Der Traum hat mich durcheinandergebracht. Ich brauche ein wenig, bis ich wieder weiß, wo ich bin.
Dann werde ich mit zwei Bedürfnissen wach.
Erstens: Ich muss pissen.
Zweitens, genauso dringend: Ich habe Durst. Und zwar einen grauenhaften Durst. Ich trinke den letzten abgestandenen Rest aus der Coladose, dann schüttle ich die Wasserflasche, die ich mittags am Automaten gekauft habe, obwohl ich weiß, dass sie schon seit Stunden leer ist. Aber ich schaffe es, mit der Zungenspitze die letzten zwei köstlichen Tropfen aufzufangen. Wasservorräte erschöpft. Der Gedanke macht mich noch durstiger.
Ich gebe zu, es war ein höllischer Tag, und bei allem, was passiert ist, habe ich das Problem Hunger und Durst wohl ein wenig unterschätzt.
Mein ausgedörrter Hals ist ein neues Problem. Und wenn es nur für eine halbe Stunde ist, ich muss hier kurz raus. Ich stehe von meinem improvisierten Bett auf. Hinauf kann ich nicht, der Alarm würde losgehen, und wer weiß, wie das endet.
Aber ich erinnere mich noch gut an den Weg, den wir mit Turchetti erkundet haben, als er uns hierherbrachte. Er hatte ihn für ganz zuletzt aufgehoben, quasi großes Finale mit Feuerwerk, so eines, wo die Kinder mit offenem Mund in den Himmel starren.
Schließlich sieht man nicht jeden Tag einen Luftschutzkeller aus dem Zweiten Weltkrieg.
»Mir nach, Leute«, höre ich noch den Prof, während er die Klasse zum hinteren Ende dieses Kellerraums führt, »und passt auf, wo ihr die Füße hinsetzt: Gleich spazieren wir mitten durch die Zeitgeschichte!«
Sein theatralischer Satz lässt uns ganz kalt.
Dafür gefallen uns die Helme mit Stirnlampen umso mehr, die er vorhin an uns verteilt hat, jedem und jeder einen. Jetzt schalten wir alle, ein wenig aufgeregt, unsere Lampen an.
»Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für die 10b.«
Das bin natürlich ich, der da spricht. Wie viel Quatsch habe ich wohl verzapft, bloß um gut dazustehen auf dieser unsichtbaren Bühne, die ich allein für Sofia aufgebaut hatte?
Ich sehe die wimmelnde Schlange vor mir, in der wir hinter dem Prof hertappen. Sehe ihn am Kopf der Schlange, den unerschrockenen Anführer des Pioniertrupps. Giulio, der ein Bein ausfährt, Marco, der stolpert, aber nicht fällt. Die kreisenden Lichtkegel. Sofias rebellische Locken, noch rebellischer und noch schöner rund um den grellgelben Helm.
Und ich sehe die Hand des Profs, die in einem dunklen Gang in eine kleine Mauernische greift und den Schlüssel für die Tür hervorholt.
Eine kleine Mauernische.
Wo befand sich diese Nische? Der Gang war da hinten, auf der linken Seite. Oder nicht?!
Ich gehe an der linken Wand entlang, an den Maueröffnungen vorbei, von denen jeweils ein Gang zu einem der Gebäudeflügel führt. Auch vor der letzten Öffnung liegt, wie vor allen anderen, eine hohe Stufe. Ich steige hinauf, trete in den Gang. Hier ist die Decke niedriger, und die Dunkelheit überfällt mich.
Ich checke den Akku meines Smartphones. Fast drei Viertel, das sollte reichen als Reserve.
Ich aktiviere die Taschenlampenfunktion, ziehe den Kopf ein und gehe los.
Das Handylicht tut seine Pflicht, genug, um den rohen Boden vor mir zu erkennen, ein paar zertretene Kippen, meine langsam vorantastenden Füße.
Nur noch wenige Meter. Da ist die Nische! Und, an einem Haken, der Schlüssel.
Die Tür quietscht nur ganz leicht. Dann bleibe ich auf der Schwelle stehen.
Es ist, als hätte ich diesen Moment schon erlebt, dieses Zögern schon einmal überwunden. Wie nennt man das? Ein Déjà-vu.
