Wo? Ich denke nach. Wo lebt diese Onkelfamilie, die ich mir ausgedacht habe?

Wie schaffe ich es, die Lüge zu Ende zu bringen und so zu tun, als hätte ich ein Ziel?

Manchmal hilft uns der Barmherzige mit einem kleinen Wink.

Zum Beispiel jemandem, der an die Tür klopft.

Zum Beispiel einer Tür, die sich öffnet.

Zum Beispiel dem Gesicht eines Mannes, das in der geöffneten Tür erscheint und meine blonde Polizistin mit ihrem Vornamen anspricht: »Gizi?«

Sie macht ein Zeichen mit der Hand, wie um zu sagen: Wir sprechen uns nachher.

Er schließt die Tür wieder und geht.

Gizi.

Lautlos wiederhole ich den Namen.

Gizi.

Ein Name, der mich an einen anderen Namen erinnert, ein Klang, der plötzlich aufleuchtet wie ein Blitz über den Pistazienwäldern, die rund um das Dorf wuchsen.

Gizi.

Graz.

Graz: eine Fußballmannschaft aus den wichtigen Spielen, die ich manchmal im Fernsehen sah. Eine Fußballmannschaft und eine Stadt.

»Also?«, fragt meine Polizistin nach und zündet sich noch eine Zigarette an. »Wo wohnt dieser Onkel mit seiner Familie?«

Vielleicht war meine Stimme ein wenig zu hoch, aber sie scheint nichts bemerkt zu haben.

»In Graz? In Österreich? Bist du sicher?«

Ich habe einen trockenen Mund.

Schweigend nicke ich.

 

Die Polizistin steht auf, geht zu einem großen Fenster, raucht weiter und schaut hinaus.

Eine Zeit lang bleibt sie so stehen und dreht mir den Rücken zu, wie versunken in den Anblick einer weiten Welt, die aber bloß ein Stückchen Parkplatz ist, mit Reihen um Reihen voller Autos.

Vielleicht sammelt sie in ihren Augen das Licht, das diesem Zimmer fehlt.

Vielleicht sucht auch sie die Zeichen in den Dingen.

Ich glaube an das Herz der Dinge, ich glaube an ihre Zeichen, ihre geheime Sprache.

Derweil schaue ich ihr zu, wie sie hinausschaut. Sie erinnert mich ein wenig an Mama, wie sie an einem Ast die ersten Knospen zwischen Winter und Frühling musterte, ihr Schwanken zwischen der Angst, aus der Deckung zu kommen, und der Eile, sich in Blüten zu verwandeln.

Schließlich dreht sich die blonde Polizistin zu mir um.

»Komm her.«

Ich gehe zu ihr. Folge ihrem Blick, ihrem Finger.

»Siehst du da unten das rote Auto?«

Sicher sehe ich es.

Das einzige feuerfarbene Auto inmitten von Dutzenden, die alle weiß, schwarz oder grau sind.

Gizi zieht einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche. Kurz hält sie ihn in der Hand und die Hand in der Luft, während sie mir direkt in die Augen blickt.

Sie hat helle, glänzende Augen und ein paar feine Falten in den Augenwinkeln.

Augen, die mein Gesicht studieren, wie ich den Koran studierte: die Welt kurz aussperren, um mit anderen Wahrheiten zu sprechen.

»Steig in das Auto und warte dort auf mich. Rühr dich nicht weg, bis ich komme.«

»Tust du etwas … Illegales

Die Frage ist mir leise rausgerutscht.

Ich habe schnell die Wörter gelernt, die mein Leben verändert haben.

Auch sie antwortet mir leise. »Ja. Ich würde sagen, eindeutig ja.«

Dann öffnet sie mir die Tür.

Eines von Oma Nadiras Sprichwörtern fällt mir ein.

Wenn du ein Ziel hast, wird auch die Wüste zur Straße.

Und auf dieser Straße gehe ich jetzt los.

 

Ich sehe mich um, während ich hastig zwischen den Reihen der geparkten Autos hindurchgehe.

Gerade bricht die Dämmerung herein.

Nur eine Katze streicht an einer Mauer entlang.

Ich öffne Gizis Auto.

Mein Instinkt rät mir, mich niederzukauern, damit man mich nicht sieht. Also ducke ich mich schnell auf den Boden, neben dem Lenkrad.

Das Auto stinkt nach Rauch, aber in dem Gestank steckt auch ein Tannenduft, ein wenig verborgen, so wie ich.

Ich fühle mich wie eine seltsame Schildkröte. Vorsichtig recke ich den Kopf und schaue über den Rand des geschlossenen Fensters, bereit, mich bei der kleinsten Bedrohung zurückzuziehen.

Auf dem Rücksitz liegen eine Puppe, eine zerknitterte hellblaue Jacke, eine fast leere Wasserflasche, ein Schal und ein paar Zeitungen.

Zwei Männer in Uniform kommen näher, sie unterhalten sich angeregt.

Ich greife nach dem Ärmel der Jacke und ziehe sie mir über Kopf und Schultern, während ich mich besser in meiner Höhle zurechtschiebe.

Dann bleibe ich unbeweglich hocken, in Sicherheit unter meinem hellblauen Panzer.

Ich beherrsche meinen Atem und die Angst. Endlich kann ich hören, wie sich ihre Schritte entfernen, ihre Stimmen zu Gemurmel werden, das Gemurmel zu Stille.

Ein Auto wird angelassen, fährt davon.

Ich recke wieder den Kopf hoch.

Auf dem Armaturenbrett, direkt vor meinen Augen, ist ein Foto von zwei Kindern angebracht.

Das Mädchen ist klein und blond, sie trägt ein kariertes Kleid und hat dieselben grauen Augen wie Gizi.

Der Junge ist groß und mager. Er muss ungefähr so alt sein wie ich. Einen Arm hat er um das Mädchen gelegt, den anderen um einen Fußball geschlungen. Er hat den ernsten Ausdruck eines großen Bruders, ein Trikot mit der Nummer neun und dunkle Augen und Haare, wie ich.

Ich wüsste gern, ob er gut ist, als Fußballer. Und auf welcher Position er spielt.

Aber das sind sinnlose Fragen. Ich glaube nicht, dass ich das je erfahren werde.

Das Geräusch des Verkehrs ist weit entfernt.

Nur der Klang einer Sirene dringt bis hierher, bäumt sich auf wie ein Fohlen und verliert sich dann wieder.

Dann höre ich in der Stille Schritte.

 

Sie kommen in meine Richtung.