Ich fische das Handy aus der Tasche und halte es für einen Moment in der Hand, in dem ich seine ganze Macht spüren kann: die Macht, mich in mein übliches Leben zurückzubeamen, die Normalität zurückzuholen.
Mit dem Daumen scrolle ich das Adressbuch hinunter: Dutzende von Namen. Aber mich interessiert nur einer.
Seit Stunden denke ich daran.
Endlich wird aus dem Denken ein Handeln.
Mindestens sechs Mal schreibe ich die Nachricht und lösche sie wieder, ändere ein Wort oder füge etwas hinzu: ein Emoji, irgendeine Kleinigkeit, vielleicht nur ein Ausrufezeichen oder drei in der Luft hängende Punkte …
Am Ende lösche ich alles.
Und mache ein Foto von dieser Ecke hier, neben Shreks Karussell.
Ich betrachte das Foto, gar nicht schlecht. Darunter schreibe ich nur
Bis gleich?
Dann streiche ich auch das Fragezeichen.
Bis gleich.
Knapp. Ruhig. Entschlossen. Nix Smileys oder Pünktchen. Kein Spielraum für heimliche Zweifel. Kein Raum für neue Ängste.
Einen Moment zögert mein Finger.
Manchmal muss man einfach springen, sagte mein Opa Arturo oft. Entweder landest du auf der Nase, oder du fliegst. Denk dran: Nur wer kriecht, fällt nie hin.
Mein Finger schwebt über dem Absenden-Pfeil. Ich atme tief ein. Jetzt. Geschafft. Hurra.
Egal ob richtig oder falsch, meine Nachricht ist draußen. Aber … aber habe ich ihr wirklich dieses alberne Shrek-Karussell geschickt? Gibt es irgendetwas Kindischeres hier?! Außerdem. Es ist stockdunkel. Abendessenszeit. Es ist kalt. Nicht gerade das Paradies.
Wahrscheinlich kommt sie nicht.
Sie ist nicht der Typ für den Luna Park. Eher fürs Kino, oder für Konzerte. Oder wenigstens für die Pizzeria.
Plötzlich fühle ich mich wie ein Idiot. Warum bloß habe ich mich ausgerechnet hier mit ihr verabredet?
Es ist eindeutig, Giulio hat recht. Ich bin ein Fall für den Seelendoktor. Ein Fall wie aus dem Lehrbuch.
Ich öffne WhatsApp. Keine Antwort.
Sicher kommt sie nicht.
Jetzt einfach zu gehen, wäre eine Option, aber der Kampf zwischen meinen Füßen und meinem Stolz geht 1:0 aus, also bleibe ich hier geparkt.
Aus den Wagen der Achterbahn fällt ein Regen von Gelächter, dazwischen Schreckensschreie. Ich beobachte ein angeschnalltes Pärchen, so um die zwanzig. Er mit einem Bauch wie ein schwangerer Wal, sie dünner als eine Sardelle, aber damit beschäftigt, einen Riesenkrapfen zu vernichten, der ihr ganzes Gesicht verdeckt. Sie isst, er wird dick. Vielleicht sind die beiden ein perfektes Beispiel für den seltenen horizontalen Transfer, von dem mir meine Mutter mal erzählt hat. Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich für Mikroben, Bakterien und ähnliche Wunder der Natur begeistern kann, die nur unter dem Mikroskop sichtbar sind.
Noch einmal WhatsApp. Niente. Nothing. Nada. Kosmische Leere. Weißes Rauschen. Ein definitives, unwiderrufliches NEIN. Ich ertrinke in Mutlosigkeit.
Jetzt ist es offiziell: Sofia kommt nicht.
Gebt mir Harry Potters Tarnumhang. Ich will verschwinden. Mich davonmachen. Vom Erdboden verschluckt werden.
Ich ziehe die Kapuze meines Pullovers hoch.
Dann trolle ich mich Richtung Fahrrad, schleife die Füße über den Kies nach. Deprimierte, schwere Füße, die tiefe Spuren der Enttäuschung hinterlassen.
