Ich strecke die Hand zur Wand aus, wo ich einen Schalter entdeckt habe, aber dann entscheide ich mich schnell um. Besser kein Licht anschalten. Es könnte irgendwo draußen zu sehen sein, und dieses Risiko kann ich nicht eingehen.

Die Dunkelheit wird dichter, die Umrisse der Dinge undeutlicher.

Ich mache mir mit dem Handy etwas Licht. Während ich die Treppen weiter hinabsteige, verwandeln sich Räume in andere Räume. Keine Schule mehr. Keine Alltagswelt. Ein Schlauch, der meine Schritte schluckt, dessen Tiefe bodenlos scheint.

Vor mir ein weiterer Gang. Dieses Mal enger und kürzer.

Plötzlich ein Geruch nach Schimmel, unter den Füßen eine kältere Kälte.

Ich bleibe stehen, horche.

Keine Stimmen mehr. Kein Geräusch. Keine Spur von anderen Schritten. Kein Nachhall von Geräuschen.

Große Feuchtigkeitsflecken wie ganze Galaxien an den Wänden. Unter der Decke verlaufen Rohrleitungen, da und dort hängt ein Spinnennetz. Auf dem Boden in einer Mauernische hat jemand einen gelben Plastikhelm vergessen, wie ihn Arbeiter und Maurer tragen. Es riecht nach verschimmeltem Staub.

Ein paar letzte Treppenstufen.

Ich denke an das einzige Mal, als ich hier unten war.

Das hilft auch, um die Angst zu verscheuchen: mir diese dunklen Räume voll mit fröhlichem Chaos vorzustellen, all den Stimmen, dem Lachen, den Zwischenfällen, der Euphorie über die Abwechslung zwischen den üblichen Schulstunden.

Erinnerungsfilm ab.

 

Die Aufgabe war einfach und klar: Gebäudevermessung unserer Schule, der größten der Region, in den Fünfzigerjahren durch Erweiterung eines Baus aus dem 19. Jahrhundert entstanden.

So weit seine Erklärung. Zumindest das, woran ich mich erinnere.

»Habt ihr alles?«, höre ich noch seine laute Stimme.

Er richtet seine John-Lennon-Brille.

Er ist ganz aufgeräumt. Energiegeladen. Begeistert. Und bestimmt von uns allen am aufgeregtesten: eine kahle, bebrillte Version von Kapitän Nemo am Steuer seines U-Boots, bereit zu einer Entdeckungsreise über 20000 Meilen unter dem Meer. Nur dass der zu erforschende Ozean sich auf die dunklen Kellergeschosse unserer Schule beschränkt.

»Dreimeterstäbe?«

»Haben wir, Prof.«

»Laser-Entfernungsmesser?«

»Hier!«

»Theodolite?«

»Auch hier.«

»Maßbänder?«

»Ohne könnte ich nicht leben!«

Das ist natürlich meine Stimme. Der Prof vernichtet mich mit einem Blick, geht aber darüber hinweg.

»Also, Leute, dann geht’s jetzt los.«

Und so steigen wir in kompakter Formation hinter Turchetti hinab in die unbekannten Mäander des Untergrunds.

Sie ist nämlich wirklich riesengroß, diese Schule, und sie vereint zwei parallele Welten: Denn von den fast dreitausend Schülerinnen und Schülern, die wir sind, besucht ungefähr die Hälfte die Technische Fachoberschule, die andere Hälfte geht aufs

Damit dreitausend von uns hier Platz finden, haben wir ein ziemlich gigantisches Gebäude, so etwas zwischen einer Fabrik aus den Dreißigerjahren und einem amerikanischen College-Campus, wie man ihn aus Filmen kennt: ein dreistöckiges Hauptgebäude, verschiedene hufeisenförmige Gebäudeflügel aus Backstein und Beton, einen Hangar für den Aeronautischen Zweig mit allerhand Flugzeugmodellen, eine Aula Magna für Konferenzen, ein paar große Sporthallen. Dazu eine undefinierbare Zahl von Klassenzimmern und Fachräumen für Chemie, Informatik und Zeichnen.

Und unter diesem Labyrinth liegen die Keller.

Die also haben wir an jenem Tag vermessen, mit unseren supergenauen Instrumenten, um dann alle Daten in unser Protokoll einzutragen.

Meine Note: eine präzise, glatte Fünf.

Turchetti gewährt keine Gnade bei seinen Noten. Am wenigsten den Witzbolden.

Seit ich diese Schule besuche, kämpfe ich gegen drei tödliche Fallen: Mathematik, Physik und Technisches Zeichnen. In genau dieser fatalen Reihenfolge.

Dann kommt mir ein seltsamer Gedanke. Wie weit ist dieses Leben gerade entfernt?

Wie weit entfernt ist jener Vormittag, die Vermessungsaufgabe, diese Normalität, die ich so verachtenswert und langweilig fand?

 

So. Ich bin angekommen.

Vor mir die Tür, an die ich mich erinnere.

Das ist jetzt die wahre Herausforderung.

Plötzlich pumpt mein Herz wie wild. Mein Atem tut einen Moment lang dasselbe, um nicht zurückzustehen. Ich stelle mir die

Würde ich hochgehen, ginge eine Sirene los, Fliegeralarm ist nichts dagegen.

Deshalb bleibt mir keine Alternative. Wenn sich meine Intuition irrt, muss ich die ganze Nacht in diesem klaustrophobischen Gang verbringen. Opa, sieh zu, dass du mich nicht im Stich lässt. Stell dich jetzt bitte nicht als Aufschneider heraus. Du weißt doch: Alles hängt von dir ab.

Ich setze mich auf die letzte Treppenstufe.

Einen Moment lang bleibe ich so sitzen, unbeweglich, quasi in der Schwebe.

Mit dem Handylicht fahre ich über die Türoberfläche. Die alten, abgeschabten Ränder. Den Türgriff. Das Schloss. Ich sehe die Hand des Profs vor mir, wie sie einen angerosteten Schlüssel in dieses alte Schlüsselloch steckt.

Ich schnappe mir meinen Rucksack. Leere ihn aus.

Und mit meinem Pullover und den im Luna Park gekauften Brötchen schlittert das ganze Erbe meines Opas heraus und verteilt sich über den Boden, mit einem metallischen Klirren, das die Stille erfüllt wie eine Explosion.