Ich heiße Aziz, ich bin müde und erschöpft.
Aber ich gehe weiter, denn ich habe starke und gute Füße.
Die Kraft kommt von unten.
Das Wichtigste sind die Füße.
Ich erinnere mich nicht mehr an die Namen all der Grenzen, die wir überquert haben, seit wir aus Kabul fortgegangen sind.
Aber an viele Bilder erinnere ich mich.
Ein Pferd mit kurzem schwarzem Fell, das den Kopf hob und uns anblickte, auf dem Weg nach Iran.
Ich hätte es gern gestreichelt, aber Papa sagte mit einem Blick Nein.
Ein alter Kurde, der mir Wasser, Joghurt und einen Granatapfel anbot, auf dem Weg in die Türkei.
Und Papa sagte mit dem Blick Ja.
Die schneebedeckten Berge und der eiskalt pfeifende Wind, der die Haare eines Mädchens im roten Anorak fliegen ließ, auf dem Weg nach Sofia.
Und die leichten Rauchwolken meines Atems, wenn ich inmitten der anderen in meinem Schlafsack zu schlafen versuchte, im alten Bahnhof von Belgrad, wo wir zwei Monate lang gelebt haben. Bis zu dieser Nacht im Februar. Bis vor ganz wenigen Stunden.
Aber jetzt zählt nur diese Straße.
Es zählt nur diese neue Grenze, die wir noch überqueren müssen: ein Hindernis aus Stacheldraht, eine Mauer zwischen Serbien und Ungarn. Und die Kälte, die sich in meinen Schuhen breitmacht, bis unter die Nägel vordringt.
Nur die Schritte zählen, nur die Füße.
Und in den Füßen die Kraft weiterzugehen.
Wir sind nachts losgegangen. Ich. Mein Vater. Mein Onkel Ahmad.
Als alle schliefen.
Als ich den Pullover überzog, sprach einer im Schlaf, in irgendeiner pechschwarzen Ecke zwischen Wänden, Schlafsäcken und Finsternis. Aber ich habe die Worte nicht verstanden.
Es sind nutzlose, verbrauchte Worte, wie die tote Haut der Schlangen.
Worte, denen niemand zuhört. Worte, die von einem Krieg erzählen, einer zurückbleibenden Familie, einem bestochenen Wächter, einer Grenze.
Worte, die ich schon kenne.
Manchmal ist irgendetwas anders in diesen Geschichten. Aber es sind immer nur Details. Ein Land, eine überwundene Grenze, wie sie überwunden wurde, wie viel Geld im Voraus bezahlt werden musste. Oder mit welchem Auto die Reise losging.
Wir sind mit einem Simorgh Want Jeep in Kabul gestartet.
Fünfzehn Erwachsene und ich. Wir haben uns zusammengedrückt. Aneinander gedrängt, gepresst, geknäuelt. Damit wir hineinpassten, haben wir uns fühllos gemacht wie Ziegen in einem zu kleinen Pferch, mit Köpfen, die aneinanderschlugen bei jedem Schlagloch, jeder Kurve, jedem Rand des Straßengrabens. Dann die Hitze, die beißenden Krämpfe, der Schweiß, der Staub, der im Hals kratzt. Das Auto zurücklassen, zu Fuß weitergehen, sich einem neuen Führer anvertrauen, der dir vielleicht helfen will, vielleicht aber auch bereit ist, dich zu verkaufen, zu verraten, weiteres Geld zu verlangen, damit er dich nicht den Grenzwächtern ausliefert.
Und immer, vor allem anderen, der Durst.
Die Reise ist für alle dieselbe.
Zuerst war es kämpfen oder fliehen.
Jetzt ist es nur noch hoffen und durchhalten.
Was dann kommt, weiß man nicht.
Uns verbindet der Lebensinstinkt, dieses Zusammennehmen aller Kräfte, wie es die Ameisen im Herbst machen: Beladen mit enormen Gewichten, marschieren sie dennoch vereint.
Uns verbindet dieses Gehen im Dunkeln. Und der Glaube an ein Ankommen. Und die Angst.
Aber meine Geschichte ist anders.
Auch weil ich zwei in einem bin: zwei Namen, zwei Alter, zwei Wahrheiten.
Und ein Geheimnis, das die beiden zusammenhält.
Ja, meine Geschichte ist anders.
Ich habe sie nie jemandem erzählt.