In meinem Hirn dröhnt, dank der Ohrhörer, Spirit never dies von Masterplan. Aber den Ort, an dem alles gut und voller Lachen war, den gibt es nicht mehr.

Schnell. Ich muss mich beeilen.

Entweder ich bewege mich jetzt, oder ich schaffe es nicht rechtzeitig. Dann schließen sie ab, und ich stehe draußen.

Die Vorstellung macht mich nervös. Ich habe keinen Plan B.

Ich schaue nach unten in die Tiefe, ins Dunkel. Halte mich fest am Stamm einer Platane, dort, wo der Asphalt gefrorener Erde weicht und wenigen Flecken von dunklem Gras am Rand des Kanals. Ich passe auf, wo ich die Füße hinsetze. Steige über die steinerne Platte eines alten Waschplatzes, die schräg in den Hang eingelassen ist.

Der Boden hier ist glitschig und tückisch: die ideale Startrampe für einen Flug bis ins Wasser. Aber diesmal passe ich auf.

Irren ist menschlich, sagte Opa Arturo. Irrtümer zu wiederholen, ist einfach nur idiotisch.

Ich halte das Fahrrad eng an meine Hüfte gedrückt und bohre die Schuhe in den Untergrund.

Vor mir liegt der Kanal wie eine schwarze Schlange.

In meinem Rücken rasen Autos vorbei, alle haben es eilig, nach Hause zu kommen.

Jedes Fahrzeug ist ein harter Luftstoß, der mich von hinten trifft und wieder verschwindet, während ich noch verfrorener und einsamer zurückbleibe.

Es riecht nach Moos und faulen Blättern, vermischt mit weiteren, unbekannten Gerüchen. Ein paar Meter weiter, im Nebel,

Nur wenige Schritte, schon ist man auf der anderen Seite und fast im Stadtzentrum.

Aber hier, nur ein Stück entfernt, wirkt die Stadt schon wie Peripherie.

Im Dunkeln ist alles unbestimmt und vergrößert, verzerrt zu neuen und unbekannten Formen.

Vielleicht, weil die Dunkelheit Angst einflößt und die Angst – das merke ich jetzt – unter allen Emotionen die animalischste ist, dich direkt zurückversetzt in die Zeit des frühen Homo sapiens, der einer bedrohlichen Welt allein gegenüberstand und nichts hatte außer seinem klugen Kopf, nur einen verletzlichen, wehrlosen Körper ohne Schuppen oder Stacheln.

Ich bleibe stehen, höre auf die Geräusche.

Gegenüber erahne ich die Häuserfassaden auf der anderen Seite des Kanals: eine kompakte Wand aus verschlossenen Türen und Fenstern, ein paar dürre Äste, die einen steinernen Balkon streifen, zwei Bögen aus hellerem, feucht glänzendem Stein.

 

Ich umklammere den Lenker meines Fahrrads.

Die kalte Erde nagt von unten an meinen Füßen. Irgendwo bellt ein Hund. Ein anderer Hund antwortet ihm, weiter weg.

Vorsichtig trete ich an den Rand des Kanals. Von hier aus hört sich der Verkehr undeutlich an, ein Hintergrund nur aus Bässen, ein minimal wahrnehmbarer Loop.

Ich schiebe mich unter den Vorhang einer großen Trauerweide, deren dünne, biegsame Zweige ins dunkle Wasser hängen. Die Zweige schließen sich hinter mir und umgeben mich nun ganz. Plötzlich nehme ich alles überdeutlich wahr: das Nachlassen des Windes. Die vom Wasser aufsteigende Feuchtigkeit, sein

Es ist, als würde ich ein großes Nest betreten, mit einem Dach aus nächtlichem Himmel, einem Boden aus Moos, Wänden aus schwingenden Zweigen.

 

Ich umklammere den Lenker meines Fahrrads.

Auf einmal muss ich an das kleine Baumhaus denken, das Papa mir im Apfelbaum gebaut hat, ganz hinten im Garten der Großeltern. Ein Nest aus wenigen zusammengenagelten Brettern, und dennoch fühlte ich mich, darin kauernd, vor allen Gefahren und Bedrohungen beschützt, in Sicherheit in einer Parallelwelt. Seltsam, auch jetzt fühlt es sich so an. Nur dass ich jetzt groß bin und dieses Gefühl eine Illusion.

Es ist irgendwann verloren gegangen, verschwunden. Vielleicht hat es auch nie existiert.

 

Ich umklammere den Lenker meines Fahrrads.

Ein Zweig der Trauerweide schwankt hin und her. Ich betrachte die winzigen Tropfen auf seiner Oberfläche: flüssige, phosphoreszierende Perlen, von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos an- und ausgeschaltet wie die LEDs einer Lichterkette.

Einen Moment lang schaue ich hoch zum Himmel. Ein paar Sterne, ein paar ziehende Wolken. Kurz überlege ich ein letztes Mal, dann entscheide ich mich und denke nicht mehr. Mit einer ruckartigen Bewegung schleudere ich mein Fahrrad in das dunkle Wasser des Kanals. Es versinkt mit einem dumpfen Schlag, ein paar kalte Wassertropfen spritzen mir in Gesicht und Haare. Jetzt kann es keiner mehr finden.

Kein Fahrrad heißt: eine Spur weniger. Weniger einfach, mich aufzuspüren.

Ich fühle einen Schauer, mache einen Schritt zurück.

Es folgt ein Moment der Ruhe. Der Verkehr scheint weit weg, die Hunde sind still.

Ich klettere den Abhang zur Straße wieder hinauf.

Vor Antritt der letzten Etappe fehlt noch ein wichtiger Schritt: Ich schalte die Standortbestimmung meines Smartphones aus. Ab jetzt wird es noch schwieriger herauszufinden, wo Mattia Marchior ist oder hingeht.

 

Dann renne ich.

Es wird ein Alleinlauf.

Ich stecke die Ohrhörer wieder ein. Die Musik pumpt Blut und Kraft durch mich hindurch, gibt meinen Schritten Rhythmus, lässt Adrenalin einschießen. Reduziert alles auf Atem, Beine und Gehör: Mattia in Basisversion.

Ich renne.

Mir bleibt nichts anderes übrig.

Ich muss rechtzeitig da sein, das ist alles.

Und während ich renne, rückt etwas näher und anderes weiter weg. Nicht nur draußen, auch an irgendeinem mysteriösen Ort in mir selbst. Irgendwo tief in mir versteckt.