Ich gehe durch die Tür und weiter hinein.
Der Stollen ist eng und lang. Gewölbedecke, unregelmäßige Wände, auf beiden Seiten eine durchgehende, gemauerte Bank. Galaxien von Schimmel- und Feuchtigkeitsflecken auf dem weißgrauen Kalkanstrich der Decke. Eine strenge, kompakte Kälte. Undefinierbare Gerüche in der Nase.
Für einen Augenblick stelle ich mir meinen Opa hier vor. Klein, an der Hand seiner Mutter, wie er genau dort geht, wo jetzt meine Füße gehen.
Ich kenne ein Foto von ihm als Kind. Mein Vater sagt, wir ähneln uns, und ich glaube, er hat recht.
Es ist seltsam zu denken, dass auch mein Opa hier unten Angst hatte, darauf wartete, dass es Morgen wird, sich verwirrt und unruhig fühlte wie ich und vielleicht genauso wild darauf war, ans Tageslicht zurückzukehren, wieder Straßen, Häuser, den Himmel zu sehen. An ihn zu denken, beruhigt mich, tut mir gut.
Es tut mir gut, mich an seine Erinnerungen zu erinnern, an seine Erzählungen vom Krieg: den Klang der Sirene, die Angriffe auf die Stadt meldete, die aufgeregte Flucht in den Bunker, die unerwartete Ankunft der mit den Nazis verbündeten Kosaken, den kleinen, mysteriösen Flieger, der nur nachts auftauchte und alle in Angst und Schrecken versetzte. Er flog tief und schlug immer im Dunkeln zu: ein blitzschneller, präziser Raubvogel. Stieß hinab, feuerte, startete durch. Richtig gemeine Überfälle.
Die fliegende Landplage, so nannten ihn die Zeitungen. Aber die Leute, auch mein Opa, hatten einen anderen Namen für ihn: Pippo. Ein lustiger Name, ein Kindername.
Aber vielleicht sind Namen auch dazu gut: Dinge, die uns schrecken, weniger angsteinflößend zu machen.
Ganz hinten ist jetzt ein winziger Lichtschein zu erkennen.
Nur ein etwas hellerer Schimmer um das Profil des Luftschutzstollens herum, der aber meinen Füßen neuen Schwung verleiht.
Jetzt laufe ich sogar, erreiche den Lichtschein.
Plötzlich erscheinen vor mir Stufen. Steil, glitschig und grünlich.
Ich fühle das schleimige Moos unter den Füßen, eine andere Art von Kälte auf der Haut. Ich fühle den Wind, der mir ins Gesicht bläst, und finde das ein schönes Gefühl. Es ist wohl die Müdigkeit. Die Anspannung. Dieser so absurde Tag, der endlos zu dauern und wirklich nie enden zu wollen scheint: Alles erscheint mir verzerrt, als würde ich auf etwas warten.
Und dann ist es so weit. Die letzte Stufe.
Die Öffnung ist nur durch morsche Holzbretter versperrt, die ich ohne große Mühe entfernen kann.
Glasscherben, eine zerschlagene Flasche.
Wenige Schritte, und ich bin draußen.
Ein kleiner städtischer Park im alten Teil der Stadt, den die Dunkelheit um diese Zeit in einen geheimnisvollen Ort verwandelt, eine unbekannte, ein wenig unwirkliche Welt.
Die Treppe aus dem Luftschutzkeller endet zwischen der Parkmauer und einem dicken Baumstamm.
Ich schaue nach oben. Über den nackten Ästen schwimmt ein fast voller Mond in seinem Hof und zieht die Umrisse der Dinge mit einem quietschgelben Marker nach.
Weiter weg, hinter der Mauer, sind ein paar Gebäude zu sehen. In der Nähe fließt ein Kanal, schwach beleuchtet durch eine Laterne.
Die Stille, die saubere Kälte, der Wind, der ein paar Zweige hofiert. Fehlt nur das Weiß des Schnees. Schnee habe ich immer schon gemocht.
Ein perfekter Ort für jemanden, der Gedichte schreibt. Aber ich schreibe keine Gedichte. Mein Vater tut das manchmal.
Reset Gedanken an meinen Vater.