Die Ohrstöpsel pumpen mir die wuchtige Stimme von Tom Waits ins Blut. Sie hört sich an, als hätte man sie in ein Whiskyfass gelegt, lang in einer Räucherkammer aufgehängt und schließlich brutal mit dem Auto überfahren. So hat sie mal wer beschrieben. Klingt wie der Trailer meines Gefühlsfilms.
Aber plötzlich fühle ich sie.
Ich fühle sie.
Und gleich darauf sehe ich sie.
Mein Herz legt eine Nullrunde ein.
Es scheint sich eine gaaanz lange Pause zu genehmigen, dann bäumt es sich für ein wildes Rodeo auf und macht einen dreifachen Salto mortale. Sofia hebt die Hand.
Der grüne Schal um ihren Hals hat dieselbe Farbe wie ihre Augen. Ihre langen Locken, die in einem perfekten Durcheinander unter der Mütze hervorwuseln, elektrisieren meine Haut. Die Farben der Mütze sind so schräg wie ein Heavy-Metal-Solo, und auf dem Kopf jedes anderen Mädchens wäre sie peinlich, aber auf Sofias Haaren sieht sie cool und unangepasst aus.
Ich empfange sie mit der ganzen Begeisterung, die ich zeigen kann, so mit dem Herz zwischen den Zähnen.
»Ciao.« Ich nehme meinen Mut zusammen. »Also bist du doch noch gekommen.«
Nicht gerade ein Auftakt nach Handbuch. In den Filmen sprudeln die Jungs an diesem Punkt vor witzigen Sprüchen über wie Geysire. Ich stehe nur unbeweglich da und schaue sie an. Ungläubig, glücklich und verlegen.
Eine schlechte Kopie von Forrest Gump.
Also sage ich es ihr einfach, ohne langes Drumherumreden. »Ich freue mich, dass du da bist.«
Sie lächelt. »Ich wollte dir das auch schon vorschlagen …«
»Was?«, frage ich verblüfft.
»Hier eine Runde zu drehen, zusammen. Aber dann dachte ich, dass du …«
»Dass ich?«
»… nicht so der Typ für den Luna Park bist.«
»Was für ein Typ bin ich denn?«
»Eher fürs Kino, oder für Konzerte.«
Auf einmal muss ich lachen.
Vielleicht ist das einfach so, wenn dir jemand gefällt. Vielleicht entsteht dann plötzlich eine geheimnisvolle Verbindung, öffnet sich ein Raum-Zeit-Tunnel zwischen deinem und ihrem Leben, zwischen deinen und ihren Gefühlen.
Aber Sofia liest schon wieder in meinen Gedanken, denn jetzt lacht sie auch. Ich schaue sie an und lache mit ihr, glücklich über diese Gemeinsamkeit.
»Wie lang kannst du wegbleiben?«, frage ich.
»Nicht lang«, sagt sie, wieder ernst. »Um zehn muss ich zu Hause sein. Ich hab mir eine Ausrede ausgedacht.«
»Danke.«
»Wofür?«
»Für die Ausrede.«
Ich schiele aufs Handy: Oh Gott, wir haben nur eineinhalb Stunden!
Weiter drüben, hinter Sofia, hat nun das Riesenrad seinen Betrieb aufgenommen und erkundet langsam, in kleinen Flugetappen, den Himmel.
Es muss schön sein, denke ich, alles von dort oben zu betrachten. Von einem anderen Blickwinkel aus.
Sich im Dunkeln all das vorzustellen, was zu dieser Abendzeit nicht zu sehen ist: die Hügel, die Umrisse der Alpengipfel, die vertraute Gegend der Schule, mein Zuhause inmitten all der anderen Zuhauses, in denen Menschen reden, essen, lachen, im Internet surfen, Sex haben. Oder auf gute Träume hoffen, während ich in gewisser Weise jetzt schon träume.
»Hast du Lust?«, frage ich Sofia, indem ich mit einem Finger auf das Riesenrad zeige.
Sie schaut hoch. »Warum nicht?«
Und so finden wir uns in einer Metallkugel wieder, die schaukelnd in die Höhe steigt und in kleinen Schritten die Leere erklimmt.
Sie und ich. Allein dahinschwebend.
Das Rad hat es nicht eilig.
Ganz langsam trägt es uns nach oben.
