Die blonde Polizistin rollt langsam ihre Blätter zusammen.
Aber es sieht aus, als hätte das gar keinen Sinn.
Es hat nur den Sinn, ihre Augen und ihre Hände und ihre Gedanken zu beschäftigen, damit sie nicht mich ansehen muss.
Festhalten. Festhalten. Festhalten. Deinen Vater und deinen Onkel festhalten.
Das Wort prallt an den Wänden ab, hallt wie ein Echo in meinem Kopf wider.
Ich sehe meine blonde Polizistin an. Die blonde Polizistin sieht mich an.
»Heißt festhalten Gefängnis?«
Sie antwortet nicht. Nicht sofort. Sie seufzt.
»Der illegale Grenzübertritt nach Ungarn ist eine Straftat«, sagt sie.
Ich weiß nicht, was Grenzübertritt heißt. Und ich weiß nicht, was Straftat heißt. Aber so, wie sie die Wörter ausspricht, ist klar, dass das schlimme Dinge sind, die Ärger bedeuten.
Sie schaut mir sehr direkt in die Augen.
Auch ich schaue ihr sehr direkt in die Augen.
Am Ende ist es ihr taubengrauer Blick, der sich leise aus meinem davonstiehlt.
Also frage ich flüsternd: »Kann ich mit Papa ins Gefängnis gehen?« Und füge gleich hinzu: »Bitte.«
»Das geht nicht. Du bist ein Kind.«
»Nicht einmal, wenn ich es will?«
»Nicht einmal, wenn du es willst.«
»Und wo gehe ich hin?«
»Du wirst … zurückgeschickt.«
Meine Augen füllen sich mit Nadeln, mein Mund mit glühendem Sand. Mein Herz ist eine Tarantel, die versucht, meine Kehle durchzubeißen. Ich schlucke fest, um sie hinunterzuwürgen.
Was würde Salman Khan tun, mein Lieblingsheld? Ich weiß es nicht.
Aber er würde sicher nicht weinen.
Also ziehe ich meine Windjacke aus, rolle einen Pulloverärmel hoch und zeige der blonden Polizistin meine geometrische Narbe. Sie geht vom Ellbogen bis zur Hand. Ein hässliches Zickzackmuster.
Unter den Waffen der Taliban gibt es alte und neue.
Unter den neuen bevorzugen sie die Kalaschnikow, unter den alten Reitgerten und Stöcke.
Ich weiß nicht mehr, was sie bei mir benutzt haben. Aber ich habe harte Knochen. Sie haben gehalten. Und Oma Nadira kann gut nähen.
»Ich kann nicht zurückgehen«, sage ich. Meine Stimme klingt entschlossen.
Jetzt sieht mich die blonde Polizistin an.
Ich fühle ihren Blick, ich fühle ihre Stille.
Aber viel stärker als die Stille fühle ich ihr Zögern.
»Hast du auch Narben?«, frage ich sie.
Ich weiß nicht, wo diese Frage herkommt, ich weiß nur, dass sie von ganz alleine kommt.
Sie antwortet nicht gleich. Sie denkt nach.
»Wir alle haben Narben«, sagt sie mit gesenktem Kopf. »Aber nicht immer sieht man sie mit bloßem Auge.«
Ein Telefon klingelt in einem der Räume.
Jemand schlägt eine Tür zu.
Draußen ist Verkehrslärm.
»Komm«, sagt die blonde Polizistin und führt mich den Korridor hinunter. Der Raum ist der letzte auf der rechten Seite und stinkt nach Rauch.
Ich sehe mich um: zwei Stühle, ein Schreibtisch, ein Computer. In einer Ecke ein Möbel aus Glas.
An einer Wand ein Schimmelfleck.
An einer anderen Wand das Foto eines Mannes und eine Schrift in einem schiefen Bilderrahmen.
Ich setze mich auf den Stuhl, auf den sie zeigt, und beobachte, wie sie den anderen verrückt, um sich neben mich zu setzen.
Sie öffnet eine Schublade, nimmt ein Päckchen Zigaretten heraus, zündet sich sehr langsam eine an.
Zwischen uns ist nur der zitternde Rauch, das Jasminparfum und eine Stille, die den Raum einhüllt wie ein riesiger Tschador.
Ich hebe die Augen zu der Schrift auf dem Bild.
Das ist eine schwierige Sprache.
Wer weiß, ob sie Oma gefallen würde.
Leise lese ich die Wörter. Beim ersten, dem längsten, stolpere ich ein wenig.
Szol-gá-lunk és Vé-dünk
»Was heißt das?«, frage ich.
Sie schaut mich an. Sie sieht überrascht aus.
Dann betrachtet sie die Schrift, dann wieder mich.
»Das heißt Wir dienen und schützen.« Jetzt ist ihre Stimme fast rau.
»Wirklich?«, frage ich. »Auch schützen?«
Alle, die mich beschützt haben, sind nicht mehr bei mir. Mama, Papa, Oma Nadira. Die Lehrerin aus der Schule in Badghis.
Die Polizistin hört auf zu rauchen.
Sie betrachtet mich immer noch stumm. Dann drückt sie ihre Zigarette auf einem kleinen Glasteller aus.
Schließlich stellt sie mir, statt zu antworten, eine Frage. Nur eine.
»Wenn ich dich nicht zurückschicke, gibt es dann jemanden, der sich um dich kümmern kann, irgendwo hier … in Europa?«
Du kennst den ersten Schritt der Lüge, aber du weiß nie, wo sie dich hinführen wird, sagte meine Oma.
Aber wenn eine Lüge dazu dient, dich zu retten, dann ist es vielleicht keine Lüge mehr. Sondern Schutz. Notwendigkeit.
Manchmal muss man Wolf sein, und andere Male muss man Lamm sein. Ich beschließe, ein Wolf zu sein.
»Gibt es jemanden, der auf dich wartet, Aziz?«
Ich schaue sie einen Moment lang still an. Dann nicke ich ein Ja. »Mein Onkel und seine Familie warten auf uns.«
»Wo?«, fragt die blonde Polizistin.
Wo? Ich kratze meine Wange.
Wo lebt ein Onkel, den es nicht gibt, mit seiner ganzen erfundenen Familie? Wo lebt, wer nicht lebt, wer gar nicht existiert?
Wo? Wo? Wo?