Während ich auf dem Gehweg dahinrenne, muss ich an Opa Arturo denken. Er fehlt mir, mein Opa. Heute mehr denn je.
Wir haben uns sehr lieb gehabt. Vielleicht wäre ich, wenn Opa noch da wäre, jetzt bei ihm.
Vielleicht könnte ich mit ihm reden, könnte zulassen, dass diese schwarze Wut aus mir herausläuft wie Lava und endlich einen Ausweg findet, statt mir Herz und Hirn zu verbrennen.
Nur dass Opa nicht mehr da ist. Er ist vor vier Monaten gestorben. Er ist genau so gegangen, wie er es sich gewünscht hat: schnell, ohne viel Drama. Infarkt, Fahrt ins Krankenhaus, Herz, das zu schlagen aufhört. Nicht einmal die Zeit, ciao ciao zu sagen. Wahr ist aber auch: Wäre Opa in einem dieser Krankenhausbetten gelandet – weiß, ordentlich und zu nahe beieinander –, er hätte wahrscheinlich gelitten wie ein Hund. Er wäre vor lauter Langeweile gestorben – so weit die Vorstellung meiner Mutter. Und da das eine tröstliche Vorstellung ist, habe ich ihr natürlich sofort geglaubt.
So hingegen, so viel ist sicher, blieb Opa bis zuletzt lebendig.
Und hat bis zum Tag davor getanzt.
Denn er war wirklich voller Leben, auch noch mit über achtzig. Er liebte das Schwimmen, wenn auch nur Brust. Bergwandern. Pilze suchen. Schach und Buraco spielen. Er liebte es, mir Omeletts zu braten und zu tanzen, sofern wir Omeletts mit Nutella als Omeletts durchgehen lassen und Walzer und Tango als Tanzen. Er hörte gern Musik auf seinen alten Vinyl-Schallplatten.
Außerdem hat er sich, seit Oma tot ist, vor allem mir gewidmet.
Vielen Männern kann man ihre Ziele als Alpha-Typen an den Augen ablesen: das richtige Auto, das richtige Haus, die richtigen Frauen. Meinem Opa sah man an den Augen an, dass er Kind geblieben war. Neugierig, vernascht, zerstreut. Interessiert an allem, was mich interessierte, meiner Musik, meinem Sport. Interessiert am Gebrauch des Computers. Dabei gab er wirklich sein Bestes: Nachdem er ihn von Mikrowelle und E-Reader unterscheiden konnte, hat er sogar gelernt, ein wenig damit umzugehen.
Auch meine Freunde vergötterten ihn, denn Opa war so peinlich, dass er schon wieder lustig war. Wie damals, als er zu Giulio sagte: »Deine Frömmigkeit rührt mich.« Und Giulio sich nicht zu erklären traute: »Diese Madonna, von der ich gerade rede, ist ehrlich gesagt bloß ein Rockstar.«
Natürlich, Opa hatte auch seine Fehler, zum Beispiel das Rauchen. Er versuchte es zu verheimlichen. Vor allem vor mir. Klar, um kein schlechtes Vorbild zu sein. Aber er verheimlichte es auch vor Papa, um nicht von seinem Sohn ausgeschimpft zu werden.
Spätestens nach dem zweiten Infarkt hätte er es endlich sein lassen sollen, aber er pfiff auf die Ratschläge seines Arztes. Überall hatte er Zigaretten versteckt. In den Schubladen, im Vorratsschrank, sogar unter dem Kopfkissen. Außerdem war er wild auf Süßes. Vor allem Eis. Am ersten Sommertag gingen wir beide jedes Jahr einen skandalös riesigen Eisbecher essen, immer in derselben Eisdiele.
Für uns war der 21. Juni ein fester Feiertag, der nach Pfefferminz und Schokolade schmeckte, mit einem Kilo Schlagsahne und Mandel-Haselnuss-Krokant, auch wenn es draußen hagelte oder die kalte Tramontana blies.
Ich weiß, warum ich gerade an meinen Opa denke. Alles hängt jetzt von ihm ab.
Opa liebte es, mich zu verblüffen. Das ist ihm bis zuletzt gelungen. Vielleicht auch deshalb hat er mir wenige Tage vor seinem Tod – als würde er tief drinnen fühlen, dass es so weit war – das seltsamste Erbe hinterlassen, das ich mir hätte vorstellen können.
Daran muss ich denken, ohne dabei mein Tempo zu drosseln auf dem menschenleeren Gehweg. Ich bin ganz Schritte und Gedanken.
Ich fädele mich in die Unterführung ein und renne noch ein wenig schneller im sinistren Licht der wenigen Neonröhren an der Decke, die Murales und Graffiti und übergroße gesprayte Tags beleuchten, und im miefigen Pissgeruch, der diesen Ort immer schon erfüllt hat und einem Lungen und Magen umdreht.
Dann bin ich wieder draußen. Und endlich angekommen. Da ist sie.
Ich hab’s geschafft.
Ich bin da.
Ich bleibe nur kurz stehen, um Atem zu holen, die Hände auf die Knie gestützt, vornübergebeugt, erledigt. Vor meinen Augen tanzt ein Lichterfest, die Milz schreit und stammelt, aber das war es wert. Langsam wird mein Atem ruhiger, die Milz schiebt ihre Rache auf.
Ich weiß nicht mehr, wem du diesen Lieblingssatz geklaut hast, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran:
Logik bringt dich von A nach B. Fantasie überallhin.
Opa, heute Nacht kann mein überallhin nur ein Ort sein.
Ein ganz bestimmter.
Deshalb zähle ich auf dich.