»Wer war das denn?«, fragt Amadi.

Sie wirkt eindeutig ein wenig verwirrt. Halb traurig und halb amüsiert. Halb beleidigt und halb elektrisiert. Zu viele Hälften, die Rechnung geht nicht auf.

Aber Bruchrechnung ist gerade das geringste meiner Probleme.

Wir setzen uns an einen Tisch. Amadi will nichts trinken, ich bestelle eine heiße Schokolade.

Ich puste, um sie ein wenig abzukühlen, und denke über die Szene auf dem Parkplatz nach.

Über Pierantonio, den Bully, weiß ich wenig. Ich weiß, dass er der große Bruder von Melissa ist. Dass der Vater der beiden Anwalt ist, einer der bekanntesten der Stadt. Dass er mal auf meiner Schule war, aber nach dem dritten Mal Sitzenbleiben von Papa an einem schönen Privatgymnasium angemeldet wurde, wo man auf das übliche Wunder spezialisiert ist: drei Jahre auf wenige Monate zu komprimieren und aus dem Strohkopf feinstes Gold zu spinnen. Ich weiß außerdem, dass er als Rausschmeißer in einem Club in Lignano arbeitet, so kann er sich vom Lernen entspannen.

In seiner Rolle als Rausschmeißer läuft er zur Höchstform auf. Vor allem, wenn er getrunken hat, oder wenn er einer Frau imponieren will. Ich habe ihn einmal live in Aktion erlebt. Es war mein Geburtstag, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich in einem Club gefeiert. Der Abend war schön, aber die Erinnerung, in der Pierantonio vorkommt, habe ich versucht zu vergessen, denn er hat einen Jungen halb umgebracht.

Ich schaue Amadi an. Wenn ich ihr das erzähle, erschrecke ich sie noch mehr.

»Melissa?«

»Melissa. Dasselbe Kaliber.«

»Dasselbe …?«, fragt sie mit erstauntem Blick.

»Ich wollte sagen: Sie ähneln sich, die beiden. Aber er ist der größere Idiot, weil er mindestens fünf Jahre älter ist.«

Sie schaut mich an. »Ich komme nicht aus Lagos.«

»Ich weiß.«

»Ich komme aus Kano.«

Stille. Kano sagt mir gar nichts. Dorf, Stadt, Metropole? Könnte für mich auch auf dem Mars liegen. Noch ein Schluck Schokolade.

»Zwei Millionen Einwohner. Vielleicht auch mehr«, sagt Amadi hilfsbereit.

»Auch Kano ist kein Dorf«, sage ich.

»Auch Kano ist kein Dorf«, sagt sie.

»Jetzt bin ich dran. Mein Vater hat keinen BMW. Und er holt mich auch nicht von der Schule ab.«

Amadi sieht mich an und lächelt. »Danke für vorhin.«

»Hat Spaß gemacht«, lüge ich. »Mach dir nicht zu viele Gedanken über diese Geschichte. Die beiden kann keiner leiden.«

Was das betrifft, na ja, ich würde nicht darauf schwören. Aber jetzt, während ich mit Amadi spreche, scheint es mir das Richtige, um sie noch einmal zu beruhigen.

Sie schiebt den Stuhl zurück, steht auf. »Es ist echt spät. Ich muss gehen.«

Sie winkt ein Ciao und geht los. Dann überlegt sie es sich noch mal und kommt zurück. »Manchmal reicht … wenig«, sagt sie langsam.

»Reicht wenig wofür?«

Dann ist sie auch schon draußen.

Und ich denke darüber nach: freundlich. Ein unterschätztes Wort.

Unter Leuten in meinem Alter sagt das fast keiner mehr.

Vielleicht hatte auch ich ein Mädchen nötig, das von woanders herkommt, um es mir in Erinnerung zu rufen.

 

Ich sehe mich um. Es ist eine kleine Bar. Ein Pärchen futtert Knabberzeug, während es tief versunken miteinander spricht. Einige Typen stehen mit Weingläsern am Tresen und genießen ihren Aperitivo. Eine Gruppe von Studenten feiert einen frischgebackenen Master. Sie haben ihm eine Art römische Toga und einen Lorbeerkranz umgehängt und singen die übliche Hymne, die die Wände zum Weinen bringen könnte.

Ich habe mich noch nie so allein gefühlt wie in dieser vollen kleinen Bar.

Die Schokolade ist ausgetrunken, der weiche, süße Geschmack ist längst vergangen.

 

Ich bin fünfzehn Jahre und zwei Monate alt.

In fünfzehn Jahren und zwei Monaten habe ich drei verschiedene Schulen besucht und drei Englisch-Camps im Sommer.

Ich habe vier Sportarten betrieben: Ski fahren, Schwimmen und Fußball aus Leidenschaft; Leichtathletik aus Pflichtbewusstsein, halb gezwungen von einem Prof.

In fünfzehn Jahren und zwei Monaten habe ich mich zwei Mal verliebt. Das erste Mal, in der dritten Klasse, endete mit einer nach mir geschleuderten Eiswaffel. Das zweite Mal dauert jetzt schon mehr als ein Jahr, und ich weiß noch nicht, wie es enden wird.

In fünfzehn Jahren und zwei Monaten habe ich mir unzählige Beulen geholt, aber nur vier echte Narben, die mir wie Tattoos als

In fünfzehn Jahren und zwei Monaten habe ich nur zwei echte Freunde gehabt und mindestens acht oder neun Pseudofreunde, die mich enttäuscht haben. Aber vielleicht habe auch ich sie enttäuscht.

Ich habe mich geliebt gefühlt (immer), unterstützt (ziemlich oft), verarscht (zwischen oft und zu oft), beneidet (vielleicht nur mein Eindruck).

Ich habe sechs Hauptstädte gesehen: Rom, London, Berlin, Wien, Paris und Madrid.

Und schließlich habe ich zwei oder drei Sachen gelernt.

Dass Solidarität einen mit anderen verbindet wie eine Seilschaft beim Bergsteigen. Dass das Einmaleins des Schmerzes mit zunehmendem Alter immer komplizierter wird. Dass Angst und Mut zusammengehören wie ewige Sitznachbarn, die sich blind verstehen. Dass man sich nicht an den Überresten einer Party bedienen sollte, denn wenn sie keiner wollte, hatte das meist einen Grund.

 

Daran denke ich, während ich die steinalten Erdnüsse in einem bestimmten Schüsselchen fixiere.

Das Schüsselchen steht auf dem Tresen.

Bis dorthin sind es vier Tische.

Aber ich rühre mich nicht. Ich bleibe hier.

Ich fühle mich leer, ohne jede Energie, so weit weg von allem, dass die Welt zur abstrakten Idee wird. Es ist eine Art Mix aus Wut und Nostalgie, Einsamkeit und Traurigkeit, Müdigkeit und Groll. Ein ganz neues Gefühl.

Ich ignoriere die Anrufe meiner Mutter.

Ich tippe nur eine Nachricht.

Dieser Abend ist anders als alle anderen.

Heute gehe ich nicht nach Hause.