Ich lebe
Als ich zu meinem dreizehnten Geburtstag mein erstes Handy bekam, hat meine Mutter eine Nachricht eingespeichert. Wenige Worte. Kurz. Effizient.
Ich lebe
»Jedes Mal, wenn du später kommst, schickst du uns das, hast du verstanden.«
Das Fragezeichen, falls je eines beabsichtigt war, ging im entschiedenen Tonfall unter.
»Dafür reicht eine Sekunde. Nur ein Klick, damit wir beruhigt sind. Versprich es, Mattia!«
In Wirklichkeit war es nicht einmal ein Klick, mit dem Touchscreen des neuen Smartphones.
Aber ich wollte nicht kleinlich sein. Schlimmer als eine überängstliche Mutter ist nur eine überängstliche Mutter, die dir absurde Versprechen wie dieses abknöpft, um ihre Angst zu bekämpfen.
»Okay«, habe ich also versprochen. Ich war noch ein braver Junge. »Ich werde euch mit Ich lebe zuschütten.«
Also schickte ich, wenn ich zu spät zum Abendessen kam, meinen Refrain: Ich lebe.
Ein Versprechen ist ein Versprechen. Ich habe die Regeln immer respektiert. Ihr habt euch nicht daran gehalten.
Und jetzt habt ihr es statt mit dem lieben Mattia mit einem neuen, bösen Mattia zu tun, einem Mix aus dem Fänger im Roggen und Dom aus Fast and Furious.
Also halte ich jetzt das Handy in der Hand wie eine AK-47: ein tödliches Werkzeug.
Ich fahre über die Nachricht auf dem Bildschirm, starre auf dieses Mantra aus zwei Wörtern.
Ich lebe
Ich lebe
Ich lebe
Mein Finger kreist ein wenig darum herum.
Senkt sich und geht wieder hoch.
Ich lebe, aber ich habe gute Gründe, heute Abend nicht nach Hause zu gehen.
Ich versuche sie in eine ordentliche Reihenfolge zu bringen, wie in der Gliederung für einen Aufsatz.
Ich will Papa nicht sehen.
Vielleicht kommt er heute Abend nach Hause, um zusammenzupacken, was er braucht, so wie in den Filmen, wenn sich ein Paar trennt und einer der beiden auszieht. Ich sehe ihn vor mir, wie er ganz leise die Wohnung betritt, höre ihn in Schubladen wühlen. Er schnappt sich Rasierer, Kleider, die Bücher für den Unterricht, ein Paar Schuhe, seinen Laptop. Er bleibt vor meiner Tür stehen. Seine Hand auf der Türklinke, die Türklinke, die sich nur ein wenig senkt. Er ist unsicher. Er fragt sich, ob er reinkommen soll. Er fragt sich, ob ich schon schlafe. Er weiß, dass ich es weiß, aber er weiß nicht, was ich sagen werde. Er weiß noch nicht, wie ich reagiere. Wie sauer ich auf ihn bin. Ich bin sehr sauer auf ihn.
Und ich reagiere schlecht. Sehr schlecht.
Ich bin noch nicht bereit, ihn zu sehen. Ich bin noch nicht bereit, ihm zuzuhören. Seiner Stimme, seinen Alibis, seinen Ausreden. Denn …
Ich habe Angst.
Ich habe Angst vor meinen Gefühlen. Ich habe Angst davor, plötzlich Dinge zu sagen oder zu tun, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Das Du-kannst-mich-mal an meine Mutter ist einfach von alleine hochgekommen, aus einem Mattia, der mir noch unbekannt ist. Ich will ihn besser verstehen, diesen Mattia, bevor seine Wut explodiert. Ich will lernen, mit ihm zu rechnen. Ich will ihr ins Gesicht sehen, meiner Wut. Daher muss ich dringend …
Allein sein.
Ich brauche mal kurz Luft. Ich muss Ordnung schaffen in dem Chaos, das in meinem Kopf herrscht. Nicht nur Wut, sondern auch eine große Traurigkeit. Verwirrung. Überraschung. Schmerz. Manchmal sogar Übelkeit. Leere, wo Gewissheiten waren. Nebel, wo mein Sommer war. Das Gefühl, aus der Kurve zu fliegen, die Straße nicht wiederzuerkennen. Die anderen nicht wiederzuerkennen. Mich nicht wiederzuerkennen.
Das Handy klingelt.
Den Ton habe ich gerade wieder angestellt. Ich schaue nach: achtzehn Anrufe.
Drei von meinem Vater, alle anderen von meiner Mutter.
Ich fühle mich losgelöst von allem.
Losgelöst von diesem Platz. Vom Wind, der nun aufgekommen ist und ein paar trockene Blätter hochwirbelt. Von den wenigen eiligen Passanten. Von den Lichtern des Luna Park, die rhythmisch blinkend ein Stück Pflaster aufleuchten lassen, den dunklen Ärmel meines Parkas, meine unentschlossene Hand, die Hülle meines Handys.
Das Handy klingelt.
Immer und immer wieder Numb von Linkin Park.
Aber ich antworte nicht. Ich antworte nicht. Mein böses, sehr böses Ich. Wenn ich antworte, fällt meine Kraft in sich zusammen. In meinem Handy lauert Mamas Stimme im Hinterhalt wie ein hungriges Krokodil.
Das Handy klingelt.
Sein Klingeln sät Zweifel, wie Indiana Jones in seinen Filmen Tote hinterlässt.
Dann hört es auf. Endlich hört es auf.
Um mich breitet sich eine Blase der Stille aus. Plötzlich kann ich wieder atmen.
Einen Moment lang fühle ich gar nichts. Nicht einmal die Kälte, meine Schuldgefühle, den Frost unter meinen Füßen, die Musik und den Lärm, die vom Luna Park herüberwehen.
Ich öffne das Schloss. Steige aufs Fahrrad. Dann gestehe ich dem Mattia, der ich war, eine letzte freundliche Geste zu.
Das Wort verdanke ich Amadi. Und Sofia verdanke ich die Idee. Es ist ihr Verdienst, wenn meine Wut ganz kurz stillhält für diese Geste.
Kein Frieden, nur eine Feuerpause. Kein Waffenstillstand vorerst. Ich öffne WhatsApp und scrolle runter zu Ma.
Kurz bleibe ich so, der Daumen erstarrt, am Bildschirm meines Handys festgeklebt wie die Muschel an der Klippe. In meinem Kopf startet ein Autoplay: I’m a Good Boy von GD X Taeyang.
Dann sende ich die Nachricht.
Sie sagt nicht viel, aber das Nötigste.
Das einzig Wesentliche darüber, wie ich mich gerade fühle.
Eine korrekte Zusammenfassung.
Ich lebe