Eine Stimme weckt mich. Eine Hand.

Die Stimme wiederholt ein Wort: Wien. Die Hand schüttelt sanft meine Schulter.

Ich reibe mir die Augen. Lasse einen Traum los.

Und dann erinnere ich mich, wo ich bin.

 

Das Erste, was ich sehe, ist Magdas Gesicht, noch über mich gebeugt.

Sie hält ihr schlafendes Kind im Arm, das sich zwischen Busen und Schulter der Mutter eingekuschelt hat wie in eine Höhle.

Magdas Gesicht ist müde, aber sie lächelt.

Ihre Stimme wiederholt noch einmal: Wien.

Sie verlagert das Gewicht ihrer Tochter und zieht dem kleineren der beiden Jungen die Kapuze des Pullovers hoch. Der größere ist schon auf den Beinen und schaut aus dem Fenster. Dann gähnt er, greift nach dem Koffer, der zwischen zwei Sitzen steht, und zieht ihn auf seinen Rollen Richtung Ausgang.

Sein Bruder folgt ihm schwankend, und schwankend folge auch ich.

Die Lichter des Bahnhofs leuchten nur schwach durch die Dunkelheit des Abends.

Während der Zug langsamer wird und stehen bleibt, kann ich auf einer Uhr an unserem Bahngleis die Zeit ablesen: 20:16 Uhr. Wer weiß, ob es meinem Vater gut geht. Wer weiß, ob er sich um mich sorgt oder ob Gizi ihn hat wissen lassen, dass ich es geschafft habe weiterzureisen, Ungarn zu verlassen.

Ich kann es schaffen, Papa. Ich habe keine Zweifel mehr. Ich bin so stark, wie du es dir wünschst.

 

Die Kälte ist schneidend, die Luft riecht nach Schnee.

Es stehen nur wenige Menschen auf dem Bahnsteig.

Nicht weit von mir sehe ich ein junges blondes Paar. Sie küssen sich.

Ich kann nicht anders, als sie zu beobachten. Sie ist schön, diese Freiheit, auch mit dem Körper miteinander zu sprechen, inmitten von Unbekannten, an einem Ort, der allen gehört. Und es ist ein bisschen seltsam, sich so zu küssen, ohne sich vor der Welt zu verstecken. Ich habe das noch nie gesehen.

Magda rüttelt mich am Arm. Sie ist aufgeregt. Sie sagt etwas.

Ich verstehe ihre Worte nicht, aber ich verstehe ihre Gesten und Blicke, die Eile, zu der mich ihre Stimme drängt.

Sie nimmt mich bei der Schulter und schiebt mich in den Zug, der auf dem Gleis gegenüber steht. Nur wenige Augenblicke, dann setzt er sich in Bewegung.

Und ich bewege mich mit ihm.

Es war nicht einmal Zeit, uns zu verabschieden. Im Licht des Bahnhofs, das hinter der Dunkelheit der Nacht zurückweicht, werden Magda und ihre drei Kinder zu einem letzten Widerschein im Fenster, zu einem Erinnerungstraumbild wie das Gesicht von Gizi.

Der Junge kann schneller gehen als der Alte, aber der Alte kennt den Weg.

Wie oft hast du mir das gesagt, Oma? So oft, dass ich dir nicht mehr zugehört habe.

Jetzt ist es zu spät, dir recht zu geben. Werde ich es schaffen, so ganz allein?

 

Ich sehe mich im Waggon um.

Nur wenige Menschen sitzen darin.

Drei Männer schreiben an ihren Computern, ein Paar liest Zeitung, eine Frau schläft und schnarcht ein bisschen.

Keiner sieht mich an, das ist gut.

Ich schließe kurz die Augen. Dann mache ich sie schnell wieder auf, voller Angst.

 

Es gibt zwei Arten von Angst.

Ängste aus der Vergangenheit und Ängste vor der Zukunft. Sie haben nur eines gemeinsam: Sie alle schmerzen in der Gegenwart.

Und jetzt habe ich Angst vor zwei Dingen: dass der Kontrolleur kommt und dass ich einschlafe und nicht rechtzeitig aussteige.

Dann kommt jemand von hinten: meine erste Angst ist schon da.

 

Der Mann in Uniform und Mütze mustert meine Fahrkarte, dann mustert er mich.

Noch einmal meine Fahrkarte. Noch einmal mich.

Ich habe nichts anderes vorzuzeigen als eine Fahrkarte.

Ich habe kein Dokument in der Tasche, um der Welt zu sagen, wer ich bin, woher ich komme und warum.

Sein Misstrauen ist ein Netz. Um nicht zu spüren, wie sich mein Körper darin verwickelt, erstarre ich bewegungslos wie ein Beutetier.

Er ist ein großer, robuster Mann, mit einer perfekten Uniform und einem Verdacht, was mich betrifft.

Sein Gesicht ist wie aus Stein. Nur die Augen, hell und klar, bewegen sich in diesem Stein, sie ziehen sich zu einem immer schmaleren Spalt zusammen, scharf wie eine Klinge, perfekt für ein Skorpionnest.

Sein Blick wandert langsam über meinen Körper, wandert über

Ich fühle alle Blicke auf mir.

Nur der Junge mit den roten Haaren hört seine Musik und achtet nicht auf uns, die Beine auf dem Sitz ausgestreckt, den Kopf weiter in wer weiß welchem Rhythmus nickend.

Ich bleibe ruhig. Schaue immer noch den Kontrolleur an.

Und der tut jetzt nur eines.

Ohne Eile, ausdruckslos. Er drückt eine Taste und spricht in sein Telefon.

 

Wie lang ist eine Minute, wenn du Angst hast? In einer Minute denke ich seltsame Gedanken.

Wenn Menschen Angst haben, drücken sie oft ganz fest ihre Augen zusammen, um die Bedrohung in Dunkelheit zu hüllen, wie um sie damit fernzuhalten.

Tiere nicht.

Wenn Tiere einer Gefahr gegenüberstehen, tarnen sie sich, um sich unsichtbar zu machen, oder sie erstarren, als hätte sie bereits der Tod überrascht.

Aber ich bin kein Tier. Ich kann nur die Augen schließen.

 

Und als ich sie wieder aufmache, ist bereits ein Polizist hier. Auch er hat eine fleckenlose Uniform, Hosen ohne eine schiefe Falte und keinen Ausdruck im Gesicht.

Seine Hand auf meiner Schulter ist eine kalte, eiserne Zange.

Meine Beine, die nun aufstehen müssen, sind Beine aus Cous-Cous.

Alles ist still. Der Polizist spricht nicht. Ich würde sowieso kein Wort verstehen, aber jetzt seine Stimme zu hören, würde ihn menschlicher machen.

Wirf dein Herz voraus und spring ihm nach.

So sagt man in unserem Land.

Aber ich habe gelogen. Ich bin nicht stark. Ich habe Angst.

Ich weiß nicht, wie man sein Herz vorauswirft, ich weiß nicht, wie man ihm nachspringt.

Ich weiß nur, dass mein Herz schlägt und schlägt, dass es gegen meine Brust trommelt wie die harten Hufe des Pferdes eines Chapandaz.

Dann passiert es.

Etwas passiert.

Und dieses Etwas passiert so schnell, dass ich mich plötzlich fühle wie in einem Film.