Ich stolpere über eine Wurzel. Für einen Moment verliere ich das Gleichgewicht, aber ich schaffe es, nicht zu fallen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir schon gehen.

Das Dunkel ist jetzt weniger dunkel.

Fast kann ich schon die Umrisse der Dinge um uns herum erkennen: Bäume, Zäune, Heuschuppen.

Ein paar Häuser, aber weit entfernt. In der Nähe die Gleise der Eisenbahn.

Manchmal lasse ich meine Augen auf nahen oder fernen Details ausruhen. Einer Pflanze, einer Kurve des Wegs, der dünnen Spitze eines Zweigs.

Dann sage ich mir: Los, bis dorthin. Und wenn ich dort bin, wähle ich einen weiteren Punkt in der Landschaft und erkläre den Weg dorthin zur nächsten Etappe, die mich, zusammen mit unendlich vielen weiteren Etappen, schließlich ans Ziel bringen wird.

Und immer sage ich mir: Los, geh weiter.

 

Wenn du stundenlang gehst, fangen deine Füße an zu rebellieren.

Bei jedem Schritt musst du sie zwingen, sich zu heben, zu senken, sich wieder zu heben.

Den Rhythmus der anderen nicht zu verlieren. Onkel Ahmad vor mir, Papa hinter mir.

Einen weiteren Stein, eine weitere Sanddüne, eine weitere graue Pfütze zu überwinden. Oder einen Klumpen aus getrocknetem Schlamm, der vor langer, langer Zeit, noch vor unserem Krieg, vielleicht ein Stückchen Mauer war, die Ecke von einem Haus oder einem Basar.

Der Horizont unter dem Himmel ist immer ein anderer, und mit ihm verändern sich die Kälte, die Hitze, der Wind. Die Gesichter der Leute, die dich anschauen, der Klang ihrer Worte.

Aber die Müdigkeit in den Füßen ist immer die gleiche.

Wenn du stundenlang gehst, sind deine Füße nicht mehr deine Füße.

Sie gehören nicht mehr zu dir. Sie sind dir völlig fremd.

Sie bekommen Blasen, werden zu Eis oder zu Feuer. Krämpfe beißen dir in die Waden.

Ich habe kleine Tricks gelernt, um nicht auf meine Füße zu hören.

Indem ich meine Schritte zähle, zum Beispiel. Ich zähle bis dreihundert, dann fange ich wieder von vorne an.

Oder ich sage Gedichte auf, die mir Oma beigebracht hat.

Oder ich versuche, den Dingen um mich herum ihre englischen Namen zu geben: tree, mountain, stars, moon.

Oder den Dingen in mir drin: sad, thirsty, sleepy, homesick.

 

»Nur zwei Dinge können uns retten«, sagte Oma Nadira, als sie mir das Wörterbuch schenkte. »Erinnerung rettet unsere Vergangenheit, Bildungshunger rettet unsere Zukunft.« Sie sprach in dem ernsten Ton, den sie benutzt, wenn sie mir etwas beibringen will.

»Diese Sprache zu lernen kann dich retten. Versprich mir, dass du sie lernst.«

Das Englisch-Wörterbuch war sehr teuer gewesen. Vielleicht steckten ihre ganzen bescheidenen Ersparnisse in diesen dünnen Seiten voller geheimnisvoller fremder Wörter.

Dann legte Oma Nadira das Wörterbuch in meine Hände.

»Englisch wird dir neue Wege eröffnen.«

»Ich will keine neuen Wege!«, antwortete ich wütend. Die Wut wohnte seit einigen Monaten in all meinen Gedanken.

Ich schaute Oma in die Augen.

Darin lag die ganze Traurigkeit, die seit dem Tag Null in ihr wohnte, dem Tag, der das Leben von uns allen für immer verändert hat.

Ihre Augen in meinen sagten mehr als ihre Stimme.

Sie sprachen von Dingen, die so groß sind, dass keine Sprache sie ausdrücken kann.

Und doch bestand Oma ausgerechnet auf dieser Sprache: Englisch.

Manchmal ist das Leid so groß, dass die Vergebung ganz eigene Wege finden muss.

Meine Oma lächelte. Oder probierte es zumindest.

Dabei überreichte sie mir das Wörterbuch mit dem Vertrauen der Raupen, wenn sie sich in ihre Seide einspinnen: einen langen, dünnen Faden, der sie vor der Welt beschützen wird, bis sie mit Schmetterlingsflügeln wiedergeboren werden und fliegen können.

Ich und Oma. Keiner war dabei, außer uns beiden.

Ich erinnere mich gut an diesen Moment.

Meinen Geburtstag. Im Winter vor zwei Jahren.

Das Küchenfenster, den Duft des Kardamomtees. Auf einem schneeverkleideten Ast beobachtete ich zwei Krähen. Hinter dem Ast lag die Dorfstraße. Hinter der Straße der Anfang vom Nichts. Und der Schatten des Mondes, der weiterwanderte, während der Wind durch die Nacht galoppierte und seine Geheimnisse in der Finsternis verteilte.

Aber Oma Nadira wusste, dass ich in Wirklichkeit andere Dinge sah.

Trotzdem wusste ich, fühlte ich: Nicht einmal Oma Nadira kann meine Kriege für mich kämpfen.