Das Rad rutscht auf dem Split weg und bäumt sich wütend auf.

Ich weiche geschickt zwei Pfützen aus und fahre mitten durch die dritte. Wie nicht anders zu erwarten, die größte der drei. Der Schlamm spritzt mich voll bis obenhin. Ich fluche meinen Dank in den Himmel, trockne mir das Gesicht ab und trete weiter. Der Lärm des Luna Parks wird gedämpfter und ferner, bis ich ihn plötzlich nicht mehr höre. Ich lasse die Piazza hinter mir, fädele mich durch die Porta Manin, sause in einem Atemzug die Straße unter dem Schlosshügel entlang und fliege um die Kurve an ihrem Ende.

Wenig Verkehr um diese Zeit. Wenige Autos, kaum Fußgänger. Aus ein paar Lokalen unter den Arkaden dringen Licht und Geräusche.

Ich nehme eine Nebenstraße, die aus dem Stadtzentrum hinausführt. Weniger Straßenlaternen hier. Weniger Licht. Ich biege rechts ab, am Tempio Ossario vorbei, weiche auf der Kreuzung einem grauen SUV aus.

Vor einer roten Ampel reiße ich an den Bremsen.

Der Asphalt ist glitschig.

Das Rad gerät schlimm ins Schleudern, aber ich halte das Gleichgewicht.

Dann starte ich wieder voll durch. Ich fühle mich stark und seltsam. Heute Nacht gehe ich nicht nach Hause. Ich schlafe nicht in meinem Bett. Ich werde weder Mama noch Papa sehen.

Es ist nicht gesagt, dass mein Plan funktioniert. Und dann? Daran denke ich später. Im Moment, für diese erste Nacht, bin ich mir sicher, dass ich zurechtkomme.

 

Baum – hell. Baum – hell. Baum – hell.

Manchmal zwingen mich Wurzelknoten, die sich durch den Asphalt gesprengt haben, zu Sprüngen oder Bremsmanövern oder zum Ausweichen in die Mitte der Fahrbahn.

Manchmal gerät das Fahrrad ins Schleudern.

Aus meinem Mund kommen Atemwolken.

Ich fahre schnell. Versuche, jedes Denken zu vermeiden. Aber der Gedanke an meinen Vater ist ein Marder: Still schleicht er durch die Nacht, schlüpft heimlich leise durch jeden Zaun. Er pfeift auf meine Verteidigung.

Gestern Abend beim Essen, als wir zusammensaßen. Mein Vater, wie er redet. Er redet viel.

Papa ist ein zwanghafter Unterhalter. Manchmal tischt er völlig absurde Themen auf: den Leitgedanken von McDonald’s; das Verhältnis Harry Potters zum Bösen; die divergente Ethik der Piraten, die auf ihren Segelschiffen seiner Ansicht nach als Einzige in multiethnischen und auch multikulturellen Milieus lebten.

Er ist ein Ideen-Tsunami. Ich nenne es Kulturschikane. Mama nennt es Parasophie – ein irrer Mix aus Paranoia und Philosophie. Meist macht sie dazu eine bestimmte Geste, so Legt mir eine Infusion, das halte ich nicht aus. Aber oft, wenn sie das macht, lächelt sie. Nein, nicht: lächelt sie. Lächelte sie. Seit wann lächelt sie nicht mehr? Warum habe ich das nicht früher bemerkt?

Die Lichtkegel der Scheinwerfer. Schweiß im Nacken, den Rücken hinunter. Traurigkeit, die sich anfühlt wie Knüppelschläge.

Ein hupendes Auto hinter mir. Ein langes, wütendes Hupen. Ich wünsche es zum Teufel, mündlich und per Stinkefinger. Bringe das Rad an den Straßenrand zurück. Dann gehe ich wieder aus dem Sattel und stemme mich über den Lenker, dem Wind entgegen.

Die Gerüche der Nacht: Moos, Frost, Smog und verrottete Blätter im Wind. Kurz auch Abwasser.

Worauf hast du eigentlich gewartet, Papa, um das einzig Wichtige zu besprechen, statt über Nichts zu dozieren und uns alle mit Quatsch vollzulabern? Worauf hast du gewartet, um mir alles zu erzählen?!

Die Vorstellung, ihm zu verzeihen, führt zu noch mehr Wut.

Eine Kurve.

Ich fahre mit Karacho hinein.

Überhole einen blöd geparkten Wagen, dann plötzlich sehe ich sie.

Sie kommen auf dem Straßenrand gehend auf mich zu. Wie immer in einer schwatzenden Horde. Afghanen. Oder Pakistaner. Ich weiß nicht. Sie kommen mir alle gleich vor, mit diesen immer gleichen schwarzen Bärten und diesem gleichen Gang und diesen unförmigen Hosen, die unter den Jacken hervorschauen. Und immer mit diesem Handy in der Hand. Es sind so viele, in der Stadt. Vor allem in letzter Zeit. Alle jung, aber irgendwie alterslos. Sie kommen auf mich zu, völlig ins Gespräch vertieft und ohne mich irgendwie zu beachten.

Um sie nicht umzufahren, weiche ich hastig aus. Zu weit weg vom Straßenrand. Zu weit in die Straßenmitte. Zu nah an ein Auto, das entgegenkommt, erschreckend schnell entgegenkommt.

Mich packt ein heftiger Luftstoß. Das Dröhnen der Hupe betäubt mich. Der Fast-Zusammenstoß lässt mich schwanken. Ich will bremsen und ziehe wild an beiden Hebeln.

Der Boden ist glitschig und gefroren.

Die Räder drehen leer.

Dann Ende. Stille. Licht. Dunkel.

 

Ich falle in einen schwarzen Abgrund, während die Welt untergeht.