Alles ist unglaublich, sogar die kalte Luft. Sogar die ätzende Musik, die zum Glück weit weg ist.
Aber vor allem das Licht, das rot und blau schimmert und mir vorkommt wie das erste Licht der Welt, eigens dafür erschaffen, genau jetzt Sofias Profil auszuleuchten: ihre Lippen, ihre langen Wimpern, ihre Stirn mit den vorspringenden Locken, den winzigen Höcker auf ihrer Nase, einen perfekten kleinen Makel, der den Rest noch schöner macht. Oder zumindest echter.
Ein Stern ist aufgegangen. Der erste.
Wir betrachten den Himmel gemeinsam, schweigend.
Dieser Moment ist, als wäre die Unendlichkeit aus Versehen mitten in einen x-beliebigen Luna Park hineingestolpert.
Wenn es ein Handbuch für unwirkliche Momente wie diesen gibt, dann hat mein Exemplar wohl ein anderer geklaut. Also strecke ich einfach einen Arm aus und ziehe ganz langsam Sofia an mich heran, während ich weiter in die Dunkelheit schaue. Sie zögert ganz kurz. Dann lehnt sie den Kopf an meine Schulter. Ich atme den Shampooduft ihrer Haare ein und den Duft von Wind und Überraschung, der von ihrer Haut aufsteigt. So riecht das Glück.
Eine Weile bleiben wir so.
Manchmal kann auch Schweigen sprechen.
Unten die schlafende Welt.
Oben der Himmel kurz vor der Nacht.
Innen stiller Aufruhr.
»Irgendwo habe ich gelesen«, sage ich, »dass es in einem Hurrikan einen einzigen sicheren Ort gibt, während rundherum alles zerfetzt wird. Man nennt ihn das Auge des Zyklons. Für mich ist das hier das Auge. Jetzt. Hier.«
Gern würde ich noch sagen mit dir, aber ich sage es nicht. Ich fühle mich so schon sehr mutig.
Und dann passiert das Unglaubliche, so mächtig, dass sich mir der Kopf dreht.
Sofia, dort im Dunkeln, lächelt. Ich fühle es wie ein Beben in der Luft.
Sie versteht, was ich sage. Das ist ein so schönes Gefühl, dass ich jetzt alles könnte: die Wände hochlaufen wie Spider Man, gegen meine persönlichen Voldemorts kämpfen wie Harry Potter, den Antrieb des Riesenrads blockieren und für immer hier oben bleiben, am höchsten Punkt seiner Umdrehung. Und dabei einen Schwindel fühlen, der nichts mit der Höhe zu tun hat, Schauer, die nicht von der Kälte kommen. Auch wenn die Kälte langsam heftig wird und mit spitzen Zähnen zubeißt.
Sofia bläst eine kleine Atemwolke in die Luft.
»Diesen Ort hat die globale Erwärmung ausgelassen«, sagt sie.
Auch ich mache eine Atemwolke, dann wieder sie, und dann wieder ich.
Schließlich wird Sofia ernst und kommt langsam mit ihrem Gesicht näher.
Sie findet den Mut, auch für mich. Den Mut, der für jeden ersten Schritt notwendig ist und den ich niemals in mir gefunden hätte.
Unsere zwei Atemwolken finden zusammen und werden zu einer. Die Berührung ist wie ein leichter Schlag. Ihre weichen, frischen Lippen sind ein kleines bisschen rau. Und nach dem Raketenstart meines Herzens, das jetzt irgendwo im Rippenbogen herumsaust, nehme ich auf Gaumen und Zunge den Geschmack ihrer Zahnpasta wahr.
Dieser Kuss schmeckt nach Pfefferminze.
Ich weiß jetzt mit Sicherheit, dass ich Pfefferminze für den Rest meines Lebens lieben werde.
Und dann, ohne zu wissen, wie, erzähle ich ihr plötzlich alles.
Meine Abwehr fällt einfach in sich zusammen. Eine enorme Welle von Gefühlen bäumt sich auf und rollt los.
