Ich betrachte eine Karte an der Wand: das helle Grün der weiten Flächen, das gewundene Gelb der Straßen, die hellblaue Schlange des Flusses, der die Stadt Budapest durchquert und sie entzweizuteilen scheint.
Neben der Karte befindet sich eine geschlossene Tür.
Jenseits der Tür befindet sich Papa.
Meine Nägel sind ganz zerkaut.
Ich kann auch das Pipi nicht viel länger zurückhalten, aber ich will hier nicht weggehen. Wenn Papa aus dem Raum herauskommt, möchte ich auf meinem Platz sein, und für den Moment ist mein Platz hier.
Also blättere ich noch einmal die Zeitung durch.
Auf einer Seite ist ein Bild mit Kindern.
Jungen und Mädchen auf ihren Schulbänken in einem großen hellen Raum. Neben der Tafel eine Lehrerin.
Da muss ich an Oma Nadira denken. Ich weiß, was Oma riskiert hat, um für ihre Mädchen Schule zu halten, denn Mädchen zu unterrichten war verboten und gefährlich.
Verboten durch die Taliban.
Aber sie hatte ihre Arbeit verloren und wollte jemandem nützlich sein.
»Wie hast du das gemacht, Oma?«, fragte ich eines Tages beim Essen.
»Heimlich. Alles heimlich. Heimlich kamen meine kleinen Schülerinnen zu mir. Heimlich brachten sie Bücher und Hefte mit, unter den Kleidern festgebunden, und heimlich, flüsternd, versuchte ich ihnen einige Dinge beizubringen. Lesen, schreiben, denken. In der Küche. Immer in der Küche.«
»Warum in der Küche?«
»Weil es da einen Ofen gab.«
»Um Brot zu backen für deine Schülerinnen?«
»Um schnell ihre Bücher zu verbrennen, falls die Taliban kamen.«
»Und hast du viele Bücher verbrennen müssen?«
»Merk dir das: Auch nur ein verbranntes Buch ist eines zu viel.«
»Aber wer wollte denn, dass Bücher verbrannt werden?«
»Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Vor den Taliban waren es die Mudschahedin. Und noch früher …«
Davon hatte sie mir schon erzählt, von der Geschichte unseres Landes. Einer Geschichte der Besatzungen und des Widerstands gegen diese Besatzungen: Makedonier, Sassaniden, Araber, Mongolen … Und die Russen, als meine Oma jung war. Wirklich eine komplizierte Geschichte.
Die wollte ich nicht noch einmal hören. Ich hatte es zu eilig, zu verstehen.
»Warum werden überhaupt Bücher verbrannt, Oma?«
»Weil Bücher das Denken lehren. Und mit dem Denken kommt das Zweifeln.«
»Und was ist daran schlecht?«
»Wer denkt und zweifelt, ist ein freier Mensch. Und ein freier Mensch, verstehst du, ordnet sich nicht so einfach unter.«
»Wem?«
»Anderen Menschen. Einem Regime. Ideen, die mit Gewalt durchgesetzt werden.«
»Und dann, was ist dann passiert, Oma?«
»Vielleicht war eines der Mädchen unvorsichtig und hat von meinem Unterricht erzählt. Vielleicht hat irgendein Nachbar sich entschieden zu spionieren. Es muss nicht immer Hass sein, der zu Verrat führt. Es reicht Neid oder Groll. In jedem Fall musste ich fliehen. Ich habe mit meinen Töchtern die Stadt verlassen und bin in ein weit entferntes kleines Dorf gezogen, in der Gegend, aus der meine Vorfahren kamen. Dein Opa war kurz vorher gestorben. So sind deine Mutter und deine Tanten zwischen Ziegen aufgewachsen. Ich habe nichts gegen Ziegen, das sind nützliche und sanfte Tiere, aber es war nicht das, was ich mir für meine vier Töchter erträumt hatte … verstehst du?«
Ich nickte. Natürlich verstand ich.
Manche verachten oder bemitleiden meine Oma, weil sie eine dokhtar zai ist.
Eine Frau, die das Unglück traf, nur Mädchen auf die Welt zu bringen. Eine unvollständige, unfähige Frau. Eine, die als Ehefrau und Mutter nur die Hälfte wert ist.
Oma Nadira hat sich darum nie gekümmert.
Es interessiert sie nicht, was die Dummen denken, sondern das, was dumme Augen oft nicht sehen: die Samen, die in den Dingen verborgen liegen.
An jenem Tag vor fast zwei Jahren, als wir Kardamomtee tranken, lag meiner Oma am Herzen, dass ich verstehe. Sie wollte mir von der Vergangenheit erzählen.
