Im Licht meines Handys funkelt ein eisiger Blick. Mein Herz donnert mit einem angstvollen Tu-tum tu-tum gegen meinen Brustkorb. Einen Moment lang stehe ich so da, erstarrt und bewegungslos, während Schauer über meinen Rücken laufen und das fahle Licht des Handys in meiner Hand zittert.

Ich schaue in diese starren Augen, die Augen schauen mich an.

Ich taste über die Wand neben der Tür. Finde sofort den Lichtschalter. Ich schalte das Licht an – und verstehe. Die Erleichterung ist so groß und unerwartet, dass ich sogar lachen muss.

Sie wurde wohl erst vor Kurzem hierhergebracht, denn letztes Mal war sie noch nicht da: eine Eule, die mich mit finsterer Miene mustert, ihre Augen gelb leuchtend wie LEDs. Sie ist ausgestopft. Stocksteif. Staubig. Die Krallen um einen Stein geklammert, der Stein auf ein Podest geklebt.

Mit ihrem schräg gelegten Kopf, dem übellaunigen, krummen Schnabel und ihrem starren Minion-Blick scheint sie zu fragen: Wer hat mir das angetan? Oder vielleicht auch nur: Was mache ich hier?

Sorry, frag nicht mich. Ich bin der Letzte, der hier Antworten hat.

Jedenfalls ist die Eule nicht allein. Neben ihr auf einem alten Schreibtisch stehen auch ein Eichhörnchen, ein Fuchs, zwei Siebenschläfer und ein großer schwarzer Adler, der seinen Kopf um drei Viertel gedreht hat, wie Mussolini, wenn er sich für Fotos in Pose warf. Etwas weiter drüben ein graues, mageres Tier mit der schlauen, spitzen Visage einer postatomischen Maus, Größe extra-large. Ich schaue auf das Schild. Ein Steinmarder.

Und um was anzuschauen? Diesen Keller. Was für ein beschissenes Schicksal, denke ich mir.

Ich schaue mich um. Keinerlei Öffnungen. Keiner wird etwas merken. Das Licht kann an bleiben. Hier unten bin ich sicher.

 

Der Raum ist breit und tief, das Licht der einzigen nackten Glühbirne, die von der Mitte der Decke baumelt, reicht längst nicht bis zu den weit entfernten Wänden. Auf zwei Seiten gehen in regelmäßigen Abständen die langen Gänge ab, die zu den Kellern der verschiedenen Gebäudeflügel der Schule führen. An der Decke verlaufen Rohrleitungen.

An den Wänden lehnt ein Sammelsurium von allem. Ein ganzer Flohmarkt: ein paar alte Schultafeln, unter Staub begrabene Pulte, ein halb verrosteter Propeller, der sicher bei Aeronautik rausgeflogen ist, Globen auf hölzernen Gestellen, viele Stühle aus grünlichem Plastik. Auf den Stühlen eine Ansammlung von Ramsch.

Ich stolpere über einen großen, von der Feuchtigkeit zerlegten Karton, der randvoll ist mit gläsernen Destillierkolben wie bei Harry Potter & Co. Ein Glas fällt heraus und zerschellt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Die Augen der Waldtiere wirken nach.

Ich gehe an der rechten Wand entlang. Sie erscheint mir am vielversprechendsten. Ein alter Garderobenständer, ein Berg eingerollter geografischer Karten in einer Kiste, Zeichenmaschinen aus Holz und aus Metall. In einer Ecke, hinter den Stühlen, steht ein alter mausfarbener Sessel. Vielleicht von einem Schuldirektor. Wer weiß, vielleicht dem Schuldirektor meines Opas.

Der Sessel ist super für heute Nacht. Ich klopfe mit der Hand

Staubmilben aus dem Pleistozän, aber immer noch eine Herausforderung für meine modernen Atemwege.

Ich setze mich und ziehe die Beine hoch. Schiebe mir die Schuhe von den Füßen und kicke sie in den Raum.