Ich spreche lange. Über mich. Ich spreche über Mama und Papa. Darüber, dass ich noch bis heute Morgen glaubte, wir seien die reinste Fernsehwerbungsfamilie. Harmonisch. Besonders. Glücklich. Ich spreche über den Tod meines Opas. Darüber, wie ich meine Mutter behandelt habe. Über das Kind, das bald zur Welt kommen wird.
Und Sofia, wirklich, Sofia hört mir zu. Aufmerksam und ernst und konzentriert.
Manchmal lächelt sie mich an, manchmal wirkt sie traurig. Manchmal fragt sie nach. Manchmal, wenn ich lange Pausen mache, nimmt sie mein Schweigen in die Hand, als wollte sie es zwischen ihren Fingern wärmen.
Aber vor allem hört sie mir zu. Und ich merke, dass es das war, was ich wirklich brauchte: jemanden, der zuhören kann, und dass dieser Jemand sie ist.
»Was ist deine schönste Erinnerung?«, fragt sie plötzlich unvermittelt.
Wir sind in eine neue Phase eingetreten: das Kreuzverhör. All die Fragen, die man sich auch selbst stellt, die aber nur Sinn machen, wenn man zu zweit ist.
»Meine schönste Erinnerung … Vielleicht, als ich mir den Arm gebrochen habe.«
»Okay, die schlimmste lassen wir dann aus.«
»Warte. Ich war erst fünf. Wir waren in Kroatien im Urlaub, und ich bin am Strand so schlimm hingefallen, dass man mich von der Schulter bis zum Handgelenk eingegipst hat. Dann konnte ich nicht einschlafen, weil mir mein Teddybär fehlte, und so ist mein Vater nach Hause gefahren, um ihn zu holen. Er ist die ganze Nacht durchgefahren, und am nächsten Morgen saß der Bär auf meinem Kopfkissen.«
»Unglaublich, dein Vater«, kommentiert sie. »Der hat echt ein Talent für Überraschungen.«
»Stimmt«, sage ich überzeugt, »dieses Talent hat er nie verloren.«
Es folgt eine längere Stille.
In manchen Momenten wäre eine einzige Silbe zu viel.
Wir fahren gerade die dritte Runde. Ich könnte die ganze Nacht hierbleiben.
Immer neue Sterne, der Umriss des Schlosses ein schwärzeres Dunkel im Dunkel, die Lichter in den Häusern. Wer weiß, was dabei herauskäme, wenn man jetzt alle diese Lichter mit einer einzigen Linie verbinden würde, so wie die Pünktchen in den Kinderzeitschriften, die dann plötzlich eine Form ergeben und ihr Geheimnis preisgeben. Und wer weiß, wo unser Platz wäre, in der Form dieses Geheimnisses.
Sofias und mein Platz: ein Punkt, den es vorher nicht gab.
»Und was ist deine schlimmste Erinnerung?«, frage ich und drehe mich, um sie anzusehen.
»Das ist einfach. Da muss ich gar nicht nachdenken. Als Papa seine Firma zumachen musste. Die hatte mein Opa gegründet. Ganz winzig, mit nur sechs Arbeitern. Aber mit denen hat Papa zusammengearbeitet, seit er ein Junge war. Dann kam die Krise, und er musste sie alle entlassen. Ich habe ihn nie zuvor weinen sehen.«
»Das tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Keine Sorge. Das ist vorbei.«
»Hat er einen anderen Job gefunden?«
»Ja und nein. Es ist nicht einfach für ihn. Miniaufträge, Kleinkram. Meine Mutter hat sich ins Zeug gelegt, sie hat sofort wieder angefangen zu arbeiten.«
Jetzt schaut sie in die Ferne, ins Dunkel. Und mir wird plötzlich klar, dass Sofia solche persönlichen Dinge eben nicht jedem erzählt.
Das sind Geschichten, die man sich verdienen muss. So wie Wertschätzung, wie Vertrauen. Wie Anerkennung, oder das Glück.
Aber gerade flutet sie die Traurigkeit wie eine Welle, eine Welle, vor der ich sie beschützen möchte, sie in flacheres Wasser zurückbringen. Wo sie Boden unter den Füßen hat.
»Tattoos?«, frage ich also, um sie näher ans Ufer zu ziehen.