Und sie erzählte von der Vergangenheit, weil sie mir ein Versprechen abnehmen wollte, das die Macht hatte, meine Zukunft zu verändern.
»Hör gut zu, was ich dir erzähle. Die Taliban erreichten Kabul im Herbst 1996. Sie schienen Frieden zu bringen, nach Jahren der Gewalt und der Massaker unter den verschiedenen Kriegsherren der Mudschahedin. Indem sie sich untereinander abschlachteten, hatten die Mudschahedin unser ganzes Land zerstört, ganze Dörfer, Städtchen und Viertel von Kabul. Die Toten wurden in Tausenden gezählt. Man starb auf der Straße, im Basar, während man Brot oder Milch kaufte. Man starb im Schlaf, ohne aufzuwachen, durch eine nächtliche Rakete. Wieder einen Tag überleben, es bis zum Abendgebet schaffen … darauf beschränkte sich die Hoffnung. Die Leute waren einfach am Ende. Sie waren ausgehungert nach Frieden. Und bereit, auch das für Frieden zu halten, was sich bloß als tückischere Formen des Kriegs erweisen sollte, die sich wie Unkraut verbreiteten, um Früchte und Samen zu vernichten.«
Oma trank ihren Tee, mir schöpfte sie Reis in einen Teller.
»In Kabul gab es ein großes Museum«, erzählte sie weiter, »mein Vater, dein Urgroßvater Jaafar, ging oft mit mir dorthin, als ich etwa in deinem Alter war. Es beherbergte wahre Schätze: Skulpturen afghanischer Fürsten, Statuen und Fresken des Buddha, einzigartig schöne Vasen aus der Zeit Alexanders des Großen, uralte persische Miniaturen und kostbare, mit Edelsteinen verzierte Schwerter aus der Zeit Dschingis Khans. Dann kamen die Taliban.«
Jetzt war Omas Stimme rau, herb wie Essig.
»Wir hielten sie für die Zukunft. Dabei waren sie das Mittelalter. Sie hassten die Gegenwart, die Kultur, jede Form des freien Denkens, jeden Ausdruck von Lebendigkeit. Sie hassten Bücher, Musik, Filme, die einen zum Lächeln bringen, den Gesang der Frauen, das Drachensteigen. Um die Schätze des Museums zu zerstören, brauchten sie nur ein paar Stunden. Dann wurden sie noch effizienter. Für die Vernichtung der kolossalen Buddha-Statuen in den Sandsteinfelsen unserer uralten Roten Stadt, an der Seidenstraße, setzten sie TNT ein. Zweitausend Jahre Geschichte, pulverisiert in Explosionen, unter Jubel und Freudengeschrei. Ich habe damals, Allah vergebe mir, ich habe damals gedacht: Ein Volk, das seine Vergangenheit verleugnet, kann keine Zukunft verdienen.«
Der Reis auf meinem Teller war inzwischen kalt.
Oma stand auf und ging ans Fenster.
Es blies ein sanfter Wind.
Ich dachte, dass der Staub der Buddhas, die die Taliban im Bamiyan-Tal in die Luft gejagt hatten, vielleicht immer noch dort herumwirbelte, getragen vom Abendwind. Über Städte und Dörfer streifte, übers Gras strich, über Flüsse und Ebenen, bis hinauf zu den schneebedeckten Gipfeln des Hindukusch. Und dass er nun zwischen uns schwebte, in der Dunkelheit, die uns allmählich einhüllte.
Meine Oma stand immer noch am Fenster und blickte ins Leere.
Irgendwo weit weg rief ein Muezzin zum Gebet.
»Du musst auch für sie lernen. Für die, denen es verboten wurde. Für deine Mutter und deine Tanten. Für das mit Hämmern zerschlagene Museum. Für die mit TNT gesprengten Buddhas.«
Sie nahm meine Hand in ihre.
Ihr Handflächen zitterten ein wenig.
Sie waren lau und trocken wie der Juniwind am Morgen.
»Und du musst für dich selbst lernen. Dein Leben ist wie ein Brot, mein Herz: ein Brot mit der Hefe großer Erwartungen. Du hast das Recht, sie aufgehen zu lassen. Hör gut zu, was ich mir überlegt habe. Hör zu, was du tun sollst.«
Ich hörte zu. Ich hörte ihre Stimme.
Verblüffung überkam mich wie das Hochwasser den Fluss.
Mit der Verblüffung kam die Angst.
Mit der Angst kam das Zittern.
Aber die Stimme meiner Oma war fest: »Mein Herz, nur so wirst du wirklich leben.«