Ich schleiche mich still und leise hinein, um möglichst nicht aufzufallen.
Um diese Zeit muss man von hinten kommen, durch den Nebeneingang vom Parkplatz. Kein Problem, dort hineinzuschlüpfen. Niemand scheint mich zu bemerken.
Ich ziehe meine Kapuze hoch, wünsche mir Glück: und los.
Nach all der Kälte und Dunkelheit ist die Wärme ein Geschenk. Nur das Licht beunruhigt mich. Auf das Licht könnte ich verzichten.
Ich fange an, in meinem Rucksack herumzuwühlen und etwas zu suchen, das ich nicht finde, etwas, das ich vergessen habe und schnell noch holen will. Das ist der Vorwand, den ich brauche, um gegen den Strom zu schwimmen.
Alle gehen raus, nur ich komme rein. Mit über den Kopf gezogener Kapuze, wie ein Siechknecht in Manzonis Pestroman.
Gesenkter Kopf, schneller Schritt, Hände, die am Rucksack herumtasten, eilig und ein wenig zerstreut, kein Augenkontakt.
Ich gehe schnell, immer an der Wand entlang.
Es ist einfach: Keiner achtet auf mich. Niemandem scheine ich aufzufallen.
Ich bin gerannt und ganz verschwitzt. Ich fühle, wie mir Schweißtropfen vom Nacken den Rücken hinabrollen. Ekel. Angst. Jucken. Wahnsinnsdurst. Aus dem Mariannengraben meines leeren Magens steigt ein Protest auf, der an das Grölen von Ultras beim Heimspiel erinnert. Schließlich ist auch die letzte Killermandel nur eine ferne Erinnerung.
Ich fixiere den Snackautomaten wie eine Fata Morgana in der Sahara, aber ich lasse mich nicht ablenken. An Hunger und Durst denke ich später. Jetzt sind die Prioritäten andere.
Wie immer checke ich die Uhrzeit an der Wanduhr in der Ecke. Kurz vor. Gerade noch rechtzeitig.
Fang nicht an zu laufen, Mattia.
Wühl weiter im Rucksack herum.
Lass dich nicht vom Getränkeautomaten ablenken.
Zieh keine Aufmerksamkeit auf dich.
Du musst nur das Ende des Korridors erreichen, dann nach links abbiegen und in den kleinen Vorraum, der zwischen Elektronikflügel und Treppenhaus liegt, dort ist dann die letzte Tür.
Du erinnerst dich doch an die Tür? Ich erinnere mich.
Durch die Tür geht es zu den Treppen, die hinunter führen, in Sicherheit, dort unten wird dich keiner sehen.
Dort unten wird mich keiner sehen.
Seit ich sechs oder sieben Jahre alt war, habe ich nicht mehr so mit mir gesprochen, um mir Mut zu machen.
Manchmal hebe ich für ein paar Nanosekunden den Blick. Es ist fast elf Uhr abends.
Um mich herum nur müde Gesichter, jugendliche und erwachsene. Es sind mehr, als ich dachte. Etliche scheinen einen ausländischen Hintergrund zu haben. Seltsam: Es sind gar keine Mädchen dabei. Viele unterhalten sich. Einige gehen allein. Alle haben es eilig, nach Hause zu kommen.
Würde mich auch wundern, wenn sie hier herumtrödeln wollten. Diese Leute machen tagsüber in allen möglichen Jobs den Rücken krumm, auch in der Fabrik, und danach gehen sie in die Schule, meine Schule, um in Abendkursen zu büffeln und das Abitur nachzuholen.
Helden sind das. Ich beneide sie echt nicht.
Aber heute würde ich, zum ersten Mal, vielleicht mit ihnen tauschen.
Ich gehe durch bis zum Ende des Korridors. Biege links ab. Niemand zu sehen. In dem Vorraum drei Türen: rechts ein Notausgang, der zum seitlichen Hof führt, links der Eingang zu einem Elektronikraum, in der Mitte eine Metalltür mit Panikstange und der Aufschrift Zutritt verboten.
Ich werfe einen Blick über die Schulter. Niemand da.
Die Schulklingel läutet und erschreckt mich, während ich den Metallbügel hinunterdrücke.
Ich gehe durch die Tür. Schließe sie. Das Herz hüpft mir im Hals, und mein Mund ist trocken.
Alle Empfindungen verstärkt. Die Erleichterung ein geräuschvoller Seufzer. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Tür.
Dann bricht, wie im Huh-Jubel der isländischen Fußballer, unter meiner großen Müdigkeit plötzlich Euphorie hervor.
Ich hab’s geschafft. Bis hierher habe ich es geschafft.
Ich versuche, meine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen.
Unter meinen Füßen ein Betonboden. Vor mir im Halbdunkel Treppenstufen. Nach den Stufen ein Zwischengeschoss. Von der Decke des Zwischengeschosses hängt eine nackte Glühbirne herab.
Stille. Weder Stimmen noch Geräusche.
Die Welt hat sich aus meiner Welt davongeschlichen und mich allein zurückgelassen. Jetzt kann ich durchgehen bis ganz nach unten, in die großen Keller der Schule: so nah und so weit weg. Keinem wird je einfallen, mich dort zu suchen.
Halb bin ich elektrisiert, halb panisch.
Bist du dir sicher? Ganz ganz sicher? Positiv. Ja, ich bin mir sicher.
Ab hier führt kein Weg mehr zurück.
Ich jage den panischen Mattia zum Teufel und steige die Treppen hinunter.