Dann hole ich mein Abendessen aus dem Rucksack: ein paar Schinkenbrötchen, ein Schokocroissant, ein Päckchen Erdnüsse, eine halb leere Wasserflasche, eine Dose Cola und eine Dose Bier. Ich trinke sonst kein Bier, aber heute Abend muss das sein. Mut braucht manchmal Unterstützung.

Es ist kalt hier, aber weniger kalt, als ich erwartet habe. Diese Schule hat ein dickes Fell, alte Mauern, gut isoliert.

Ich lehne mich zurück und beginne mein Abendessen zu vertilgen.

 

Bist du zufrieden? Ja, ich bin zufrieden.

Hier wird dich keiner je suchen. Nein, keiner.

Jetzt bist du allein. Ja, ganz allein.

Ganz allein, der Welt den Rücken gekehrt, Herr meiner selbst und meines Schicksals wie ein uomo nuovo der Renaissance. Hier bin ich frei zu denken, mir eine Pause von der Schule zu gönnen, in dieser Blase vor mich hin zu schmollen, den Asketen oder den Totalverweigerer zu geben in dieser raumzeitlichen Lücke. Anzuhalten und mein Leben zu betrachten, um zu verstehen, wo es hingeht. Und auch frei, meine Eltern zu bestrafen. Papa für seinen großen Egoismus, dafür, so ein Scheißkerl gewesen zu sein, uns so betrogen zu haben. Mama für ihre Resignation, dafür, dass sie mir alles verheimlicht hat. Und dass sie einfach aufgegeben hat.

In der Freiheit meines Kellers bin ich der große Rächer.

 

Richtig. Ganz richtig.

Warum dann dieses dumpfe Gefühl im Bauch? Sogar das Essen schmeckt irgendwie komisch.

Das Brötchen schmeckt nach Beton, das Croissant nach Styropor. Irgendetwas tropft auf die Erdnüsse, die ich mir in den Mund schiebe. Es dauert ein wenig, bis ich verstehe, was es ist. Nein, kein tropfendes Rohr. Keine undichte Stelle an der Decke. Es sind Tränen, die von ganz alleine kommen. Tränen, für die ich mich nun nicht mehr schämen oder sie vor Giulio und Sofia verstecken muss.

Ich öffne das Bier, trinke den ersten Schluck.

Ziehe die Knie hoch bis unters Kinn und schaukle ein wenig vor und zurück, auf den Staubmilben aus dem Pleistozän.

Und schon stürmt ein ganzer Berg von Erinnerungen auf mich ein. So viele so schöne Erinnerungen, dass ich ihnen nicht ausweichen kann. Sie treffen direkt in den Magen, wie die Haken von Tyson Fury.

Und jeder Haken ist zugleich ein Stich ins Herz.

Alles, was ich gerade verloren habe, alles, was mir am meisten fehlen wird.

 

Wenn Papa und ich, in Sofakissen vergraben, Fußball schauen und jedes Mal, wenn unsere Mannschaft ein Tor schießt, aufspringen und wieder aufs Sofa plumpsen, bis Mama Ihr Wilden! schreit und uns das Popcorn wegnimmt.

Wenn wir uns in ganz besonderen Momenten zu dritt umarmen und Mama – die Kleinste von uns dreien – schreit Ich kriege keine Luft! Aufhören!, aber deutlich zu verstehen ist, dass sie eigentlich ewig so ohne Luft leben könnte.

Wenn Papa irgendeine Melodie auf seiner alten Gitarre

Wenn er mir, ohne dass Mama es weiß, auf einem Feldweg Fahrstunden gibt, mir das Gaspedal durchgeht und ich einen Fasan hinrichte.

Wenn ich Papa ein wenig alarmiert frage: He, kannst du mal schauen, was ich da am unteren Rücken habe?, und er nie direkt antwortet, sondern immer auf seine ganz eigene Art: Vielleicht ist es ein Kainsmal, das eine lebenswichtige Drüse befallen hat. Wahrscheinlicher allerdings ist es ein unreifer Pickel. Ich hasse seine idiotischen Witzchen, aber sie fehlen mir jetzt schon.

