Opas Schlüssel haben sich auf einer ganzen Treppenstufe verteilt. Ich überfliege sie mit dem Blick, dann mit den Händen.
Manchmal ploppen Erinnerungen exakt wie Pop-ups auf.
Ich sehe mich und ihn am Küchentisch vor zwei Schuhschachteln, randvoll mit Schlüsseln aller Art.
»Was machst du damit, Opa?«
»Alles und nichts. Das sind nur Erinnerungen.«
»Erinnerungen woran?«
»An die Häuser, die ich gebaut habe.«
Opa war Bauleiter für verschiedene große Baufirmen, und er hat seine Arbeit sehr geliebt. In den Adern deines Opas fließt Zement, sagte Papa manchmal.
»Weißt du, wie viele Häuser du in mehr als vierzig Jahren Arbeit bauen kannst?«, fragt Opa in meiner Erinnerung.
Also, erstens ist mir das, um ehrlich zu sein, so was von egal.
Und zweitens habe ich keine Ahnung. Erstens sage ich aber nicht.
»Aber Opa, was weiß ich denn …«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es auch nicht. Irgendwann hört man auf zu zählen: Häuser, Krankenhäuser, Bürohäuser, Schulen, Kindergärten … Aber von jedem Gebäude habe ich am Ende zur Erinnerung einen Schlüssel mitgenommen. Keinen wichtigen Schlüssel natürlich, man hätte mich für einen Dieb gehalten. Schlüssel von irgendwelchen Nebenräumen. Abstellkammer, Bad, Keller … vor allem Kellerschlüssel.«
Mein Opa war echt ein Typ.
Zuerst kam einem seine Logik pervers vor, aber dann wurde man von ihr einverleibt wie von einer der Fresszellen, die wir in Biologie drangenommen haben.
»Warum ausgerechnet einen Schlüssel?«
»Weil ein Schlüssel leichter ist als ein Ziegelstein.« Da lacht er. »Außerdem öffnet der Schlüssel einen Raum, so wie die Erinnerung die Vergangenheit öffnet.«
»Komm … das ist ein Satz wie von Papa.«
»Sicher«, gibt er zu, »sicher. Aber von wem, glaubst du, hat dein Vater das? Die Architektur ist eine Schwester der Philosophie. Ob es um ein Haus geht oder einen Gedanken, bauen heißt nach schönen Formen suchen. Wenn es geht, den schönsten Formen.«
An der Stelle ziehe ich dann bestimmt eine Grimasse. Opa hatte manchmal einen Hang zu Merksätzen.
»Und unter all diesen Schlüsseln«, frage ich dann, »gibt es da irgendeinen ganz besonderen?«
Nachdem er einen Moment nachgedacht hat, zieht er einen heraus, der aussieht wie viele andere, höchstens ein kleines bisschen größer, und überreicht ihn mir wie eine Reliquie.
»Und was ist an dem so besonders?«
»Er ist eine Erinnerung an meine Schule. Die jetzt auch deine Schule ist. Ich habe sie Ende der Fünfzigerjahre besucht und konnte damals nicht wissen, dass ich ungefähr zwanzig Jahre später einmal dort arbeiten würde. Wir haben einen ganzen Flügel neu gebaut, für die Werkstätten der Bauhandwerker, und dann den Keller restauriert. Und dort unten erwartete mich eine Überraschung …«
»Im Ernst, Opa?«
»Im Ernst. Ich kannte den Keller nämlich schon. Ich wusste es nur nicht. Der älteste Teil, ganz hinten, wurde im Krieg als Luftschutzkeller genutzt.«
»Und du … du warst als Kind dort?! Wirklich? Im Krieg?«
»Du bist pfiffig, wenn du willst. Erraten.«
Jetzt wühle ich mit beiden Händen in Dutzenden und Aber dutzenden von Schlüsseln: dem seltsamen Erbe meines Opas Arturo.
Ich habe keine Ahnung, ob ich Glück haben werde, aber Glück fängt mit Mut an. Wo es endet, weiß man nicht.
