Ein Zuhause ist etwas, das dir schrecklich fehlt, wenn du kein Zuhause mehr hast.

Aber in manchen Momenten fehlt es dir sogar noch mehr.

Es fehlt noch mehr, wenn es regnet.

Wenn die Kälte durch deine Kleider dringt und bis auf die Knochen schmerzt.

Wenn du dich gern irgendwo waschen würdest, wo du alleine bist, um dich überall einzuseifen, ohne Angst, dass jemand glotzt. Ohne Schlange stehen zu müssen, ohne Eile.

Wenn du schlafen möchtest, ohne andere Menschen reden oder husten oder herumgehen zu hören.

Oder wenn du einfach mitgenommen wirst, nur weil du kein Zuhause mehr hast.

Ich weiß nicht, wo sie uns jetzt hinbringen.

Mein Blick kreuzt den von Papa, der ich weiß es auch nicht sagt.

Bevor ich in das Auto steige, lese ich die blau geschriebenen Namen an der Seite.

RENDORSEG.

Darunter noch ein Schriftzug, auch blau.

BORDER POLICE.

Das Auto ist weiß und sauber. Es riecht nach Zigarettenrauch und Schweiß.

Das Blaulicht auf dem Autodach ist jetzt an, die Sirene heult.

Ein Polizist hat Onkel Ahmad hineingestoßen, ein anderer Papa.

Ich habe mich zwischen die beiden gesetzt.

Ganz hinten, abgetrennt durch ein Metallgitter, haben sie die

Das Auto fährt los und rüttelt über Schlaglöcher davon.

Papa nimmt nun eine meiner Hände und drückt sie fest in seiner.

Seine Hände sind feucht und kalt. Die von Mama waren lauwarm und trocken. Und sie hielten nie still.

Der Schlaf lässt meine Lider herabsinken.

Ich lehne den Kopf an eine Schulter, ich weiß gar nicht, ob Papas oder Onkel Ahmads, dann lasse ich mich wegtreiben.

Der Klang der Sirenen entfernt sich weiter und weiter, er verwandelt sich in etwas Staubiges.

Und plötzlich ist da das Geräusch galoppierender Pferde auf festgetretener Erde.

 

Die Sonne brennt auf die Erde herab.

Der Chapandaz sitzt auf seinem Pferd. Er ist ein stolzer einsamer Reiter. Wie die anderen Reiter trägt er hohe Stiefel, eine weiche Fellmütze, einen gesteppten Rock und lederne Handschuhe.

In einer Hand hält er seine Reitgerte.

Die anderen Reiter um ihn herum halten die Zügel straff und pressen die Stiefel in die Flanken ihrer Pferde, die mit farbigen Bändern geschmückt sind. Sie erwarten ungeduldig den Beginn des Buzkashi.

Ein Pferd beginnt zu scheuen, andere stampfen mit den Hufen und zerren am Zaumzeug, während ihnen Schaum vor dem offenen Maul steht.

Am Rand des Spielfelds sitzen zwei Männer auf dem Boden und schlagen die Trommeln.

Ein alter Mann spielt die Rubab.

Die Musik wird immer lauter, der Rhythmus schneller.

In der Mitte des Spielfelds gießt ein junger Mann mit Turban

Den abgeschnittenen Kopf schleudert er in ein Dornengebüsch, das Blut hinterlässt eine lange dunkle Spur.

Der tote Körper der Ziege bleibt in der Mitte des Kalkkreises liegen.

Damit ist das Ritual vollendet.

Erst jetzt kann das Spiel beginnen.

Die versammelte Menschenmenge jubelt. Die Leute sind unruhig und drängeln, steigen sich gegenseitig auf die Füße, rufen die Namen der Pferde und der Reiter: tun alles, um die Chapandaz anzufeuern.

Ich klettere auf die hohen Äste eines Baums, um das Spiel sehen zu können. Andere Kinder tun dasselbe.

Nun stürmen die Chapandaz im Galopp auf den kleinen Kalkkreis mit dem toten Körper der Ziege zu. Die Ziege ist die Trophäe, die es zu erobern gilt.

 

Ich weiß genau: In diesem Spiel ist jeder allein. Jeder kämpft gegen jeden. Jeder kämpft allein für sich. Ohne Regeln außer der, schnell zu sein und jeden zu schlagen, der zwischen dir und dem Sieg steht.

Erwartung. Erregung. Peitschenhiebe auf die Körper der Pferde. Stürze zwischen ihre trommelnden Hufe. Stolpern über die gefallenen Leiber. Tumult, Schreie, Furor. Und Blut, Schweiß, Wiehern.

Der Wind wirbelt den Staub auf. Die Sonne steht hoch, hart und stechend. Mein Baum bebt, der Himmel bebt.

Und endlich gelingt es einem Chapandaz, den Kadaver der Ziege zu ergreifen.

Und mit hoch erhobenem Arm, den Ziegenkadaver fest im anderen, vollendet er die Runde um den Pfahl und erreicht im Galopp das Ziel.

Nun explodiert ein wildes Getöse.

Die Menge rennt auf den Chapandaz zu und umringt ihn. Sie wollen ihn auf ihren Schultern tragen. Rundherum schlagen weiter wild die Trommeln.

Auch ich renne. Auch ich bin glücklich. Auch ich will ihm sagen, dass er der Beste ist.

Ich bahne mir meinen Weg durch die Großen. Ich winde mich zwischen Beinen und Armen und Rücken hindurch. Endlich bin ich in seiner Nähe.

Erst da bemerke ich es.

In den Händen des Chapandaz liegt nicht mehr der Kadaver der Ziege, sondern die Kapuzenjacke von Papa.

Die Kapuzenjacke, die ihm Mama vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat.

Die Kapuzenjacke, die er trägt, seit wir losgegangen sind.

 

Mit einem Schrei wache ich auf.

Ein Polizist dreht sich um und brüllt mir Worte zu, die ich nicht verstehe.

Ich habe noch die Pferde vor Augen, den Galopp in den Ohren.

Und in meiner Erinnerung, weiß wie Schnee, das afghanische Buzkashi.

Das Auto bremst plötzlich, bleibt stehen.

Mein Kopf schlägt hart gegen den Sitz.

Ich berühre Papas Kapuzenjacke.

Und die Welt ist wieder die wirkliche Welt.