Wenn wir Sumo spielen, den japanischen Nationalsport, und Papa mir erklärt, dass beim Sumo nicht gewinnt, wer brutaler prügelt, wer dreckiger und härter zuschlägt, sondern der, der den anderen dazu bringt, sein Gleichgewicht zu verlieren.

Und wie viele besondere Momente hat es noch gegeben, die wir zusammen erlebt haben?

Das Bier schmeckt mir nicht, aber ich trinke es. Es wärmt mich, es leistet mir Gesellschaft. Zumindest will ich das denken.

 

In diesen fünfzehn Jahren mit meinem Vater konnte ich so ziemlich alles sein: Fußballfan, Wilder, Schamane, eine echte Nervensäge, wenn ich krank war, Angsthase und Dickkopf, angehender Rockgitarrist. Astronaut oder Hirte von Bethlehem bei Festen im Kindergarten, Helfer bei Selbstmordmissionen wie IKEA-Schränke-Aufbauen, Großbaumeister von Strandburgen, Himmelsbeobachter in Mond- und Sternennächten, Komplize am Steuer unseres Clio, ungestrafter Fasanenmörder.

Bei all dem war er immer dabei. Als Beschützer, Ratgeber, Trainer, Lieferant von Vorträgen und Plüschtieren, Krankenpfleger, Koch, Obernervtöter, Held.

War immer dabei und wird nicht mehr dabei sein.

 

Schaue mich um. Was mache ich hier eigentlich? Die Eule starrt mich neugierig an. Der Königsadler ignoriert mich. Der Steinmarder scheint zu grinsen. »Zur Hölle mit dem alpinen Empfangskomittee!«, rufe ich.

Und was dich betrifft, Papa, weißt du was?

Ich habe viele Jahre gebraucht, aber am Ende habe ich unser Sumo-Turnier gewonnen. Du bist es, der gewackelt hat. Du hast das Gleichgewicht verloren und weißt nicht mehr, wie du auf den Beinen bleibst, ohne Scheiße zu bauen, die denen wehtut, die dich lieb haben.

Mit aller Kraft schleudere ich die leere Bierdose weg und beobachte, wie sie bis an die gegenüberliegende Wand rollt. Dann stehe ich auf, ich schwanke nur ganz wenig.

Ich nehme mir einen Stuhl von den vielen, die da sind, stelle ihn vor den Sessel und strecke die Beine darauf aus. Eine seltsame Müdigkeit legt sich auf mich.

In meinem Kopf wechseln sich Bienenschwärme mit Heavy-Metal-Bands ab.

Meine Lider sind zentnerschwer. Ich schließe die Augen. Alles verschwimmt.

Ein großer, leerer, unterirdischer Raum, der plötzlich abhebt, hoch in den Himmel. Ein riesiger Aufzug? Nein, ein Riesenrad. Und jetzt steigen viele Leute ein. Manche erkenne ich, andere nicht. Meine Mutter ist da. Giulio. Sofia. Und Sofia hält mir einen Schlüssel hin. Aber sie ist zu weit entfernt, ich kann ihn nicht erreichen. Ich muss mich zu Sofia hinüberbeugen, ich muss an den Schlüssel kommen. Plötzlich verliere ich das Gleichgewicht und bin dabei, ins Leere zu fallen, als mich eine Hand von hinten packt und in der Luft festhält. Ich taumele. Ein Kind weint irgendwo. Ein Auto fährt zu dicht hinter mir auf. Das Rad meines Fahrrads wird wieder zum Riesenrad und dreht sich rasend schnell, dreht durch, und ich drehe mich mit.

 

Ich träume und weiß, dass ich träume.

Und fast möchte ich gar nicht mehr aufwachen.