Um diese Zeit ist der Park menschenleer, und ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.
Auf der Haut fühle ich eine seltsame Erregung, dazu eine resignierte Müdigkeit, die meinen Körper und meine Gedanken über die Grenzen der Aufregung hinausträgt.
Ich schaue mich um, gehe los. Unter meinen Füßen harte Erde. Manchmal festgefrorener Splitt. Ein fernes Motorengeräusch, leise knisternde Blätter.
Ich weiche einem niedrigen Ast aus, gehe an einem Stamm und ein paar Bänken vorbei.
Mit dem Fuß kicke ich ein Zeitungsblatt weg, das ein Windstoß daherträgt.
Ein Weg schneidet quer durch den Park und führt zu einer kleinen Anhöhe mit einer kurzen Treppe. Am oberen Ende der Treppe steht ein alter, steinerner Brunnen mit einem kleinen leuchtenden Mittelpunkt: dem runden Auge eines Scheinwerfers, der den Körper einer Statue beleuchtet. Aus der Statue läuft ein Wasserstrahl.
Ich beuge mich darunter und trinke einen langen Schluck, während ich meine im plötzlichen Licht weiß leuchtenden Hände betrachte, dann fülle ich die Wasserflasche bis zum Rand und stecke sie in den Rucksack.
Ich atme die Kälte ein. Trample mit den Beinen. Sehe mich um.
Von hier aus kann ich fast alles sehen: Blumenbeete, Bäume, Hecken, die Parkbänke am Weg, die Kurve des Kanals, das Eisentor am Eingang und schließlich die Wand des Gebäudes, das den Park auf einer Seite begrenzt. Und vor der Wand des Gebäudes ein wenig Rauch.
Rauch?! Es sind nur graue Schwaden. Wie es scheint, steigen sie von unten hoch, wie Rauchzeichen der Cheyenne.
Ich starre in die Dunkelheit jener entfernten finsteren Ecke, die in den rauchigen Schwaden zittert.
Da bemerke ich es plötzlich. Es ist unbeweglich, vom Rauch umfangen, der es einhüllt, verhüllt, versteckt.
Es könnte alles sein, sage ich mir, während ich das Ding weiter fixiere. Wirklich alles.
Ach ja, Mattia? Los, lass hören.
Na, zum Beispiel ein Haufen Lumpen. Ein großer Hund, der bewegungslos daliegt. Ein Gewirr von losen Ästen, die sich zu dieser seltsamen Form zusammengeballt haben. Oder ein umgefallener Mülleimer, der gegen die Wand gerollt ist.
Irgendetwas eben.
Ach ja? Wirklich?
Nein.
Mein Instinkt sagt Nein.
Schon als Kind ging es mir so: Stand ich zwischen Angst und Neugier, gewann immer die Neugier.
Jetzt ist es genauso.
Ich gehe langsam näher, vorsichtig, wende den Blick nicht ab.
Und als ich fast daneben stehe, muss ich meinem Instinkt recht geben.
Es ist nicht irgendetwas. Nein. Es ist jemand.
Mein Jemand schläft in einer von zwei Hecken abgeschirmten Ecke, auf einem Eisengitter direkt an der Gebäudewand. Aus dem Eisengitter steigen Dampfschwaden auf. Der Wasserdampf wärmt ihn, oder erspart ihm zumindest ein wenig Kälte in diesen ersten Morgenstunden.
Ich ziehe mich zurück unter ein Grüppchen eng zusammengedrängter Pinien.
Dort, in ein paar Metern Entfernung, bleibe ich stehen, halb versteckt hinter einem Stamm. Zum Teil fühle ich mich wie ein Spanner, zum Teil wie ein Spion in einem alten Film, aber diese Einsicht lässt mich keinen Millimeter zurückweichen: Ich halte die Stellung.
Jemand wirkt nicht bedrohlich.
Solange er schläft, zumindest.