»Nur eines. Ein kleines.«
»Welches?«
»Ein ausgebreiteter Flügel. Im Flug.«
»Wo hast du das? Ich habe es nie an dir gesehen.«
»Auf der rechten Schulter. Du wirst es sehen.«
Einen Moment lang sind wir still, und ich koste diese vier Worte aus.
Du wirst es sehen.
Sie schmecken süß, vielversprechend. Sie schmecken richtig gut nach Zukunft.
»Warum nur einen Flügel und nicht zwei?«
»Weil mich meine Eltern vorher erwischt haben.«
»Okay, aber eigentlich passt das so. Ein Flügel als Tattoo und einer als Idee.«
»Und dazwischen drei Tage Hausarrest.«
»Handy?«
»Eingezogen. Du bist dran. Lieblingssong?«
»Da brauchen wir die ganze Nacht.«
»Haben wir nicht. Lieblingsfilm also?«
»Lass mich nachdenken … Vielleicht Django Unchained. Kommt als Western daher, mit Prügeleien und allem Üblichen, aber eigentlich geht es um Freundschaft. Und Abmachungen unter Männern. Und Liebe.«
Okay, zugegeben, Liebe ist ein bisschen getrickst. Ich hätte das vermutlich nicht gesagt, würde ich nicht mit Sofia sprechen. Aber vielleicht war es ein guter Schachzug, denn sie lässt den Kopf nach hinten sinken und legt ihn an meine Schulter.
Da merke ich, dass meine Schulter sie schon vermisst hat. Und dass sie sich im Kontakt mit Sofia stärker, vollständiger anfühlt.
»Wie warst du als Kind?«, fragt sie leise.
»Supercool.«
Sie dreht sich um, um mich anzusehen.
»Halt dich an die Regeln: Ist das die Wahrheit?«
»Die Wahrheit ist immer … anstrengend.« Ich lehne meinen Kopf an ihren. »Ich war ein kränkliches Kind. Wenn irgendwo ein Virus umging, hat dieses Virus mich gefunden. Meine Oma hat mir dann zur Aufmunterung Berge von Büchern vorgelesen.«
Sie nickt. »Jetzt weiß ich, wer das war.«
»Wer was war?«, frage ich.
»Wer aus dir einen verdammten Intellektuellen gemacht hat.«
»Was soll das denn heißen?!«
Sie lacht.
»Komm, keiner liest so viel wie du. Darf ich wissen, wie du noch warst, außer kränklich und intellektuell?
»Schüchtern, glaube ich. Und ängstlich. Und unglaublich naiv.«
»Inwiefern naiv?«
»Kennst du diese Art von Kind, das am Strand mit seinem Eimerchen hin und her rennt und denkt, es kann das Meer ausschöpfen? Oder das Meer unter dem Sand finden, wenn es nur tief genug gräbt?«
»Aber alle Kinder sind so!«
»Kann sein. Aber mein bester Freund hat mit fünf schon nach Öl gegraben.«
Sofia lächelt wieder. Und jedes Mal, wenn Sofia lächelt, habe ich ein Gefühl, als hätte ich in einem entscheidenden Spiel ein Tor geschossen.
Aus dem Abend wird langsam Nacht. Nur für einen Moment schließe ich die Augen.
Der Wind schneidend im Gesicht. Die Leute unten verschwunden. Mein Fuß an ihrem Fuß. Sofias feine Haare an meiner Wange. Unsere verschränkten Finger.
Genau hier ist der Mittelpunkt der Nacht.
Vielleicht auch der Mittelpunkt des Lebens.
»Wo siehst du dich in fünf Jahren?« Auf ihre Frage hin öffne ich wieder die Augen.
»Puh. Keine Ahnung. Mir ist nicht mal klar, wo ich mich in fünf Stunden sehe.«
»Übertreiber!«
Oh nein. Das ist keine Übertreibung. Aber das sage ich Sofia nicht.
Ich bin noch nicht bereit, ihr alles zu sagen. Dass etwas für immer zerbrochen ist. Dass dieser Tag, im Guten wie im Schlechten, ein wirklich besonderer Tag ist. Dass sich mein Leben verändert hat. Dass ich heute Nacht nicht nach Hause gehe.
