Die Polizisten sind zu fünft.

Das gelbe Licht ihrer Taschenlampen kommt näher und stellt uns. Ich werde geblendet.

Mein Herz galoppiert wie wild.

Ihre Hunde ziehen an den Leinen.

Plötzlich wird eine Leine gelöst, eine Stimme bellt einen Befehl, ein Hund schnellt nach vorne.

Mein Kopf befiehlt RENN WEG!.

Oder vielleicht ist es nicht mein Kopf. Vielleicht kommt diese Stimme von weit her.

Aber meine Füße gehorchen der Stimme nicht.

Oder es ist mein Körper, der den Füßen nicht gehorcht.

So bleibe ich reglos stehen, schon ergeben und vor Angst erstarrt wie eine Frucht, die der Frost überrascht hat.

 

Panik hat einen metallischen Geschmack. Seit jener Nacht kenne ich ihn gut.

Das Knurren des Hundes ist ganz nah, es füllt seinen Rachen und seinen Hals.

Er hat die spitzen Ohren aufgestellt und fixiert mich mit erhobenem Schwanz.

Seine Augen durchbohren die Luft. Er ist wieder das wilde Tier, das er in der Frühzeit der Menschheit war.

Jeder Muskel in seinem starren, angespannten Körper ist bereit anzugreifen.

Aber meine Füße sind wie angenagelt, denn vor mir steht noch ein anderer Hund.

Dann ein knapper Befehl, mit harter Stimme. Der Hund bleibt vor mir stehen.

Meine Hände zittern weiter.

Sei wie ein Fluss an Großzügigkeit und Hilfe.

Sei wie die Sonne voll Erbarmen und Güte.

Sei wie die Nacht im Zudecken menschlicher Fehler.

Sei wie tot, wenn Wut und Raserei aufsteigen.

Ich sage es nur für mich auf. Ganz leise, lautlos.

Oma liebte dieses Gedicht. Sie liebte Rumis Verse. Sie liebte es, von ihm zu erzählen.

Als Rumi starb, vor vielen Jahrhunderten, kamen Tausende von Menschen zusammen. Sie bildeten einen riesengroßen Trauerzug, eine einzige trauernde Menschenkette.

Sie waren Moslems, Juden, Christen. Aus Griechenland und Persien und vielen anderen weit entfernten Ländern, alle an einem Ort zusammengekommen, um einen Dichter zu ehren. Viele Stunden lang, erzählte Oma, waren sich diese Menschen nah, überwanden alle Differenzen, teilten denselben Schmerz in ihrer Erinnerung an einen großen, gütigen Mann.

Die wahre Distanz zwischen Menschen hat nichts mit Geografie zu tun. Sondern nur mit dem Kopf und dem Herzen. Das sagte meine Oma.

Dieses Gedicht handelt von der Nacht. Der Erde, der Sonne, einem Fluss. Vom Tod und vom Leben.

Deshalb sage ich es jetzt für mich auf. Es erinnert mich daran, dass eine andere Welt existiert, vor und nach dieser Grenze.

Ganz in der Nähe und weit entfernt von diesem Zaun, diesen Polizisten, ihren bösen Hunden.

Sei wie der Erdboden in Bescheidenheit und Genügsamkeit.

Papa und Onkel Ahmad liegen auf dem Bauch, Gesicht zur Erde, Arme an den Rücken gedrückt.

Dann dreht Papa den Kopf, schaut mich an. Er versucht eine Art Lächeln, und obwohl ich weinen muss, versuche auch ich, ihm zuzulächeln.

Ein kräftiger Polizist tastet ihn nun überall ab, als wollte er kontrollieren, dass unter Kleidung und Haut alles in Ordnung ist bei Papa: Lunge, Magen, Herz.

Ein anderer Polizist macht, etwas weiter drüben, dasselbe mit Onkel Ahmads Körper.

Die anderen drei Polizisten stehen da und halten ihre Waffen auf die beiden gerichtet.

Schließlich leeren sie die Taschen von Papa und Onkel Ahmad. Mobiltelefon. Brieftasche. Und die Dokumente in der Brieftasche: unter all den Dingen das Wertvollste.

Zeige dich, wie du bist, sei, wie du dich zeigst.

Das ist der letzte von Rumis Versen, der letzte Vers dieses Gedichts.

Und ich denke, dass es schön wäre, so leben zu können.

Leben, ohne sich zu verstecken, leben, ohne davonzulaufen. Ganz transparent. Ganz einfach.

Dann fühle ich um meinen Arm den festen Griff eines Polizisten.

Und ich gehe, wohin die Hand mich befiehlt.