen wir sie.«

Auch das gefällt mir an Sofia.

Im Sport ist sie total im Teammodus und geht ganz darin auf, aber im Alltag denkt sie nur mit einem Kopf. Ihrem eigenen nämlich.

Jetzt fühlt sie sich anscheinend beobachtet, denn plötzlich dreht sie sich um, und ihr Blick kreuzt den meinen. Ich weiche ihren Augen sofort aus und tue so, als würde ich nach oben schauen,

Damit ist es offiziell: Ich bin ein Idiot.

Auch mein Magen hat sich entschieden. Kein Zweifel mehr. Nicht mehr Krampf oder Brennen, wie vorhin.

Jetzt krampft und brennt er.

»He, geht’s dir schlecht?«, fragt Giulio und stößt mich in die Rippen. »Dein Gesicht ist grüner als das von Shrek!«

Genau in dem Moment stehe ich auf. Renne raus in den Korridor. Erste Tür rechts, Toiletten.

Ich schaffe es rechtzeitig zu einem Klo und kotze das ganze Mittagessen hinein.

Klopapier ist in der Schule immer Glückssache. Und Glück ist heute ein abstrakter Begriff.

Seit wann war mir nicht mehr so schlecht?

Neben dem Spülknopf hängt ein Zettel: DIESER KNOPF LÖST KEINE ATOMSCHLÄGE AUS. BITTE BENUTZEN!!!

Ich drücke den Knopf, schließe die Tür, gehe zum ersten Waschbecken und trinke am Hahn einen langen Schluck Wasser.

Zum Glück bin ich allein. Zum Glück ist da niemand, der mich in diesem Zust—

 

Ein Kopf schaut um die Ecke. Dann die Stimme. »Mattia?«

Ist nicht wahr, Leute. Habe ich Saturn gegen mich? Jupiter in Opposition? Zwanzig schwarze Katzen, die meinen Weg gekreuzt haben?

»Ciao, Sofia …«

»Giulio sagt, dir geht es nicht gut.«

»Ja, also … mir ging’s echt schon besser. Aber keine Sorge. Es ist nur … ein ziemlich schlimmer Tag.«

»Das sieht man.«

»Aber es wird schon wieder.«

»Na ja, im Moment fühle ich mich … gelöst.«

»Gelöst? Du bist doch kein Problem!«

»Du kannst mir glauben: bin ich doch.«

Plötzlich ist da so ein seltsames Jucken in meiner Nase. Und meine Augen beginnen zu brennen. Nein, ich werde nicht weinen. Nicht hier. Nicht vor Sofia.

»Wie läuft das Spiel?«

»Verloren. Aber mit Würde.«

»Du spielst gut.«

Ich habe es gesagt. Zumindest etwas. Sie zuckt mit den Schultern.

»Das ist nicht schwer. Es ist nur ein Spiel.«

»Mag sein, aber ich spiele grottig.«

»Du kannst halt andere Dinge.«

Ich sehe sie an wie der Leibeigene seine Schlossherrin.

Zum Beispiel? Bettelt mein Blick. Und Sofia kann Gedanken lesen.

»Zum Beispiel kannst du göttlich schreiben.«

Das stimmt nicht, aber ich bin ihr dankbar. Diesmal zucke ich mit den Schultern.

»Es sind ja nur Worte.«

Ich hätte sie lieber mit umwerfender Schönheit oder unwiderstehlichem Charisma beeindruckt, aber du kannst nicht immer alles haben, vor allem, wenn du gerade gekotzt hast und deine Ausstrahlung nicht ganz auf der Höhe ist.

Deshalb legen jetzt trotzdem in einem geheimnisvollen Winkel meines Kopfes oder vielleicht meines Herzens (oder meines Kopfes und meines Herzens) alle meine Lieblingsbands zusammen los, um mich zu feiern.

Als Sofia gegangen ist, entdecke ich noch genau eine freie Ecke an der Tür. Oben links, Richtung Wand.

HÖRE, WIE SCHNELL MIR DEIN HERZ SCHLÄGT.

Ich weiß nicht mehr, wer das geschrieben hat, aber das macht nichts.

Es fühlt sich an wie für mich geschrieben.