»Hast du je Angst?«, frage ich. »Hast du je Lust … aufzugeben? Dir eine Art Auszeit zu nehmen von allem, was in deinem Leben nicht funktioniert, von dem, was die anderen von dir erwarten?«
»Das passiert mir oft. Oft möchte ich laut schreien: Stopp. Ich steige aus, Leute. Und ciao. Aber vielleicht sind ja die Ängste von heute, wenn wir irgendwie lernen, sie zu überwinden, der Mut von morgen.«
Wow! Nur von ihr kann ich so eine Antwort annehmen. Weil ich fühle, dass Sofia wirklich daran glaubt, also könnte ich versuchen, auch daran zu glauben.
Aber natürlich lasse ich mir die Gelegenheit nicht entgehen, sie mit diesem Spruch ein wenig aufzuziehen.
»Die Ängste von heute, die zum Mut von morgen werden … Sag mal, redest du immer so?«
»Nur wenn ich so einen verdammten Intellektuellen auf einem Riesenrad beeindrucken will.«
Ich gebe ihr einen Klaps auf die Schulter, ganz leicht.
Sie gibt ihn mir zurück, ein wenig härter.
Und wir lachen wieder los, wie verrückt. Dann fällt mir eine heftige Frage ein.
Die Mutter aller Fragen, würde mein Vater vermutlich sagen. Aber ich will nicht an meinen Vater denken.
»Das Leben, für dich. In wenigen Worten.«
»Wie wenigen?«, fragt sie.
»Nicht mehr als zehn.«
»Leben ist, was du kriegst, während du nach anderem suchst«, zählt sie an den Fingern ab.
»Genau zehn. Wow! Nicht schlecht.«
»Und das mit einem Flügel«, sagt sie lachend.
»Stell dir vor, du hättest zwei.«
»Mit zwei wären es zu viele geworden.«
Jetzt steht das Rad wieder. Und für Sofia ist es Zeit heimzugehen. Dabei möchte ich ihr noch so viel sagen.
Zum Beispiel, dass ich es nur ihr verdanke, wenn dieser Tag nicht unter den vielen landet, die ich vergessen will.
Zum Beispiel, dass sich unsere Namen reimen und dass ich das für ein schönes Zeichen halte. Oder dass ich so wie mit ihr heute noch mit niemandem gesprochen habe.
Zum Beispiel, dass es mir so gut ging, in der Schwebe auf diesem Riesenrad. Sogar viel besser, als ich es mir sowieso schon vorgestellt hatte.
Stattdessen sage ich gar nichts. Binde ihr nur den Schal besser. Wickle ihn noch einmal um ihren Hals herum. Nur so, damit ihr nicht kalt wird, damit sie keinen Schnupfen kriegt. Nur weil mir was liegt an ihr, genau.
Und Sofia zieht mir eine Grimasse, aber eine nette. Lustige.
»He, ein bisschen Respekt bitte!«, sage ich.
»Warum denn?«
»Weil ich der Ältere bin!«
»Klar: drei Monate und neun Tage älter. Ich erinnere mich.«
Sie erinnert sich! Ich lächle.
Vielleicht hat sich Adam im irdischen Paradies so gefühlt, bevor er in den Apfel biss.
Stark. Hungrig. Glücklich. Mächtig. Herr der Welt.
Und dann schaue ich Sofia nach, wie sie losfährt. Wie sie in die Pedale ihres Fahrrads tritt.
Wie sie ins Licht einer Laterne gerät, winkt, ohne sich umzudrehen, und schließlich im Dunkel verschwindet.
Alles eine einzige Flucht, dort am Ende des Platzes, wo die Piazza Anlauf nimmt vor dem Schlosshügel, um sich dann schmal zu machen und unter dem Torbogen der Porta Manin hindurchzuschlüpfen.
Alles eine Flucht auch an Sofias Körper: die unter der Mütze hervorspringenden Haare, die Fransen des langen grünen Schals, die an den Pedalen klebenden Füße, die doch fliegen können.
Und unter ihrer Jacke und ihrem Pullover, wie ein Kreuzchen auf einem Plan: das Tattoo mit dem Flügel, das ich sehen werde.