Ich kann mich nicht zurückhalten, ihn anzustarren, meinen hypnotisierten Blick auf diese hässliche zottelige Mütze zu richten, den Rücken, der sich ganz leicht im regelmäßigen Rhythmus des Atems hebt, den zusammengerollten, in einen alten Schlafsack gewickelten Körper. Dieser Schlafsack – ja, das kann man von hier sehen – steckt seinerseits in einem schwarzen Müllsack, einem dieser großen, robusten, die für grobe Abfälle verwendet werden. Im Schlaf ist der Sack verrutscht und reicht jetzt nur noch bis zur Mitte des Rückens. Eines Rückens, der mir reichlich mager erscheint. Er wird von Hustenstößen geschüttelt.
Jemand bewegt sich im Schlaf.
Ich verstecke mich hinter meinem Pinienstamm.
Jetzt gehe ich.
Ich bleibe.
Ich gehe.
Ich warte ab.
Wie schläft man bloß in einem Müllsack? Wie ist es möglich zu träumen, in so einem Ding aus kaltem Plastik? Andererseits, wer hat ihm schließlich befohlen, Meere oder Wüsten zu durchqueren, um ausgerechnet hier zu schlafen? Wir sind doch keine Herberge für die ganze Welt!
Eins. Ich gehe zurück. Meine Freistunde habe ich gehabt, meine Wasserflasche habe ich aufgefüllt. Mission accomplished, Mattia. Und jetzt durchquere ich wieder meinen Bunker und kehre mit Freuden zurück in mein Loft, wo ich noch ein wenig bleiben will. Dort wird mich keiner suchen.
Zwei. Ich beobachte, wie Jemand sich im Schlaf bewegt. Er dreht sich auf die Seite. Fast kann ich sein Gesicht sehen. Wenn sie dich anfällt, lässt dich die Neugier nicht mehr los. Ich mache noch ein paar Schritte, gehe näher heran. Ich sehe, wie er einen Arm frei macht und sich die Mütze tiefer über die Ohren zieht. He, aber das ist … das ist ein Kind!
Drei. Hinter mir höre ich eine Stimme. Ich drehe mich um. Und sehe sie. Sie gehen den Weg entlang. Kommen in diese Richtung. Vielleicht haben sie ihn gesehen, vielleicht nicht. Aber es sind zwei Männer in Uniform, und das scheint mir kein gutes Omen zu sein für Dornröschen hier in seinem schwarzen Plastiksack.
Vier. Ich handle instinktiv. Keine Zeit zum Nachdenken. Ein paar Schritte. Katzensprünge. Ich schüttle Jemand kräftig. Er muss einen leichten Schlaf haben. Oder vielleicht schläft er nur halb, wie alle, die immer wachsam, immer zur Flucht bereit sein müssen. Egal. Er wacht sofort auf, starrt mich mit erschrockenen Augen an. Ich weiß selber nicht, was ich sage. Vielleicht gar nichts. Vielleicht Police. Aber meine Handbewegung zu den näher kommenden Männern ist eindeutig.
Fünf. Mit einem Satz, der Superhund Bolt alle Ehre machen würde, ist er aus Schlafsack und Plastik geschlüpft. Schnappt sich Rucksack und Schlafsack. Ich stelle in derselben Nanosekunde fest, dass wir keine Wahl haben. Zum Bunker können wir nicht. Die Polizisten sind schon ganz nah und versperren den Weg.
Jemand sieht panisch aus.
Wie könnte ich ihn jetzt noch allein lassen? Ich sprinte los Richtung Eingangstor. Er hängt sich blitzschnell an meine Fersen, wieselflink und mit dem Vertrauen der Verzweiflung.
Sechs. Wir sind auf der Straße. Laufen nebeneinander. Jetzt stecke ich mit drin. Ich weiß nicht, ob als Komplize oder Verbündeter.
Alles hat nur wenige Augenblicke gedauert. Ich werde gerade zum Profi im Abhauen vor Problemen und Schwierigkeiten. Rennen die uns nach, oder denke ich das nur? Ich drehe mich lieber nicht um, um nachzuschauen. Pfeffer im Arsch macht alles einfacher, befreit einen von Zweifeln und Unentschlossenheit. Wir rennen. Wir sind nur Atem und Füße.
Wie hat Sofia es definiert?
Leben ist, was du kriegst, während du nach anderem suchst.
Positiv. Absolut. Nie erschien mir das wahrer.
Ich und Jemand kennen uns nicht. Aber wir rennen, nebeneinander.