Die ältesten, einfachen Eisenschlüssel haben einen runden oder ovalen Griff. Die neuesten, die alle aus Stahl sind, haben kleine Vertiefungen an der Spitze und wirken sehr raffiniert. Die sortiere ich gleich aus.
Dann beginne ich erwartungsvoll die anderen Schlüssel auszuprobieren.
Die meisten gehen gar nicht rein.
Manche gehen rein und lassen sich nicht drehen.
Ein einziger (verflixter) tut einen Moment lang so, als ließe er sich drehen, und lässt mich dann deprimiert zurück.
Alle aussortierten Schlüssel werfe ich nach links auf den Boden. Aus dem Haufen auf der Treppenstufe ziehe ich immer neue Schlüssel heraus.
Ich nehme und werfe weg, nehme und werfe weg. Nehme wieder.
Wie viele Schlüssel habe ich jetzt schon in dieses blödsinnige Schloss zu stecken versucht?
Ich werfe einen Blick auf die aussortierten, die immer mehr werden. Von dem anderen Haufen sind nur noch wenige Schlüssel übrig. Unruhe steigt in mir auf. Mein Plan hängt an einem einzigen Detail, an einer Idee, die plötzlich absurd klingt. Er hängt an der Erinnerung an meinen Opa und seinem seltsamen, sentimentalen Erbe. An meinem Bedürfnis, dort Zuflucht zu finden, wo vor langer Zeit seine Zuflucht war, jetzt, wo er selbst nicht mehr da ist.
Mein Plan hängt an einem Schlüssel.
Kein Schlüssel, kein Plan. Null Optionen.
Da packt mich plötzlich die Wut. Wie im Film werfe ich mich mit dem ganzen Gewicht gegen die Tür, aber den Nahkampf gewinnt sie. Ich ziehe mich mit schmerzender Schulter zurück.
Die letzten drei Schlüssel glotze ich an wie Scrat, das Säbelzahneichhörnchen, in Ice Age seine Eichel anglotzt, die von Schrecken ohne Ende bedroht wird: Eiszeit, Tauzeit, Gletscherspalten, Kreaturen aller Art, einem Planeten, der pausenlos Neues ausheckt, und Angriffen von anderen Planeten. Sorge, Hoffnung, Panik. Widerstand gegen das Pech. Pfötchen, die sich an die Zukunft klammern. Zukunft, die an einer Eichel hängt. Eine Nacht, die an einem Schlüssel hängt.
Und dann … Wahnsinn! Es funktioniert! Ein Schlüssel geht rein und lässt sich drehen.
Von allen Lehrsätzen, die ich nicht gelernt habe, aber die man versucht hat, mir beizubringen, erinnere ich mich gerade an einen einzigen.
Er heißt Tarskis Undefinierbarkeitssatz und geht ungefähr so:
Arithmetische Wahrheit kann nicht innerhalb der Arithmetik definiert werden.
Das soll wohl bedeuten, dass manche Wahrheiten dort gesucht werden müssen, wo man sie nicht vermutet. An unwahrscheinlichen, abgelegenen Orten. Im Untergrund, so wie hier. Durch einen Wechsel der Perspektive auf die Dinge.
Dasselbe gilt auch für das Leben. Vielleicht ist es das, was der Lehrsatz denen zu sagen hat, die die Mathematik hassen, sie aber auf die wirkliche Welt anzuwenden versuchen.
Wenn ich mich irre … dann sorry, Tarski.
Während ich daran denke, öffne ich die Tür.
Ich weiß nicht recht, was ich erwarte. Die Angeln quietschen. Seit wann wurde diese Tür nicht mehr geöffnet? Seit unserer Vermessungsaufgabe für Turchetti? Seit irgendeiner Inspektion?
Ich mache einen Schritt hinein in das Halbdunkel.
Und dann sehe ich die Augen. Nur die.
Ich erstarre vor Entsetzen.